Prosopagnosie - Wenn alle Gesichter gleich aussehen
Ein Gesicht sehen, aber nicht erkennen, darunter leiden Menschen, die die seltene Wahrnehmungsstörung Prosopagnosie haben. Eine Diagnose hilft Betroffenen aus der Misere. Auch gibt es Strategien, die Schwäche zu kompensieren.
Menschen sind soziale Wesen. Und das Gesicht spielt eine zentrale Rolle, wenn es um Kommunikation geht. Daran lässt sich die Identität einer Person erkennen, ihr Alter, Geschlecht, der emotionale Zustand und vieles mehr. Es gibt allerdings Menschen, für die alle Gesichter irgendwie gleich aussehen. Sie haben sogar Mühe, sich bekannte Gesichter zu merken. Es handelt sich dabei um eine seltene Wahrnehmungsstörung. Fachleute nennen sie Prosopagnosie.
„Prosop“ bedeutet im Griechischen „das Gesicht“, und „Agnosie“ so viel wie „nicht erkennen“. Einfacher ausgedrückt heißt die Prosopagnosie „Gesichtsblindheit“. Der Begriff ist allerdings irreführend. „Die betroffenen Personen sehen sehr wohl Gesichter. Sie nehmen diese jedoch anders wahr. Für Menschen mit Prosopagnosie ähneln sie sich alle. Selbst engere Bekannte sind hier keine Ausnahme. Hingegen kann die Mehrheit der Betroffenen Veränderungen im Gesichtsausdruck problemlos erkennen“, sagt Dr. Astrid Maroß, Fachärztin für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie im AOK-Bundesverband. Die meisten Personen mit Prosopagnosie hätten auch keine Schwierigkeiten, ihre Umgebung und darin enthaltene Objekte richtig zu erkennen. Die Schwäche betreffe ausschließlich die Wahrnehmung von Gesichtern.
Prosopagnosie wird meistens vererbt
Weil Gesichter in unserem Alltag und dem Miteinander sehr wichtig sind, hat sich im menschlichen Gehirn eine bestimmte Region auf die Aufgabe der Gesichtserkennung spezialisiert. „Bei gesichtsblinden Menschen funktionieren diese Areale einfach nicht richtig. Sie können Gesichter nicht wie andere ganzheitlich speichern und schnell abrufen“, erläutert Ärztin Maroß. Stattdessen suchen sie jedes Mal Gesichter nach Merkmalen ab. Das geht langsamer und klappt nicht immer fehlerfrei, weil sich Merkmale wie Haarfarbe oder Frisur ändern können.
Prosopagnosie tritt verhältnismäßig selten auf und ist noch wenig erforscht. Die vorhandenen Studien zeigen jedoch, dass die meisten mit der Gesichtsblindheit geboren werden. Es gibt auch Hinweise, dass Prosopagnosie vererbt wird, da Betroffene von weiteren Familienmitgliedern berichten, die sich Gesichter nicht merken können. In einzelnen Fällen kann Prosopagnosie auch aus einer Verletzung derjenigen Gehirnbereiche resultieren, die für die Gesichterverarbeitung zuständig sind.
Andere halten Gesichtsblinde oft für unsozial
Menschen nicht zu erkennen, ist unangenehm und oft peinlich. Das Verhalten wirkt auf andere arrogant und unaufmerksam. „Weil Betroffene bekannte Gesichter im Alltag zu ignorieren scheinen, halten Mitmenschen sie oft für unsozial und eigenartig. Die gesichtsblinde Person selbst versteht oft nicht, was los ist. Dies kann zu Unsicherheit, mangelndem Selbstbewusstsein, sozialem Rückzug oder selten bis zu Depressionen führen“, so Dr. Maroß.
Radio O-Töne von Dr. Astrid Maroß, Ärztin im AOK-Bundesverband
Diagnose bringt für Betroffene Erleichterung
Viele mit angeborener Prosopagnosie haben keine Ahnung, dass sie Gesichter anders wahrnehmen als ihre Mitmenschen. Auch wenn sie merken, dass sie andere schlecht wiedererkennen können. Erst mit der Diagnose wird Betroffenen diese Funktionsschwäche klar. Medizinerin Maroß rät deshalb Menschen, die Schwierigkeiten haben, Gesichter zu erkennen, dazu, sich von einer Fachärztin oder einem Facharzt für Neurologie untersuchen zu lassen. „Auch wenn es keine Heilung gibt, ist das Wissen um die eigene Situation eine große Erleichterung. Die Diagnose hilft den Betroffenen, besser mit ihrer Einschränkung zurechtzukommen und sie zu kompensieren. Das ist für Menschen mit Rot-Grün-Sehschwäche ja letztlich auch so.“
Es gibt Strategien fürs Wiedererkennen
Die meisten Menschen wissen, wie sie ihre Schwäche effektiv kompensieren können. „Gesichtsblinde sind von klein auf gewohnt, ihre Mitmenschen anhand von Merkmalen wie Statur, Frisur, Kleidungsstil, Stimme, Gangart oder Gestik zu erkennen. Diese Strategien helfen ihnen, den Alltag ohne größere Probleme zu bewältigen. Auch das nahe soziale Umfeld wie Familie und Freundeskreis kann sie dabei unterstützen. Je nach Situation können Betroffene auch proaktiv mit der Schwäche umgehen. Sie können etwa im Gespräch mit einer anderen Person erklären, dass sie Mühe haben, sich Gesichter zu merken, und deshalb Menschen mehrere Male kennenlernen müssen, bevor es klappt“, so die AOK-Expertin. Schließlich kann mehr Aufklärung in der Gesellschaft dazu beitragen, ein besseres Verständnis und eine breitere Akzeptanz für diese Besonderheit zu schaffen.