Trennungsangst – Kinder, die klammern
In die Kita oder Schule gehen, bei Freunden übernachten oder abends allein im Bett einschlafen: Manchen Kindern fällt es extrem schwer, sich von ihren Eltern zu trennen. Eine Herausforderung für die ganze Familie. „Eltern sollten die Trennungsangst ihres Kindes einerseits ernst nehmen, andererseits nicht zu behütend reagieren. Denn wenn Eltern ihrem Kind helfen wollen, indem sie Trennungen vermeiden, kann das die Ängste langfristig eher verstärken“, sagt Dr. Astrid Maroß, Fachärztin für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie beim AOK-Bundesverband.
Frühkindliches Fremdeln
Ängste gehören zum Großwerden dazu. Auch die Angst, die Eltern zu verlieren, von ihnen getrennt und allein zu sein. „Insbesondere in den ersten zwei Lebensjahren ist die Trennung von den Bezugspersonen mit großer Angst behaftet – in einer Zeit, wo die Kleinen krabbeln lernen und sich damit schon ein wenig von den Eltern entfernen können“, berichtet Medizinerin Maroß. Dieses frühkindliche Fremdeln ist eine normale Entwicklungsphase, in der die Kleinen die Trennung von den Eltern erproben können. Doch manchmal tauchen Trennungsängste später wieder auf, vielleicht nur in leichter Form und nur vorübergehend: Vor dem Besuch bei Oma etwa dauert die Verabschiedung länger, das Kind möchte noch einmal umarmt werden und wirkt angespannt, doch schließlich gibt es sich einen Ruck und hat bei Oma eine gute Zeit. Oder ein Kind möchte nachts nicht allein in seinem Zimmer bleiben, sondern kriecht immer mal wieder zu den Eltern ins Bett.
Weinen, schreien, flehen
Manchmal äußern sich die Ängste aber stärker und anhaltend, sodass die gesamte Familie belastet ist. Die Kinder klammern sich an die Mutter oder an den Vater, sie weinen, schreien vielleicht sogar und flehen die Eltern an, es nicht allein zu lassen. Manchen Kindern wird vor jeder Trennung übel, sie bekommen Bauch- und Kopfschmerzen, erbrechen sogar. Sie äußern die Angst, dass ihren Eltern etwas Schlimmes passiert, und bestehen darauf, dass sie immer bei ihnen bleiben sollen. Schätzungsweise etwa zwei bis drei Prozent der Kinder zwischen vier und dreizehn Jahren leiden unter solchen Trennungsängsten.
O-Ton von Dr. Astrid Maroß, Fachärztin für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie beim AOK-Bundesverband
Auch Ängste der Eltern spielen eine Rolle
Doch warum macht es manchen Kids gar nichts aus, zwei Wochen in ein Ferienlager zu fahren, während andere bei der Aussicht, auch nur eine Nacht bei einem Freund zu verbringen, ganz verzweifelt wirken? „Empfindsame oder unsichere Kinder neigen eher dazu, eine Trennungsangst zu entwickeln. Belastende Erlebnisse, etwa der Verlust eines Familienangehörigen oder ein Schulwechsel, können Ängste befördern. Letztlich gibt es viele Einflussfaktoren, die eine Rolle spielen können“, erklärt Maroß. Von Bedeutung ist auch, ob die Eltern selbst eher ängstlich sind und wie sie mit ihren Ängsten umgehen. Das schauen sich die Kinder von ihren Bezugspersonen ab.
Auch das Erziehungsverhalten spielt eine Rolle. Übernehmen die Eltern sehr viel für die Kinder – mit der guten Absicht, sie nicht überfordern zu wollen –, kann der Nachwuchs nicht die Erfahrung machen, Situationen allein zu bewältigen.
Vermeiden ist keine Lösung
Die Gefahr ist groß, in einen Teufelskreis zu geraten: Um sich und ihrem Kind die Verzweiflung zu ersparen, neigen manche Eltern dazu, Trennungssituationen zu vermeiden. „Das ist verständlich, denn dann entspannt sich die Situation vordergründig sofort“, so Ärztin Maroß, „doch langfristig hat das Kind dann keine Möglichkeit, eine Trennung zu üben, was die Ängste eher verstärkt.“ Das heißt, Eltern sollten eine Überbehütung vermeiden, stattdessen das Selbstbewusstsein und die Selbstständigkeit ihres Nachwuchses fördern.
Was Eltern tun können
Was sind die Stärken der Tochter oder des Sohnes? Vielleicht hat sie oder er noch Angst, auf Klassenfahrt zu gehen, aber hat keine Probleme, allein Brötchen zu holen oder bei der Freundin zu übernachten? Wenn das Kind solche leichteren Aufgaben meistert, kann es sich angstauslösenden Situationen besser stellen. Sich bewusst Zeit nehmen für das Kind, mit ihm spielen und Spaß haben – jenseits der Probleme – stärkt die Eltern-Kind-Bindung und gibt dem Nachwuchs mehr Sicherheit, etwas zu wagen.
Zum Üben bieten sich zunächst kurze Trennungen an, vielleicht nur zwei Stunden bei der Oma und nicht gleich ein ganzes Wochenende. Als Begleiter können der vertraute Teddy oder der Kuschelhase dienen und ein wenig Sicherheit geben. „Es wird nichts Schlimmes passieren“, „Ich traue dir zu, dass du das schaffst“ – mutmachende Gedanken und Sätze können ebenfalls hilfreiche Begleiter sein. Die Bindung an einen besonders vertrauten Erwachsenen in der Kita oder Schule kann dem Kind ebenso die Trennung von den Eltern erleichtern. Und auch die Eltern müssen das Loslassen lernen, sollten sich nicht zu sehr in die Verzweiflung des Kindes verstricken und eigene, ungünstige Gedanken, vielleicht zu hohe Erwartungen oder eigene Ängste hinterfragen.
Online-Selbsthilfeprogramm der AOK
Wie Eltern an sich selbst arbeiten und wie sie ihr Kind unterstützen können, erfahren sie im Familiencoach Kinderängste der AOK. Reflexionsübungen, angeleitete gemeinsame Übungen für Eltern und Kind, Videos, Arbeitsblätter und viele Beispiele tragen zum Verständnis bei und regen dazu an, nach Lösungen zu suchen. Das kostenlose und frei zugängliche Online-Selbsthilfeprogramm wurde mit Unterstützung von wissenschaftlichen Expertinnen und Experten des Universitätsklinikums Köln entwickelt. Es eignet sich für Familien mit ängstlichen Kindern im Alter zwischen drei und zwölf Jahren.
Psychotherapie ist bei Angststörungen hilfreich
Im Familiencoach Kinderängste werden auch erste Anlaufstellen genannt, wenn Selbsthilfe nicht ausreicht, etwa Beratungsstellen, Kinderärztinnen und Kinderärzte mit entsprechender Weiterbildung, Psychotherapeutinnen und -therapeuten für Kinder und Jugendliche oder eine psychiatrische Praxis mit gleichem Schwerpunkt. Angststörungen können mit einer Psychotherapie gut behandelt werden. Wichtig ist, die Trennungsangst überhaupt anzugehen.