Volle Pulle dagegen

Rund acht Millionen Menschen in Deutschland trinken Alkohol in gesundheitlich riskanter Form. Ein Beispiel aus Biberach zeigt, wie sich der Konsum von Alkohol auf die Gesundheit auswirken kann und welche Unterstützungsmöglichkeiten es gibt.

Portrait eines Mannes
Selbsthilfe mit Leidenschaft: Jürgen Frech, Sprecher der Kreuzbund-Gruppen im Landkreis Biberach.

Es ist 14 Uhr im Caritas-Haus in Biberach. Jürgen Frech kommt direkt aus dem Büro in Ulm zum Interviewtermin. Der 59-Jährige arbeitet bei einer Bank. Frech ist offen und direkt. Er kommt schnell mit anderen ins Gespräch und scheut sich nicht, auch kritische Themen anzusprechen – einschließlich seiner Alkoholsucht. Seine Geschichte beginnt 2007 mit einer Depression, die körperliche Beschwerden wie Herzrasen, Kopfschmerzen, Verdauungsprobleme und Schwindel verursacht. Zu dieser Zeit ist er beruflich und privat aktiv. Im Job läuft es gut und er engagiert sich ehrenamtlich, unter anderem in der Narrenzunft in seiner Heimatgemeinde Schemmerhofen. Frech begibt sich in eine psychosomatische Klinik, aber Alkohol nimmt immer mehr Raum in seinem Leben ein. Er trinkt immer mehr und früher am Tag. Er begründet seinen Alkoholkonsum damit, dass er es sich verdient habe.

Anfangs konsumiert er hauptsächlich Bier, später kommt Schnaps dazu. Mit einem Promille Alkohol im Blut fühlt er sich wohl und bereit für den Alltag. Alle Versuche, auf Alkohol zu verzichten, scheitern. Auch kontrolliertes Trinken ist keine Option. Er erkennt, dass er handeln muss. Auf Drängen seiner Frau begibt er sich für drei Wochen ins Zentrum für Psychiatrie Bad Schussenried, um eine Entgiftung durchzuführen und an der klinikinternen Motivationsgruppe teilzunehmen. Diese schwierige Zeit bewältigt er gut. Anschließend absolviert er eine ambulante Therapie bei der Suchtberatungsstelle der Caritas in Biberach. Die Einzelgespräche und Gruppensitzungen tun ihm gut und stabilisieren sein Leben. Frech erkennt die Ursachen für seine Abhängigkeit, übernimmt Eigenverantwortung und entwickelt neue Perspektiven und Verhaltensweisen. Wasser und Kaffee sind seine bevorzugten Getränke. „Wenn ich heute merke, dass ich in die Alkoholfalle tappen könnte, kann es auch sein, dass ich eine Feier verlasse“, sagt er.

„Die Gruppentreffen sind sehr wichtig, denn sie senken die Rückfallquote nach einer Therapie enorm.“

Jürgen Frech

Bankangestellter und ehrenamtlicher Sprecher der Kreuzbund-Gruppen, Landkreis Biberach

Der Kontakt zur Kreuzbund-Gruppe im Landkreis Biberach, der seit seiner ambulanten Therapie besteht, gibt ihm Halt. Der Kreuzbund ist ein Fachverband des Deutschen Caritas-Verbandes, der Hilfe für Alkohol- und Medikamentenabhängige sowie deren Angehörige anbietet. Jürgen Frech ist Sprecher der Kreuzbund-Gruppen im Landkreis Biberach und leitet seit vielen Jahren selbst Gruppen. Die Gruppentreffen sind ihm wichtig, da er weiß, wie entscheidend eine Anlaufstelle ist. „Das senkt die Rückfallquote nach einer Therapie enorm. Die Treffen sind aber auch für die Angehörigen von großer Bedeutung“, ist er überzeugt.

Angst und Schuldgefühle nehmen

Auch Irmgard Ruf, Leiterin der Begegnungsgruppe des Blauen Kreuzes in Biberach, kennt Angst- und Schuldgefühle aus eigener Erfahrung. Das Suchthilfenetzwerk Biberach, zu dem auch der Kreuzbund und die Abteilung für Suchterkrankungen des Zentrums für Psychiatrie (ZfP) gehören, unterstützt Menschen dabei, ein suchtfreies Leben in gesunden Beziehungen zu führen. Irmgard Ruf war viele Jahre lang betroffen: Ihr Sohn fing im Alter von 13 Jahren an zu trinken und wurde mit 15 abhängig. „Damals wusste ich nicht, an wen ich mich wenden konnte und wer uns als Familie helfen könnte“, erinnert sie sich. Es wurde ihr schmerzlich bewusst, wie schnell man in eine solche schwierige Situation geraten und wie zerstörerisch eine Alkoholsucht sein kann. „Besonders Familienmitglieder leiden unter dem Verhalten eines alkoholkranken Menschen“, sagt Ruf. Dabei kann jede Altersgruppe von der Sucht betroffen sein. „Die älteste Teilnehmerin in einer unserer Gruppen war 85 Jahre alt. Sie kam mit dem Rollator zu den Treffen und hat über Jahre hinweg Probleme verarbeitet, die sie mit ihrem Lebenspartner hatte“, erzählt sie.

Drei Menschen unterhalten sich
Im Caritas-Haus in Biberach: Jürgen Frech, Irmgard Ruf und Egon Fiderer im Austausch.

Bei den Treffen spielt die Bewusstseinsbildung eine wichtige Rolle. Es werden Fragen diskutiert wie: Was bewegt mich wirklich? Was will ich in meinem Leben nicht wahrnehmen und was schlummert in meinem Unterbewusstsein? Irmgard Ruf erklärt: „Im Kern geht es darum, Ängste und Schuldgefühle abzubauen und wieder mehr Selbstständigkeit im Alltag zu erlangen.“ Sie wünscht sich, dass auch niedergelassene Ärztinnen und Ärzte die lokalen Hilfsangebote stärker in den Blick nehmen und Betroffene an die entsprechenden Selbsthilfegruppen verweisen. „Das würde den betroffenen Menschen und ihren Angehörigen sehr helfen“, ist sie überzeugt. Egon Fiderer, Leiter der Psychosozialen Beratungs- und ambulanten Behandlungsstelle für Suchtkranke und Angehörige bei der Caritas in Biberach, stimmt dem zu. Der 63-Jährige ist Diplom-Sozialpädagoge und hat sich zum systemischen Familien- und Sozialtherapeuten Sucht weiterqualifiziert. Fiderer arbeitet seit 32 Jahren in diesem Bereich und hat viel Erfahrung. Zu ihm kommen nicht nur betroffene Menschen, sondern auch häufig Angehörige wie Ehepartner, Eltern und Großeltern. Meistens geht es um Alkoholprobleme, gefolgt von Problemen mit Cannabis. Jährlich suchen etwa 600 Menschen seine Hilfe.

„Es ist wichtig, einen vertrauensvollen Raum für Gespräche zu schaffen. Die Menschen sind dankbar, dass ihnen zugehört und nach Lösungen gesucht wird.“

Egon Fiderer

Leiter der Psychosoziale Beratungs- und ambulanten Behandlungsstelle für Suchtkranke und Angehörige, Caritas Biberach

Co-Abhängigkeit ist ein Problem

Häufig befinden sich diese Menschen in Zeiten des Umbruchs, wie zum Beispiel nach einem Jobverlust, einer Scheidung oder dem Verlust eines geliebten Menschen. „Dann ist es wichtig, eine Vertrauensbasis aufzubauen und Raum für Gespräche zu schaffen. Die Menschen sind dankbar, dass ihnen zugehört und nach Lösungen gesucht wird“, sagt Egon Fiderer. Angehörige leiden in vielen Fällen mehr als die Betroffenen selbst. Oft liegt eine sogenannte Co-Abhängigkeit vor, bei der das Verhalten der Angehörigen die Sucht unbewusst unterstützt. Zum Beispiel, wenn die Ehefrau den Arbeitgeber ihres Mannes anruft und ihn krankmeldet oder leere Flaschen entsorgt, um keine Spuren zu hinterlassen. Diese Menschen sind in großer Not. Es ist wichtig, gemeinsam eine Strategie zu entwickeln, wie sie wieder zu sich selbst finden und Kraft tanken können, sagt Egon Fiderer. Man spricht von Alkoholabhängigkeit, wenn während des letzten Jahres mindestens drei der folgenden Diagnosekriterien erfüllt sind: starkes Verlangen nach Alkohol, Kontrollverlust über den Konsum, Toleranzentwicklung, Entzugssymptome, Vernachlässigung anderer Lebensbereiche und Fortsetzung des Konsums trotz schädlicher Folgen. In der Regel geht dem eine Phase des Alkoholmissbrauchs voraus, erklärt Fiderer. Besonders junge Menschen trinken Alkohol, um ihr Selbstbewusstsein zu steigern. In solchen Fällen ist es wichtig, sensibel zu sein und nicht jedes Verhalten von vornherein zu verurteilen, betont er.

„Wir möchten gut mit den Netzwerken in unserem Landkreis zusammenarbeiten und mit unserer Expertise vorhandene Angebote und Strukturen ergänzen.“

Sabrina Rapp

Bereichsleiterin Gesundheitsbegleitung AOK-Bezirksdirektion Ulm-Biberach

KIGS bietet Hilfe

Frau lächelt frontal in die Kamera
Hört immer zu: Lisa Fey bei der Beratung.

Auch die Kontakt- und Informationsstelle für gesundheitliche Selbsthilfegruppen (KIGS) in Biberach bietet Unterstützung für Menschen mit Suchterkrankungen und ihre Angehörigen. Die KIGS wird von der AOK-Bezirksdirektion Ulm-Biberach getragen, kann aber auch von den Versicherten anderer Krankenkassen kontaktiert werden. Ratsuchende können sich von den AOK-Sozialarbeiterinnen Lisa Fey und Lisa Huber beraten lassen – entweder persönlich nach Terminvereinbarung, telefonisch oder per E-Mail. Die Beratung kann auch anonym erfolgen. Neben der Vermittlung in bestehende Selbsthilfegruppen wie den Kreuzbund oder das Blaue Kreuz unterstützt die KIGS auch bei der Gründung neuer Selbsthilfegruppen. Darüber hinaus werden Fortbildungsveranstaltungen und Hilfe bei der Öffentlichkeitsarbeit angeboten. „Viele Menschen sind sich nicht bewusst, dass es die KIGS gibt und welche Unterstützung sie bietet. Es ist immer wieder erfreulich, wenn wir helfen können“, sagt Fey.

Zwei Frauen sehen in die Kamera
Tatkräftig: Lisa Fey und Sabrina Rapp unterstützen die Netzwerkarbeit im Kreis Biberach.

Dem stimmt Sabrina Rapp zu. Die 34-Jährige leitet bei der AOK-Bezirksdirektion Ulm-Biberach den Bereich Gesundheitsbegleitung, zu dem die 14 Mitarbeiterinnen des Sozialen Dienstes inklusive der KIGS gehören. Insgesamt arbeiten bei der AOK Baden-Württemberg rund 200 staatlich anerkannte Sozialpädagoginnen und -pädagogen. In ihrer AOK-Karriere hat sich Sabrina Rapp bereits intensiv mit dem Thema Sucht beschäftigt und gemeinsam mit ihrem Team bei der Koordination einer stabilen Gesamtversorgungssituation der Versicherten unterstützt. Standen zu Beginn ihrer AOK-Zeit Sucht- und Krebserkrankungen noch im Vordergrund, sind es heute immer mehr psychische Erkrankungen, erklärt sie. „Wir arbeiten in Absprache mit unseren Versicherten eng mit den Netzwerkpartnern unseres Landkreises zusammen und möchten mit unserem Beratungsangebot die vorhandenen Strukturen und Angebote bestmöglich ergänzen“, fasst Rapp zusammen. Jürgen Frech steckt gerade mitten in den Vorbereitungen für die diesjährige Aktionswoche mit dem Motto „Wem schadet dein Drink?“. Die bundesweite Präventionskampagne findet bereits zum achten Mal statt. Auch in diesem Jahr beteiligt sich das Suchthilfenetzwerk im Landkreis Biberach an der Aktion. Jürgen Frech: „Wir möchten unsere vielfältigen Hilfsangebote für betroffene Menschen und deren Angehörigen vorstellen und hoffen wieder auf große Resonanz.“

Zahlen, Daten und Fakten

Alkoholkonsum verursacht in Deutschland erhebliche gesundheitliche, soziale und volkswirtschaftliche Probleme. Laut der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen (DHS) sind rund 1,6 Millionen Menschen in Deutschland alkoholabhängig. Alkohol ist ein Zellgift, das sich nach der Aufnahme über den Blutkreislauf im ganzen Körper verteilt und – vor allem, wenn er in größeren Mengen konsumiert wird – alle Organe schädigen kann. Einige Krankheiten werden ausschließlich durch Alkoholkonsum verursacht, wie die alkoholische Leberkrankheit und die alkoholinduzierte Pankreatitis sowie Alkoholmissbrauch und Alkoholabhängigkeit. Darüber hinaus ist Alkohol an der Entstehung von über 200 Krankheiten beteiligt, darunter verschiedene Krebsarten, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Typ-2-Diabetes und Atemwegserkrankungen sowie Verletzungen. Die meisten durch Alkoholkonsum verursachten Todesfälle treten im mittleren Lebensalter von 20 bis 50 Jahren auf. Die durch Alkoholkonsum verursachten volkswirtschaftlichen Kosten betragen rund 57 Milliarden Euro pro Jahr (Jahrbuch Sucht 2023).

Umfrage

Wie gestaltet sich der Alkoholkonsum in Baden-Württemberg? Wie viel Alkohol wird wirklich getrunken? Um das herauszufinden, hat die Gesundheitskasse eine Umfrage bei Civey in Auftrag gegeben, bei welcher Anfang Mai mehr als 1.000 Personen zu ihrem Umgang mit der Alltagsdroge befragt wurden. Hier finden Sie die Ergebnisse der Befragung.

Civey-Umfrage zur Alkoholsucht

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