Prokrastination: Wenn Aufschieben zum Problem wird
Ob für die Prüfung gelernt, endlich mal die Steuererklärung angegangen oder die Präsentation für die Arbeit fertiggestellt werden soll – wichtige Entscheidungen, drängende Aufgaben oder unangenehme Pflichten schiebt jede und jeder mal gerne vor sich her. Das ist menschlich. Doch bei manchen Menschen erzeugt das Aufschieben einen solchen Druck, dass sie darunter leiden und ihnen schwerwiegende Folgen drohen, etwa der Abbruch einer Ausbildung oder berufliches Scheitern. Aber gegen dieses Aufschieben, das wissenschaftlich als Prokrastination bezeichnet wird, kann man etwas tun.
Aufschieben ist auch ein Alltagsphänomen
Das Aufschieben von Tätigkeiten ist ein Alltagsphänomen und den meisten Menschen bekannt. Nur zwei Prozent geben an, niemals Dinge aufzuschieben, heißt es bei der Prokrastinationsambulanz der Universität Münster. Allgemein spricht man von Prokrastination, wenn Aufgaben unnötig aufgeschoben oder unterbrochen werden und stattdessen eher Tätigkeiten von geringerer Priorität nachgegangen wird. Die Aufgaben werden dann, wenn überhaupt, oft unter Druck fertiggestellt.
Typische Sätze und Gedanken
Typisch für Menschen, die aufschieben, sind Sätze und Gedanken wie: „Ich fange an, wenn der Abwasch gemacht ist“, „Bis zur Abgabe ist noch eine Woche Zeit“, „Ich arbeite besser mit größerem Druck“ oder „Ich bin jetzt nicht in der richtigen Stimmung“. Erst einmal ist das Aufschieben nachvollziehbar: „Vor allem Menschen, die sich ihre Arbeit frei einteilen können, kennen das oft sehr gut – von ihnen wird Selbstregulation erwartet, und genau diese ist bei Prokrastinierenden gestört“, so Dr. Sylvia Böhme, Psychologin und Psychotherapeutin bei der AOK. Durch das Aufschieben verschwinden die mit der bevorstehenden Aufgabe verbundenen schlechten Gefühle wie Stress und Druck zunächst. Aber leider nur kurzzeitig. Anschließend ärgern sich die meisten doch über sich selbst, sind unzufrieden und haben ein schlechtes Gewissen, wenn sie mal wieder etwas Wichtiges aufgeschoben haben, andere leiden sehr stark darunter.
O-Töne von Dr. Sylvia Böhme, Psychologin und Psychotherapeutin bei der AOK
Ernsthaftes Problem der Selbststeuerung
„Der Leidensdruck der Prokrastination kann sehr unterschiedlich sein“, sagt Böhme. Die sogenannte „Aufschieberitis“ kann so schlimm sein, dass man die Dinge nicht nur aufschiebt, sondern sie tatsächlich nicht mehr zu Ende bringt, weil die Durchführung der Aufgabe inzwischen mit extrem unangenehmen Gefühlen verbunden ist oder schlicht keine Zeit mehr bleibt. Wer so weit ist, hat meist schon einen langen Leidensweg hinter sich: Betroffene fühlen sich als Versager. Mitmenschen empfinden sie oft als Faulpelze oder Drückeberger. „Doch Prokrastination hat nichts mit Faulheit zu tun, sondern ist ein ernsthaftes Problem der Selbststeuerung. Sie kann unterschiedliche Ursachen haben“, so Psychologin Böhme weiter. Dahinter kann beispielsweise stecken, dass jemand schlecht Prioritäten setzen kann und deshalb gar nicht weiß, wo er oder sie beim Abtragen des Arbeitsberges anfangen soll. Oder der eigene Anspruch an die Arbeit ist so unerreichbar hoch, dass gar nicht erst begonnen wird. Viele erleben eine starke Angst vor negativen Gefühlen während oder als Konsequenz der Arbeit, dass sie deshalb gar nicht erst beginnen können. Wieder andere haben vor allem Probleme damit, sich ihre Zeit und die Arbeit sinnvoll einzuteilen. „Das Aufschieben kann aber auch als Teil einer Depression, Angst- beziehungsweise Zwangsstörung auftreten oder ein Aufmerksamkeitsdefizit als Ursache haben“, erklärt AOK-Expertin Böhme. Wer stark darunter leidet, sollte professionelle Unterstützung suchen. Denn das ständige Aufschieben wirkt sich negativ auf die psychische und körperliche Gesundheit aus und kann Auslöser für Folgeerkrankungen sein. Mit einem Selbsttest kann man feststellen, wie es um das eigene Aufschieben bestellt ist.
Was Betroffene selbst tun können
Doch viele aufschiebende Personen können sich auch schon selbst ein gutes Stück weiterhelfen – mit den richtigen Tricks und Tipps, dazu gehören:
- eine karge Arbeitsumgebung schaffen, damit wenig ablenkt,
- eine Liste erstellen, auf der alles steht, was zu erledigen ist und bis wann,
- all die Dinge wieder von der Liste streichen, die man niemals ernsthaft machen wollte,
- realistische Ziele setzen,
- die verbleibende Arbeit in kleine Portionen einteilen, damit der Berg nicht zu groß ist,
- überlegen, wie viel Zeit für einen Arbeitsschritt benötigt wird, und dann für den Tag eine bestimmte Zeitspanne festlegen, in der der Arbeitsschritt konkret erledigt wird, also: „Von 13 bis 14 Uhr sitze ich an meinem Schreibtisch und arbeite diese Teilaufgabe ab“,
- die Abgabefrist, die man einhalten will, um eine Woche nach vorn verlegen,
- Pausen einplanen,
- nach Erledigung einer Aufgabe auswerten, wie es geklappt hat und welche Schwierigkeiten es gab,
- Belohnungen auch für kleine Erfolge vergeben; so motiviert man sich.