„Das Problem ist die stabile Schere zwischen Arm und Reich“

Der Paritätische Wohlfahrtsverband arbeitet seit Jahren daran, die Armut abzubauen und damit die Gesundheit der Bevölkerung zu ­verbessern. Denn wer arm ist, stirbt früher. Als arm gelten 17 Prozent der Deutschen. Baden-Württemberg zählt 13,5 Prozent. Das ist jeder Siebte. Ein ambitionierter Plan, weiß Verbandsvorsitzender Rolf Rosenbrock.

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Prof. Dr. Rolf Rosenbrock, Vorsitzender des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes – Gesamtverband.

Herr Rosenbrock, sterben arme ­Menschen in Deutschland früher?

Ja, das ist nicht anders als in anderen reichen Industrieländern. Generell leben Menschen mit hohem Einkommen wesentlich länger als arme. In Deutschland erreichen die Frauen aus dem untersten Sechstel der Einkommenspyramide, wo ungefähr die Armutsgrenze verläuft, ­etwa 4,4 Lebensjahre weniger als die Frauen der oberen Einkommensklasse. Bei den Männern beträgt der Unterschied sogar 8,5 Jahre.

Gibt es dabei regionale Unterschiede?

Ja, die Regionen mit den höchsten ­Armutsquoten wie Bremen oder das Ruhrgebiet haben wesentlich größere ­Unterschiede als reiche Bundesländer wie Bayern oder Baden-Württemberg.

Wann ist man arm?

Objektiv ist Armut dann gegeben, wenn ich an der wesentlichen Entfaltung meiner Persönlichkeit durch materielle Faktoren dauerhaft gehindert werde. Das fängt nicht erst dann an, wenn ich mir kein Essen mehr kaufen kann. Es ­beginnt, wenn ich mit meinen Kindern nicht in den Zoo gehen kann, wenn ich beim Amt für meinen Lebensunterhalt meine gesamten Vermögensverhältnisse offenlegen muss.

„Bei Kindern liegt die Armutsquote bei über 20 Prozent. Das ist ein Skandal.“

Prof. Dr. Rolf Rosenbrock

Vorsitzender des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes – Gesamtverband

Und was bedeutet das in Zahlen ­ausgedrückt?

Deutsche und EU-Statistikbehörden für Armutsgefährdung sagen: Arm ist ­jemand, der 60 Prozent oder weniger des medianen Einkommens hat. Medianeinkommen ist das mittlere Einkommen von allen Einkommen (Anm. d. Redaktion: Das Median-Einkommen in Deutschland liegt laut Stepstone-Gehaltsreport aktuell bei 43.750 Euro im Jahr). Gesundheitswissenschaftlich gesehen ist die Spreizung des Einkommens das Problem. Vor allem für psychosoziale Belastungen kommt es darauf an, wie weit ich mich vom Durchschnitt befinde. Länder mit geringerer Einkommensspreizung haben eine höhere Lebenserwartung – und zwar in allen sozialen Schichten. Da stellt sich die Frage: Wie viel Gleichheit brauchen wir, um den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu erhalten und die Gesundheit der Bevölkerung zu verbessern?

Wer konkret ist von Armut betroffen?

Zunächst fallen die üblichen Verdächtigen ein: Arbeitslose, Alleinerziehende, Familien mit mehr als zwei Kindern, Menschen mit Migrationshintergrund und Menschen mit formal schlechter Bildung. Schaut man sich jedoch an, wie die Armut in der Gesellschaft verteilt ist, stellt man fest: Ein Drittel der Bevölkerung an oder unter der Armutsgrenze ist in Lohn und Brot. Es handelt sich um die sogenannten Aufstocker und prekär ­Beschäftigten.

Wie sieht es bei den Kindern aus?

Bei Kindern liegt die Armutsquote bei über 20 Prozent. Das ist ein Skandal, der die Chancen für ein gesundheitlich gelingendes und langes Leben schon in den frühesten Jahren des Lebens verringert. Mit dem Nation­a­len Zentrum „Frühe Hilfen“ gibt es erste Ansätze wie Familienhebammen oder Gesundheitsförderung in Kitas. Der ­Größe des ­Problems angemessen wäre eine ­Kindergrundsicherung.

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"Geld ist ein Generalschlüssel" - Prof. Dr. Rolf Rosenbock wünscht sich mehr Engagement von Sozialträgern und der Politik.

Macht Armut krank?

Ja. Nicht nur die Lebenserwartung ist bei ärmeren Menschen kürzer, sie werden auch früher und schwerer krank: Im Durchschnitt sind sie dreieinhalb Jahre in ihrem ohnehin kürzeren Leben durch chronische Krankheit oder Behinderung in der Lebensqualität eingeschränkt.

Werden arme Menschen auch ­medizinisch schlechter versorgt?

Insgesamt sind die Zusammenhänge, die erklären, wie es zu diesen großen Unterschieden in Gesundheit und Lebenserwartung kommt, komplex. Die medizinische Versorgung spielt dabei eine untergeordnete Rolle, weil die Bevölkerung durch den soliden Schutz der gesetzlichen Krankenversicherung in der medizinischen Versorgung gut abgesichert ist. Empirisch belegt ist, dass Menschen aus unteren Sozialschichten einen gesundheitlich riskanteren ­Lebensstil haben im Hinblick auf Ernährung, Bewegung, Rauchen und Stress. Aber die verhaltensbezogenen Faktoren erklären weniger als die Hälfte aller ­Unterschiede zwischen Arm und Reich.

Was trägt noch zu den Unterschieden in Gesundheit und Lebenserwartung bei?

Der überwiegende Teil der Unterschiede erklärt sich aus dem Mangel an gesellschaftlicher Teilhabe wegen des niedrigen Einkommens. Geld ist in einer Marktgesellschaft der Generalschlüssel. Arme Menschen haben in der Regel ein deutlich weniger stabiles Selbstbewusstsein und wenig Selbstwirksamkeits­gefühl. Es fehlt ihnen das Gefühl, wirklich etwas verändern zu können in ihrem Leben. Sie haben seltener Zugang zu hilfreichen sozialen Netzen und wissen weniger, was ihnen jenseits der Armut wichtig ist im Leben.

Welche Rolle spielen psychosoziale Belastungen?

Der Zustand der dauernden gesellschaftlichen Benachteiligung, der Ausgrenzung, der Diskriminierung, der externen Kontrolle, aber auch die Nichtteilnahme zum Beispiel am Arbeitsleben sind ­Belastungsfaktoren, die zu einem Dauerstress führen, den der menschliche Organismus und die Seele auf Dauer nicht gewachsen sind.

Wie könnte man dem begegnen?

Die kausale Therapie und das wirksamste Mittel wäre, die Armut abzuschaffen und die Spreizung der Einkommen zu verringern. Wir haben jedoch kein „Health in All-Policies“-Konzept. Gesundheit in allen Politikbereichen würde etwas gegen die Einkommensverteilung und Armuts­quote unternehmen, da diese gesundheitsschädlich für die Bevölkerung sind.

Und wie lassen sich die Gesundheits­­be­lastungen, die aus der Armut resultieren, kompensieren?

Durch Prävention und Gesundheitsförderung in den Lebenswelten. Die GKV gibt dafür 40 Prozent ihrer Präventionsmittel aus. Diese 160 Millionen Euro sind 

aber viel zu wenig angesichts der großen Zahl an Lebenswelten, in denen eine Intervention Nutzen haben könnte, wie ­Kitas, Altenheime oder Stadtteile. Überdies machen Interventionen nur Sinn, wenn die Betroffenen durch Entscheidungsteilhabe bei der Umgestaltung erfahren, dass ihr Wort Gewicht hat.

„Das wirksamste Mittel wäre die Armut abzuschaffen. “

Prof. Dr. Rolf Rosenbrock

Vorsitzender des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes - Gesamtverband

Das bedeutet?

Wenn die Schule oder der Betrieb nach den Bedürfnissen der Nutzerinnen und Nutzer organisiert ist, liegen weniger Gesundheitsbelastungen in der Struktur. Nimmt man den Einsatz kompensatorischer Primärprävention und Gesundheitsförderung in Lebenswelten ernst, müsste dafür eine Infrastruktur auf Bundesebene geschaffen werden. Dieses Versprechen hat die Koalition mit dem versprochenen Bundesinstitut für Gesundheit, jetzt Bundesinstitut für Prävention und Aufklärung in der Medizin, bisher nicht eingelöst.

Wie lässt sich das finanzieren?

Im Augenblick gibt die GKV für Prävention und Gesundheitsförderung etwa 1,5 Promille der Ausgaben aus im Vergleich mit den Ausgaben zur Krankenversorgung. Da ist ­sicher noch Luft drin. Hinzu kommen die Einsparungspotenziale ohne Qualitätsminderung in der Krankenversorgung. Zum anderen muss im Rahmen nationaler Gesundheitsstrategien überlegt werden, wie neben den Krankenkassen auch die anderen Sozialversicherungsträger und die staatlichen Stellen ihren Beitrag dazu leisten. Das gilt sowohl für die Finanzierung wie auch für die Organisation der Prävention.  

Zur Person

Prof. Dr. Rolf Rosenbrock ist Vorsitzender des „Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes – Gesamtverband“. Von 1988 bis 2012 war er Leiter der Forschungsgruppe „Public Health“ im Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung, von 2010 bis 2015 Mitglied der Zentralen Ethikkommission bei der Bundesärztekammer und von 1999 bis 2009 Mitglied des Sachverständigenrates zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen Ökonomie und Politik der gesundheitlichen Versorgung, sozial bedingte Ungleichheit von Gesundheitschancen sowie Prävention und Gesundheitsförderung. ­Er lehrt unter anderem an der Berlin School of Public Health in der Charité ­Universitätsmedizin Berlin.