Handeln mit Evidenz
Die AOK Baden-Württemberg arbeitet mit dem Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt zusammen. Warum die Forschungsergebnisse gut für die Gesundheit der Versicherten sind und auch die Politik davon lernen kann.
Sentinel ist das englische Wort für Wächter. Die gleichnamige Satelliten-Flotte des europäischen Copernicus-Programms wacht über die Erde und den Raum drumherum. Die Sentinels erheben Daten über das Land, die Meere, die Atmosphäre, das Klima und die Aktivitäten an den Grenzen. Diese Geoinformationen dienen den EU-Ländern zur Klärung umwelt- und sicherheitsrelevanter Fragen. Hierzulande werden sie vom Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) ausgewertet. Auch bei der AOK Baden-Württemberg entstehen digitale Infoberge – aus den Gesundheitsdaten der Versicherten. Sie gelten als sensibel und schützenswert. Deshalb blieb das Potenzial, das in ihnen steckt, lange ungenutzt. „Big Data ist ein Riesenthema, wenn es um die Bewältigung dringender Probleme der Zeit geht, gerade hinsichtlich des Klimawandels“, sagt Tobias Antoni, der 2018 vom Karlsruher Institut für Technologie zur AOK nach Stuttgart wechselte. „In meinem Wissenschafts- Netzwerk haben wir uns nach Kooperationspartnern für die gezielte Auswertung von Gesundheitsdaten im Kontext des Klimawandels umgesehen.“
Zur selben Zeit plante das DLR ein Projekt, bei dem Erdbeobachtungsdaten mit Gesundheitsdaten zusammengeführt werden sollten. „Wir hatten die Vision, aus der regionalen Verteilung – zum Beispiel der Schadstoffbelastung – Ableitungen zu machen für das Gesundheitsrisiko der Menschen in den Regionen“, sagt Michael Bittner. Der Professor arbeitet für das Deutsche Fernerkundungsdatenzentrum des DLR in Oberpfaffenhofen. Bei ihm und seinem Team laufen die Sentinel-Daten zur Atmosphäre zusammen. 600 Kilometer weiter im Institut für Luft- und Raumfahrtmedizin in Köln sind auch die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler um Professor Jörn Rittweger Teil des Projekts. Sie analysieren, wie sich die beobachtete Veränderung der Luftqualität auf die Gesundheit der Menschen auswirkt. „Unser Ziel ist es, die Medizin voranzutreiben“, sagt Rittweger.
DLR und AOK treiben dieselben Fragen um: Wie wirkt der Klimawandel auf die Gesundheit und wie können wir uns vorbereiten und Schutzmechanismen installieren? Bisher ist der Gesundheitssektor in der Klimawandeldebatte wenig in Erscheinung getreten. „Dabei sind die Auswirkungen in diesem Bereich immens – angesichts von Luftverschmutzung oder Hitzewellen“, so Maxana Baltruweit, die den AOK-Geschäftsbereich Gesellschaftliche Verantwortung leitet. Seit mehr als zehn Jahren hat die AOK Baden-Württemberg das Umweltmanagement aktiv im Unternehmen verankert. „Oft mussten wir uns fragen lassen, was Umweltthemen mit unserem Kerngeschäft zu tun haben“, so Baltruweit. „Deshalb haben wir uns nach einem Forschungspartner umgesehen.“ Die Zusammenarbeit mit dem DLR liefert wissenschaftliche Evidenz, dass dieses Engagement notwendig ist, und liefert auch Hinweise auf die Frage: Was kostet uns eigentlich der Klimawandel im Gesundheitswesen?
Über Feinstaub und Temperatur
Los ging es im Jahr 2020 mit ersten Analysen, die sich auf die Influenza fokussieren. „Eine Grippeerkrankung ist ein akutes Ereignis mit relativ sicherer Diagnose und überschaubarem Erkrankungszeitraum. Deswegen lässt sie sich aus den Versichertendaten verhältnismäßig einfach herausgreifen“, erklärt Raumfahrtmediziner Rittweger. AOK-Geschäftsbereichsleiter Antoni sagt: „Statistisch von Vorteil ist, dass knapp die Hälfte der Menschen in Baden-Württemberg bei uns versichert ist, mehr als 4,6 Millionen. So können wir einen hohen Anteil an der Bevölkerung abbilden.“ Um die Daten zusammenzuführen, braucht es menschliche Denk- und viel technische Rechenleistung. Auf der einen Seite stehen lange Tabellen mit Infos wie Alter, Geschlecht, Wohnort, Erkrankung von AOK-Versicherten – anonymisiert und datenschutzgerecht aufbereitet. Auf der anderen Seite unter anderem Temperatur- und Feinstaubwerte in Baden- Württemberg in saisonaler und regionaler Verteilung.
Nach Runden der Datenbereinigung folgen die statistischen Auswertungen. Erstes Ergebnis: Gemäß den Hochrechnungen ist das Risiko, an Grippe zu erkranken, bei den höchsten beobachteten Feinstaubwerten in etwa doppelt so hoch wie bei den niedrigsten Feinstaubwerten. Noch größer ist der Einfluss der Temperatur. Die Hochrechnungen ergeben bei den niedrigsten beobachteten Temperaturen ein etwa achtfach höheres Risiko, sich mit Grippe zu infizieren.
Was kostet uns der Klimawandel?
„Durch Untersuchungen wie diese können wir jetzt genau beziffern, warum der Klimawandel relevant für die Gesundheit der Menschen ist“, sagt AOK-Nachhaltigkeitsexpertin Baltruweit. In der ärztlichen Praxis sollen die Ergebnisse gezielt genutzt werden, um die Versorgung zu verbessern und individualisierte, risikobasierte Gesundheitsangebote zu erstellen. So profitieren Bevölkerungsgruppen mit einem erhöhten Risiko für einen schweren Influenza-Verlauf in kalten Regionen mit starker Feinstaubbelastung stärker von regelmäßigen Grippeschutzimpfungen und einem gesunden Lebensstil. „Erste Angebote zur klimaresilienten Beratung der Versicherten setzen die Ärztinnen und Ärzte in der Hausarztzentrierten Versorgung seit diesem Jahr um“, so Baltruweit.
Im nächsten Projekt, das auch durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft gefördert wird, geht es um Covid. Die Erkrankung hat Ähnlichkeit zur Grippe. „Eine der Hypothesen ist, dass sich die Abhängigkeit von Umweltstressoren im Laufe der Pandemie vergrößert hat“, sagt Mediziner Rittweger. Die Modelle des Robert Koch-Instituts zu den Erkrankungswellen könnten also um die Fragestellung ergänzt werden: Wie verändert sich die Vulnerabilität der Menschen bei schlechter Luftqualität? „Es gibt erste Hinweise darauf, dass sie sich leichter anstecken, wenn die Atemwege schon geschwächt sind“, so Bittner. Mit dem Wissen, dass eine schlechtere Luftqualität mehr Erkrankungen nach sich zieht, können das Pandemiemanagement intelligenter und Lockdowns fokussierter eingesetzt werden. Perspektivisch lässt sich so auch planen, wo welche Versorgungsstrukturen gebraucht werden.
Die Gesundheitsversorgung stabiler aufzustellen, ist das eine. „Viel wichtiger noch ist es für uns als Krankenkasse, dass die Menschen gar nicht erst krank werden“, sagt AOK-Experte Antoni. Die Studienergebnisse dienen auch der Konzeption von Präventionsmaßnahmen. Wichtig ist, das gewonnene Wissen breit zu streuen. Gut informierte Versicherte sind die Basis für eine gesündere Bevölkerung. „Wir haben begonnen über die Ergebnisse unserer Kooperation mit all unseren Partnerinnen und Partnern zu sprechen“, sagt Baltruweit. Nicht nur im Gesundheitssektor, sondern auch in der Politik und in den Kommunen. Gerade in der Städteplanung steckt viel Potenzial. Zum Beispiel mit Blick auf den Hitzeschutz. Der Einfluss hoher Temperaturen auf die Gesundheit ist eine weitere Fragestellung, der sich DLR und AOK zuwenden. Daneben auch die Entwicklung der Gesundheitskosten. Der Anfang ist gemacht, die Zusammenarbeit von Wissenschaft und Krankenkasse hat gerade erst begonnen.