Pseudologie: Wenn Lügen zur Krankheit wird

Kleine Schwindeleien im Alltag sind normal, etwa um sich einer lästigen Verpflichtung zu entledigen oder um jemanden nicht zu verletzen. Doch manche Menschen lügen permanent, bauen sich ein ganzes Lügengebäude, eine andere Identität, eine Parallelwelt auf. Freundinnen und Freunde, Kolleginnen und Kollegen, selbst die eigene Familie fällt darauf herein. Was hat es mit der sogenannten Pseudologie auf sich? Was sind die Ursachen des extremen Lügens und wie kann man diesen Menschen helfen?

Foto: Ein Person kreuzt die Finger hinter dem Rücken.

Lügen aus innerem Zwang

„Ich spreche 1.200 Sprachen“, behauptete der Schriftsteller Karl May im Jahr 1897. Darunter sechs arabische, zwei kurdische, zwei chinesische, drei südamerikanische Dialekte und selbstverständlich mehrere Sprachen indigener Völker. Offensichtlich hat er ein wenig übertrieben. Überhaupt nahm Karl May es mit der Wahrheit nicht so genau und lebte seine Fantasien nicht nur in seinen Romanen, sondern auch im realen Leben aus. Mal gab er sich als Augenarzt, mal als Seminarleiter oder Plantagenbesitzer aus. Und als Polizist bestahl er eine Familie und wanderte dafür ins Gefängnis. Karl May war eine schillernde Gestalt und nicht nur ein weltberühmter Schriftsteller, sondern auch Pseudologe. „Pseudologen sind Menschen, die krankhaft lügen“, sagt Dr. Sylvia Böhme, Diplom-Psychologin und Psychotherapeutin bei der AOK. „Sie lügen aus einem inneren Zwang heraus, dem eine psychische Erkrankung zugrunde liegt.“

Legitim, kriminell oder krankhaft?

Schwindeln, flunkern, über- oder untertreiben, die Wahrheit verschleiern: Lügen sind im Alltag normal. So offenbarte eine repräsentative Befragung des Hamburger Marktforschungsinstitutes Splendid Research zum Thema Ehrlichkeit aus dem Jahr 2016, dass knapp 60 Prozent der deutschen Bevölkerung immer mal wieder nicht ganz ehrlich sind – und zwar täglich. Die Gründe sind oft legitim: Etwa, um jemanden aufzumuntern oder Trost zu spenden. „Die Frisur sieht doch gut aus!“ – das kann so ein Satz sein, wenn etwa die Freundin verschnitten vom Friseur kommt. Oder man möchte den anderen nicht verletzen und schiebt andere Verpflichtungen vor, wenn man keine Lust zu einem Treffen hat. „Manche lügen auch aus Angst, nicht gemocht zu werden, oder sie finden die Wahrheit einfach unbequem und möchten sich Ärger ersparen“, ergänzt Psychologin Böhme. Eine weitere repräsentative Online-Umfrage von YouGov unter Berufstätigen zeigte zudem, dass knapp die Hälfte der Befragten ab und zu flunkert, um besser dazustehen und Misserfolge zu vertuschen.

Verstrickt im Netz der Lügen

Wo liegt die Grenze zwischen kleinen Schwindeleien im Alltag und kriminellen Betrügereien auf der einen Seite und krankhaftem Lügen auf der anderen Seite? „Eine Pseudologie steht in Zusammenhang mit einer ernsthaften psychischen Störung, häufig einer Persönlichkeitsstörung wie etwa Narzissmus – und das ist auch das zentrale Merkmal: das krankhafte Lügen ist ein Symptom einer zugrunde liegenden Erkrankung“, sagt AOK-Expertin Böhme. Pseudologinnen und Pseudologen können nicht anders, als immer wieder die Unwahrheit zu sagen. „Sie tun das nicht berechnend, um ein konkretes Ziel, etwa mehr Geld oder Macht zu erreichen, sondern aus einer unbewussten Not heraus.“ Von einigen Betroffenen wird berichtet, dass sie als Kind vernachlässigt oder missbraucht wurden und sich deshalb mithilfe ihrer Fantasie in eine Scheinwelt flüchteten, in der sie sich Anerkennung, Wärme und Zuwendung erhofften.

Konfrontiert man die Betroffenen mit ihren Lügen, können sie sie zugeben – ein wichtiges Merkmal der Pseudologie in Abgrenzung zum Wahn. Dabei suchen Außenstehende manchmal vergebens nach einem konsistenten Motiv, das über die Aufmerksamkeit, die sie durch das Lügen erfahren, hinausgeht.

Die „Klassiker“ der Pseudologie

Ein Mann täuscht seiner Partnerin über Jahre vor, ein erfolgreicher Architekt zu sein, im wahren Leben ist er aber Hartz-IV-Empfänger. Oder jemand gibt fälschlicherweise vor, durch mutiges Einschreiten ein Gewaltopfer gerettet zu haben. Neben den Helden- gibt es aber auch die Opfergeschichten, wie der Berliner Psychiater und Psychotherapeut Prof. Hans Stoffels berichtet, der sich auf das Krankheitsbild spezialisiert hat. Zum Beispiel der Mann, der behauptete, sein Sohn sei bei einem Unfall ums Leben gekommen.

Das Münchhausen-Syndrom

Eine Sonderform der Pseudologia phantastica ist das Münchhausen-Syndrom: eine psychische Störung, bei der die Patienten körperliche oder psychische Symptome oder Behinderungen vortäuschen oder absichtlich herbeiführen. „Mithilfe ihres Verhaltens verschaffen sich die Patienten die Aufmerksamkeit und Fürsorge, die ihnen an anderer Stelle fehlt“, erklärt Psychologin Böhme. Lügengeschichten und Symptome wirken so authentisch, dass die Patienten Ärztinnen und Ärzte über lange Zeit hinters Licht führen können. Schöpfen die Behandelnden oder Nahestehende Verdacht und konfrontieren die Betroffenen damit, wechseln diese häufig ihre Arzt- beziehungsweise Therapiepraxis oder sogar ihr gesamtes Lebensumfeld, führen ihr Lügenkonstrukt an anderer Stelle fort oder entwickeln ein neues.

Mit dem Zwang umgehen lernen

Menschen mit einer Pseudologie sind nicht leicht zu therapieren. Sie reagieren wütend und aggressiv, wenn man sie enttarnt. Im Unterschied zu Menschen mit Wahnvorstellungen sind sie allerdings in der Lage, die Wahrheit zu erkennen und zuzugeben. An dieser Stelle kann eine Psychotherapie ansetzen. Voraussetzung ist allerdings, dass die Betroffenen dazu bereit sind. Oft muss erst ein Leidensdruck zum Beispiel dadurch entstehen, dass eine Beziehung zerbrochen ist oder Depressionen und Süchte mit ins Spiel kommen, auch Suizidalität ist kein Einzelfall. „In einer Psychotherapie können die Betroffenen lernen, mit ihrem Drang zu lügen umzugehen und ihn zu kontrollieren, indem die zugrunde liegende Symptomatik verstanden und behandelt wird“, sagt Dr. Böhme. „Die Erfahrung, auch ohne ihr Lügengebäude geliebt und gemocht zu werden, kann den Selbstwert stabilisieren. Ziel muss es sein, die Erfahrung zu machen, dass Aufmerksamkeit und Nähe authentischer mit der Wahrheit erreicht werden.“ Auch die Angehörigen sollten in die Therapie mit einbezogen werden. Im besten Fall ist es möglich, das kreative Potenzial und die sprachliche Begabung, die Menschen mit einer Pseudologie auszeichnen, umzulenken. Karl May hat es mit seinen zahlreichen Romanen geschafft. Seine erfundenen Figuren Winnetou und Old Shatterhand sind weltberühmt geworden.

Merkmale einer Pseudologie

  • Die erzählten Geschichten sind nicht ganz unwahrscheinlich und beinhalten oft einen wahren Kern.
  • Die Geschichten werden über einen langen Zeitraum aufrechterhalten. Es handelt sich nicht um einzelne, punktuelle Lügen, sondern um eine Parallelwelt.
  • Die Lügen werden nicht für den persönlichen Gewinn erzählt, unbewusst soll aber der eigene Selbstwert aufgewertet werden.
  • Die erfundene Scheinwelt ist kein Wahn, denn die Betroffenen können einen Bezug zur Wirklichkeit herstellen.