„Gesundes und nachhaltiges Essen zur einfacheren Wahl machen“
Warum gesunde Ernährung auch gut für das Klima ist und umgekehrt und welche Maßnahmen helfen, damit Menschen leichteren Zugang zu gutem Essen erhalten, erklärt AOK-Präventionsexperte Oliver Huizinga im Interview.
Die Menschen, besonders Jüngere, möchten sich gerne nachhaltiger ernähren, ergab eine Forsa-Umfrage im Auftrag des AOK-Bundesverbandes. Die DGE hat kürzlich neue Empfehlungen vorgelegt, wie ein nachhaltiger Speiseplan aussieht – und dafür prompt Kritik geerntet. Wie passt das zusammen?
Huizinga: Die Diskussion um die DGE-Empfehlungen ist leider etwas durcheinander geraten. Die Empfehlungen basieren auf einem mathematischen Modell, welche Ernährungsweise umweltfreundlich und zugleich gesund wäre. Vorbild dafür ist die Planetary Health Diet der EAT-Lancet-Commission. Niemand „muss“ sich danach ernähren, es ist vielmehr eine idealtypische Messlatte. Aktuell sind wir davon weit entfernt: Um die DGE-Empfehlungen einzuhalten, müssten wir im Schnitt den Fleischkonsum um knapp zwei Drittel verringern, den Verzehr von Nüssen, Hülsenfrüchten und Vollkornprodukten vervielfachen sowie den Gemüse- und Obstkonsum verdoppeln. Das ist für die meisten Menschen bei den aktuellen Ernährungsumgebungen kaum umsetzbar – und kann schlimmstenfalls zu Resignation zu führen. Wir brauchen unterstützende Maßnahmen, damit die gesunde und nachhaltige Wahl leichter fällt.
Warum ist klimaschonende Ernährung gleichzeitig auch gesund und umgekehrt und so wichtig?
Huizinga: Die Ernährung hat einen riesigen Einfluss auf unsere Gesundheit und auf das Klima. Leider zurzeit eher zum Schlechten als zum Guten: Wir essen im Schnitt zu viele Snacks, Süßwaren und Fleisch, aber viel zu wenig Gemüse, Hülsenfrüchte, Obst und Vollkornprodukte. Die Folgen sind hohe Treibhausgas-Emissionen durch das Ernährungssystem und ein dramatischer Anstieg ernährungsbedingter Krankheiten wie Adipositas oder Typ-2-Diabetes. Das verursacht nicht nur individuelles Leid, sondern auch Milliardenkosten für unsere sozialen Sicherungssysteme. Die volkswirtschaftlichen Kosten allein durch Adipositas und damit verbundene Krankheiten werden auf mehr als 60 Milliarden Euro geschätzt. Lange Zeit galt, dass mit verbesserten Lebensbedingungen die allgemeine Krankheitslast sinkt. Das hat sich bei der jüngeren Generation nicht mehr fortgesetzt, sie ist durch Adipositas und Typ-2-Diabetes früher und häufiger krank als die „Boomer“-Generation. Das sollte uns alarmieren.
An der kürzlich vorgelegten Ernährungsstrategie der Bundesregierung gab es Kritik, weil es kaum konkrete Pläne gebe, damit alle Menschen Zugang zu einer besseren, gesünderen und nachhaltigeren Ernährung bekommen. Welches sind für Sie die wichtigsten Schritte, die jetzt kommen müssen?
Huizinga: Als erstes denken viele bei der Ernährung an das eigene Verhalten und die individuelle Verantwortung, das ist ein wichtiger Faktor. Doch eines wird oft unterschätzt: Die sogenannten Ernährungsumgebungen – dazu gehören das Angebot, die Kennzeichnung, die Rezepturen, die Werbung und vieles mehr – beeinflussen die individuellen Entscheidungen maßgeblich. Das zeigen Erkenntnisse aus der Verhaltensforschung. Damit die Ernährungswende gelingt, müssen wir gesundes und nachhaltiges Essen zur einfacheren Wahl machen. Die Ernährungsstrategie formuliert dieses Ziel, das ist auf jeden Fall zu begrüßen. Bei den konkreten Maßnahmen bleibt sie aber vage und in Teilen hinter den Empfehlungen des Bürgerrats Ernährung zurück. Der hat beispielsweise ein verpflichtendes Klimalabel empfohlen sowie Subventionen für Gemüse, Obst und Hülsenfrüchte. Die Bundesregierung sollte die Empfehlungen des Bürgerrats aufgreifen und die Ernährungsstrategie auf dieser Basis weiterentwickeln.
Beim Thema Ernährung, besonders wenn es um Kantine, Currywurst und Co. geht, wird schnell Bevormundung und Verbot gerufen. Wie bewerten Sie diese Einwürfe? Und wie sehen Ihre Lösungen aus, um derartige Vorbehalte auszuräumen?
Huizinga: Das ist meines Erachtens ein Strohmann-Argument. Es geht weder um Bevormundung noch um Essverbote, sondern um unterstützende Rahmenbedingungen für eine bessere Ernährung. Die klimafreundliche und gesunde Wahl sollte im Supermarkt auf einen Blick auf der Verpackungsvorderseite erkennbar, im Verhältnis günstiger sein und in Kitas und Schulen zum Mindeststandard werden. Solche Anreize werden vom Großteil der Bürgerinnen und Bürger ausdrücklich befürwortet. Zahlreiche Befragungen belegen: Für Steuersenkungen auf Gemüse und Obst, Mindeststandards für Schulessen, Kinderschutz in der Werbung, eine verpflichten Ampelkennzeichnung oder auch ein Klimalabel gibt es große Mehrheiten. Das zeigt: Die Menschen sind viel weiter als uns manch einer, der Bevormundung beklagt, es uns weismachen möchte.
Welche Herausforderungen sind die größten für eine gelungene Ernährungswende?
Huizinga: Die Gewinnspanne bei hochverarbeiteten Produkten mit viel Zucker, Fett und Salz ist um ein Vielfaches höher als beispielsweise bei frischem Gemüse, Hülsenfrüchten oder Obst. Dieser Zielkonflikt macht es im Einzelnen so schwierig, konkrete Fortschritte zu erzielen. Denn Maßnahmen, die das Potenzial hätten, bevölkerungsweit das Ernährungsverhalten zu verändern, bekommen entsprechend großen Gegenwind von den einschlägigen Branchenverbänden der Lebensmittelindustrie. Umso wichtiger ist es, dass die Krankenkassen Die 97 Krankenkassen (Stand: 26.01.22) in der gesetzlichen Krankenversicherung verteilen sich auf… , medizinische Fachgesellschaften, Verbraucherschützer und Umweltorganisationen bei diesem Thema mit einer Stimme sprechen. Wenn wir die sozialen Sicherungssysteme und einen gesunden Planeten erhalten möchten, sind wir bei der Ernährungswende zu Erfolg verpflichtet.