Strukturreformen für eine koordinierte sektorenunabhängige Versorgung umsetzen
Die großen Herausforderungen, denen unser Gesundheitssystem gegenübersteht, schlagen sich auch in der Versorgung nieder. Zunehmend mehr Menschen mit Behandlungs-und Pflegebedarf steht eine stagnierende, in Teilen sogar schrumpfende Anzahl von Menschen in den Gesundheitsberufen gegenüber. Es ist daher geboten, die begrenzten Ressourcen sinnvoll einzusetzen.
Neue Rechtsgrundlage für sektorenunabhängige Versorgung schaffen
Die starren sektoralen Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen bieten oftmals keine Lösung für die Etablierung von Innovationen und sektorenübergreifende Weiterentwicklungen. Häufig scheitern innovative Projekte zur Förderung neuer Versorgungsformen, da sie keinen nachhaltigen Anschluss an die bestehenden Strukturen der Regelversorgung finden. In zahlreichen Versorgungsprojekten setzt sich die AOK Baden-Württemberg für eine gut zugängliche ambulante, stationäre, rehabilitative oder pflegerische Gesundheitsversorgung und den Erhalt notwendiger medizinischer Angebote ein, insbesondere im ländlichen Raum. Doch oft stoßen wir mit unseren Partnern auf rechtliche Limitationen. Es braucht dringend eine neue Rechtsgrundlage für eine regionale sektorenunabhängige Versorgung, damit regionale Versorgungsinitiativen leichter als dauerhaftes Versorgungsangebot implementiert werden können. Notwendig sind Lösungen, die regionalen Akteuren Handlungsfreiraum geben, um anhand regionaler Bedarfe und Gegebenheiten die Versorgung der Patientinnen und Patienten durch mehr Koordination, Steuerung und Vernetzung weiterentwickeln zu können. Dadurch schaffen wir eine effektive Entlastung aller Beteiligten und verbessern die Versorgungsqualität.
Pflege zukunftsfest gestalten und Sektoren aufbrechen
Im Bereich der Pflege brauchen wir dringend eine grundlegende Strukturreform. Dazu gehört die Flexibilisierung des Leistungsrechts durch die Bündelung von Leistungsansprüchen in ein vom Pflegegrad abhängiges Basisbudget (Geldleistung) und ein Sachleistungsbudget, eine Nutzung der Leistungserbringung unabhängig vom Ort sowie die Aufhebung der Sektoren- und Systemgrenzen in den Sozialgesetzbüchern, um die Selbstbestimmung der Pflegebedürftigen zu stärken. Für den effizienten und bedarfsgerechten Einsatz von personellen und finanziellen Ressourcen brauchen wir zudem eine engere Kooperation zwischen Kommunen und Kassen, damit das Wissen zu den Bedarfslagen der Menschen vor Ort so früh wie möglich für die Versorgungsplanung genutzt wird. Sogenannte Caring-Communities und die Einführung einer Lotsenfunktion der Kranken- und Pflegekassen sind darüber hinaus essenzielle Bausteine, um neue Sorgestrukturen zu etablieren und Menschen in schwierigen Pflege-und Versorgungssituationen wirksam zu unterstützen.
„Nur durch Flexibilisierung, stärkere Vernetzung und effizienten Ressourceneinsatz können wir die Versorgungsqualität für unsere Versicherten steigern und das Gesundheitssystem zukunftsfest machen.“
Stv. Vorsitzender des Vorstandes
Pflege vernetzen und digitalisieren
Eine bedarfsorientierte Pflege muss die Lebensqualität und Gesundheitsversorgung der zu pflegenden Menschen und der Pflegenden verbessern. Die Kurzzeitpflege als Übergangspflege sollte daher im Sinne einer ressourcenorientierten pflegerisch-therapeutischen Präventionspflege eingesetzt werden, sodass mehr Menschen länger selbstbestimmt leben können. Dazu gehört neben der Anbindung der Gesundheitsversorgung auch eine engere Vernetzung von Prävention, Rehabilitation und Pflege. Außerdem sollten die Potenziale digitaler Technologien konsequent genutzt werden, insbesondere in der sektorenübergreifenden Vernetzung.
Fehlanreize beseitigen und Erreichbarkeit in der primärärztlichen Versorgung steigern
Die drohende Unterversorgung, insbesondere in der hausärztlichen Versorgung, ist ein drängendes Problem und vielerorts bereits Realität. Die Stärkung der primärärztlichen Versorgung muss daher auf die Agenda der nächsten Bundesregierung. Es braucht ein zukunftsorientiertes sektorenunabhängiges Versorgungskonzept, um die knappen Personalressourcen im Gesundheitswesen effizient einzusetzen. Ausgangspunkt sollte die Primärversorgung in der Hausarztpraxis sein, von der aus die Patientinnen und Patienten in die richtige Versorgungsebene gesteuert werden. Dies hebt Effizienzpotenziale und verbessert zugleich die Qualität der Versorgung. Eine funktionierende und flächendeckende Versorgung setzt auch voraus, dass Fehlanreize beseitigt werden: So setzt etwa das duale System aus privater und gesetzlicher Krankenversicherung mit Blick auf die Erreichbarkeit der Versorgung die falschen Anreize und führt beispielsweise zu erhöhten Niederlassungen in bestimmten, für Leistungsanbieter attraktiven Regionen. Das Nebeneinander der beiden Versicherungssysteme sollte daher mit Blick auf einen niedrigschwelligen und gerechten Zugang zur medizinischen Versorgung überdacht werden.
Versorgung durch Steuerung und Delegation effizient gestalten
Die AOK Baden-Württemberg leistet mit ihrem wissenschaftlich evaluierten Konzept der selektivvertraglichen Hausarztzentrierten Versorgung, kombiniert mit dem FacharztProgramm gemeinsam mit ihren Vertragspartnern seit vielen Jahren erfolgreiche Pionierarbeit in der Versorgung. Ergebnis dieser Koordinierung sind unter anderem weniger unnötige Krankenhausaufenthalte, geringere Komplikationsraten und weniger unkoordinierte Facharztkontakte. Eigenverantwortliche und regionale Versorgungsgestaltung ermöglicht hier die Patientensteuerung aus der Primärversorgungspraxis, deutlich weniger Bürokratie und eine angemessene Honorierung ohne Budgetierung. Kernstück dieser Versorgungsverträge ist die inter-/multiprofessionelle Zusammenarbeit in einer Teampraxis. Prozesse werden so optimiert, dass Patientenbedarfe frühzeitig identifiziert und abgeleitete Maßnahmen delegiert werden können. Akademische nicht ärztliche Heilberufe in der Haus- und Facharztpraxis werden in der Hausarztzentrierten Versorgung und dem FacharztProgramm explizit gefördert. Um das volle Potenzial einer Kompetenzerweiterung ausschöpfen zu können, braucht es bundesrechtliche Anpassungen, die die eigenständige Durchführung von Aufgaben nicht ärztlichen Personals im Rahmen einer Delegation in einer Teampraxis ermöglichen und mehr Rechtssicherheit bei Haftungsfragen garantieren.
Krankenhausreform umsetzen und nachbessern
Es ist richtig und wichtig, die Qualität zu steigern und beispielsweise Krebsbehandlungen oder Gelenkersatz an spezialisierten Standorten zu bündeln. Die jetzt mit der Krankenhausreform beschlossene Einführung von Leistungsgruppen und Vorhaltepauschalen ist der richtige Ansatz. Dieser muss nun konsequent umgesetzt werden. Die Versorgungsqualität muss durch gebündelte und koordinierte Strukturen gesteigert und das knappe Gesundheitspersonal effizient eingesetzt werden. Gleichzeitig braucht es auch Nachbesserungen. Die nächste Bundesregierung muss dringend Schwachpunkte der Reform ausbessern, die die Solidargemeinschaft belasten und nicht zu einer Verbesserung der Versorgung beitragen. Erforderlich ist eine ordnungspolitisch saubere Finanzierung der Transformationskosten durch den Staat sowie eine fallunabhängige Ausgestaltung der Vorhaltepauschalen zur Vermeidung dysfunktionaler Mengenanreize. Darüber hinaus muss schnell eine Reform der Notfallversorgung mit Umsetzung des „Ein-Tresen-Prinzips“ folgen. Eine bessere Steuerung von Not- und Akutfällen muss vor allem die stark überlasteten Notaufnahmen für echte Notfälle frei machen. Auch eine Reform des Rettungsdienstes gehört dazu und muss zeitnah folgen. Hier ist die Versorgung bei Notfällen durch nicht ärztliches Personal und die Einbindung der Telemedizin sinnvoll.