Messen und meistern

Im Kampf gegen Antibiotikaresistenzen integriert die AOK-Gemeinschaft Nachhaltigkeitskriterien in ihre Arzneimittelausschreibungen – und hält deren Umsetzung in einer viel beachteten Studie fest.

In Berlin stellten die AOK Baden-Württemberg und ihre Partner Ende 2023 die Ergebnisse ihrer Studie vor.

Manchmal muss man sich im Dienst der guten Sache auch durch den Müll anderer wühlen. Im Fall von Tim aus der Beek ist es das Abwasser anderer. Er ist Bereichsleiter beim IWW Institut für Wasserforschung. Seit 2020 prüfen sein Team und er im Auftrag der AOK-Gemeinschaft Produktionsabwässer von Pharmaunternehmen, die Antibiotika herstellen. Die produzierenden Firmen haben dem zugestimmt, als sie mit der Gesundheitskasse Arzneimittelrabattverträge über die Lieferung von antibiotisch wirkenden Medikamenten schlossen. „Jetzt haben wir uns in Indien, China, aber auch in europäischen Ländern wie Italien und Spanien angeschaut, ob sich die Hersteller dabei an die vereinbarten Umweltkriterien halten, also vor allem, ob Wirkstoffe im Produktionsabwasser nicht über einem bestimmten Schwellenwert liegen“, sagt Tim aus der Beek.

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) warnt, dass Antibiotikaresistenzen die Behandlung einer wachsenden Anzahl von Infektionen gefährden und weltweit zu einer hohen Zahl an vorzeitigen Todesfällen führen. Jährlich sollen es laut WHO fünf Millionen sein. Die Fachwelt macht dafür belastete Produktionsabwässer mitverantwortlich, die Pharmahersteller zum Teil ungehindert in die Umwelt abgeben.

Umweltschutz ist Gesundheitsschutz

„Deswegen haben wir vor mehr als drei Jahren ökologische Kriterien in unsere Arzneimittelrabattverträge aufgenommen, denn Umweltschutz ist Gesundheitsschutz“, sagt Maxana Baltruweit, die bei der AOK den Geschäftsbereich „Gesellschaftliche Verantwortung“ leitet. Die erste Ausschreibung betraf 2020 fünf antibiotische Wirkstoffe. Ob und wie die neuen Kriterien erfüllt werden, wird seitdem in einer Studie festgehalten, für die die Gesundheitskasse mit dem IWW und dem Umweltbundesamt zusammenarbeitet.

Erste Ergebnisse stellten die Partner Ende 2023 in Berlin vor. „An vier der zehn von uns untersuchten Produktionsstätten hat es teils massive Schwellenwertüberschreitungen gegeben. Das ist wirklich besorgniserregend“, sagt Tim aus der Beek. In der Umgebung der Produktionsstätten wurden zudem Umweltproben entnommen. Dabei fanden die IWW-Mitarbeitenden in einem europäischen Bach allein zehn verschiedene Antibiotika. Die Umweltprobe mit der höchsten Überschreitung stammt aus einem Gewässer nahe einer indischen Produktionsstätte, die auch an Viehweiden grenzt. Die Konzentration des Arzneistoffs Azithromycin im Wasser war um 1,6 Millionen Prozent höher als der ökotoxologische Schwellenwert.

Die Hersteller wurden über die Überschreitungen informiert und verbesserten stellenweise ihre Abwassersysteme. Danach haben sich die Werte teils erfreulich entwickelt. „Die Nachhaltigkeitskriterien in den Rabattverträgen leisten also tatsächlich einen Beitrag zum Umweltschutz“, sagt Maxana Baltruweit. Und damit auch zum Schutz der Menschen. Die Studie zeige aber auch, dass die Wirkung des erfolgreichen Instruments der Rabattverträge im Hinblick auf die globalen Herausforderungen bei der ökologischen und sozialen Dimension von Nachhaltigkeit begrenzt ist.

Produktion in Europa stärken

Der Vorstandsvorsitzende der AOK Baden-Württemberg wies daher auf den nationalen und europäschen Handlungsdruck hin. „Es braucht verbindliche Umweltkriterien im EU-Arzneimittelrecht für die Zulassung und Produktion ausgewählter Arzneimittel und einheitliche Kontrollsysteme“, so Johannes Bauernfeind. Zudem müssten durch die Änderung des EU-Vergaberechts Lieferketten stabilisiert und ein Frühwarnsystem für drohende Lieferengpässe etabliert werden. Nicht zuletzt müsse der Produktionsstandort Europa gestärkt werden. Auch Malgorzata Debiak, Leiterin Arzneimittel beim Umweltbundesamt, sieht die gesetzlichen Vorgaben als nicht ausreichend an. Sie forderte eine stärkere Bereitschaft, ökologische Nachhaltigkeit in der Gesetzgebung mitzudenken. „Wenn wir für Standards in Produktionsstätten kämpfen, dann um die Wirksamkeit der Antibiotika zu erhalten“, sagte Debiak bei der Vorstellung der Studie in Berlin. „Wir haben viel zu spät erkannt, dass Arzneimittel ein Problem darstellen. Es ist jetzt fünf vor zwölf, wir müssen aufwachen und uns um die Umwelt im Hinblick auf Arzneimittel kümmern.“

Deswegen ist es ein Erfolg, dass die Studie in Deutschland und darüber hinaus Wellen geschlagen hat. „Der Branchenverband Pharma Deutschland setzte sich im Rahmen eines Fachbeitrags mit unseren Ergebnissen auseinander und präsentierte eigene Lösungsvorschläge“, berichtet AOK-Pressereferent Stephan Jaroschek. „Wir konnten unseren Ansatz beim AMR One Health Network der EU-Kommission vorstellen, der europäischen Initiative zur Bekämpfung von Antibiotikaresistenzen. Auch im wissenschaftlichen Rahmen werden die Beobachtungen und Lösungsansätze bei großen und wichtigen Branchen-Kongressen, wie der SETAC Europe oder der CleanMed Europe, diskutiert.“

Mittlerweile listet das Bundesministerium für Gesundheit die Studie sogar als eine offizielle Maßnahme der Deutschen Antibiotika-Resistenzstrategie (DART 2030). Jetzt ziehen weitere Krankenkassen nach und verankern in ihren Ausschreibungen ebenfalls Nachhaltigkeitskriterien.

Wissentransfer rettet Leben

„Wir wollen auf gesellschaftlicher und politischer Ebene dafür sensibilisieren, wie wichtig die Eindämmung von Antibiotikaresistenzen ist, und sind sehr aktiv dabei, Gespräche mit Stakeholdern zu führen“, sagt Vorstandsvorsitzender Bauernfeind, der zu diesem Thema auch als Sachverständiger beim Gesundheitsausschuss des Bundestages gehört wurde. Gleichzeitig entwickelt die AOK Baden-Württemberg die Arzneimittelrabattverträge mit Nachhaltigkeitskriterien weiter. Auf diesem Weg erreichen die AOK und ihre Partner noch mehr Produzenten, mit denen sie über die Herstellung vor Ort ins Gespräch kommen können, um direkte und kurzfristige Veränderungen zu erzielen.

„Einige Produzenten wussten gar nicht, welche Werte ihre Abwässer aufweisen, weil es in ihrer Region kaum Messlabore dafür gibt. Manche Hersteller haben sich überhaupt das erste Mal mit der guten oder schlechten Funktionsweise ihrer Abwassertechnologie beschäftigt“, berichtet IWW-Experte Tim aus der Beek, der jetzt sich und sein Team für die nächste Untersuchungsrunde bereit macht. „Wenn wir hier das Wissen über eine korrekte Abwasserbehandlung und -entsorgung vermitteln, können wir die Umwelt vor Ort und die regionale Bevölkerung schützen.“ Und am Ende auch die Antibiotikaresistenzen eindämmen.