Neues Pflegekonzept im Hochrhein: Mehr Zeit, mehr Lachen
Die Caritas in Wehr im Südwesten Baden-Württembergs hat ein neues Pflegemodell entwickelt, mit dem mehr Zeit für die individuelle Betreuung der Patientinnen und Patienten bleibt – und das die Gesundheitskasse mit Freude unterstützt.
Zielstrebig setzt Therese Heinig einen Fuß vor den anderen und marschiert mit ihrem Rollator Runde um Runde durch die kleine Gartenanlage der Tagespflegeeinrichtung in Wehr-Öflingen. Beim gemeinsamen Spazierengehen mit Pflegerin Sarah Neudecker von der Caritas-Sozialstation St. Martin strahlt die 90-Jährige über das ganze Gesicht und freut sich über die vielen leuchtend blühenden Blumen im Garten. Die Sonne scheint und die Seniorin genießt sichtlich die Momente mit ihrer jungen Pflegekraft. „Es ist schön, auch Zeit zum Reden und zum gemeinsamen Lachen zu haben“, sagt Therese Heinig und drückt lächelnd Sarah Neudeckers Hand. Die beiden kennen sich schon eine Weile. Seit 2021 ist Therese Heinig Patientin der Sozialstation St. Martin der Caritas und wird an zwei Tagen pro Woche in der Tagespflege St. Elisabeth betreut, die ebenfalls zur Caritas gehört. Dabei bekommt sie täglich Unterstützung von Sarah Neudecker – im Haushalt, beim Baden, bei der Einnahme von Medikamenten oder beim An- und Ausziehen der Kompressionsstrümpfe.
Früher, erzählt Sarah Neudecker, sei ihr Job oft mit Zeitdruck verbunden gewesen. Denn die ambulante Pflege wird bislang bei der Pflegeversicherung in Leistungsmodulen abgerechnet. Zur Auswahl gibt es 22 Module, zum Beispiel die „große Körperpflege“, die festgelegte Leistungen, wie etwa Hilfe beim Duschen, Anziehen oder Zähneputzen, umfasst – unabhängig davon, ob die Patientin oder der Patient wirklich bei alldem Unterstützung braucht. Für jedes Modul wird ein fixer Betrag von der Pflegekasse gezahlt. Und unabhängig davon, wie viel Zeit tatsächlich gebraucht wird, kann immer nur der gleiche Betrag in Rechnung gestellt werden. Das führt häufig dazu, dass Pflegekräfte immer schneller arbeiten müssen, um ihr Pensum in möglichst kurzer Zeit zu schaffen.
Zeit für individuelle Betreuung
Doch gerade in der Pflege ist Zeit ein wertvolles Gut. Deshalb wollte das Team der Sozialstation St. Martin der Arbeitsverdichtung einen Riegel vorschieben und hat ein Konzept mit dem Namen „IstZeitPflege“ entwickelt, bei dem die tatsächliche Zeit abgerechnet wird, die eine Pflegefachkraft bei einem Patienten oder einer Patientin verbringt. Muss jemand zum Beispiel nur geduscht und gekämmt werden, kann sich aber allein die Zähne putzen, wird auch nur die zur Hilfe benötigte Zeit berechnet. Die Pflegefachkräfte entscheiden dann eigenverantwortlich und in Abstimmung mit der Patientin oder dem Patienten, welche Leistungen benötigt werden. „Da können wir zum Beispiel bei schönem Wetter auch mal sagen, wir verzichten auf die Dusche und machen stattdessen einen kleinen Spaziergang durch den Garten oder sprechen über die Sorgen der Patienten“, sagt Sarah Neudecker. Patientinnen und Patienten sowie deren Angehörige könnten je nach Tagesform mit den Pflegerinnen und Pflegern entscheiden, wie viel Zeit bei einem Besuch benötigt und was gemacht wird, so Neudecker. „Wir können jetzt viel individueller auf jeden Einzelnen eingehen. Nach dem alten Modell ging so was nicht.“
Wertschätzung für Pflegekräfte
Um die Idee der zeitbezogenen Pflege umzusetzen, ist der Caritasverband Hochrhein in Einzelverhandlungen mit der AOK Baden-Württemberg eingestiegen. 2019 erprobte man das neue Pflegekonzept zunächs in der Sozialstation St. Martin in Wehr und in der Sozialstation Dreisamtal in Kirchzarten, 2022 kamen drei weitere Sozialstationen der Caritas hinzu. Allein in Wehr betreuen die Pflegekräfte der Caritas aktuell rund 120 Patientinnen und Patienten nach dem Konzept der „IstZeitPflege“. Nun wird die Pflege dort nicht mehr nach vorgeschriebenen Leistungspaketen, sondern nach eigenen Schwerpunkten gelebt, die es erlauben, besser auf die Bedürfnisse Pflegebedürftiger einzugehen. „Dadurch können die Pflegekräfte jetzt das tun, was aus fachlicher Sicht notwendig ist“, erklärt Rolf Steinegger, Vorstand des Caritasverbands Hochrhein. „Das ermöglicht den Pflegekräften ein selbstbestimmtes Arbeiten und steigert auch die Attraktivität des Pflegeberufs.“
„Die Zufriedenheit der Pflegekräfte steigt deutlich.“
Caritas-Pflegedienstleiterin in Wehr
Das kann Jessica Bittner, Pflegedienstleiterin der Caritas-Sozialstation in Wehr, aus eigener Erfahrung bestätigen. „Mit dem neuen Konzept steigt die Zufriedenheit der Pflegekräfte deutlich. Es gibt kein Durchhetzen mehr“, so Bittner. „Jetzt haben wir auch Zeit, den Angehörigen Dinge zu erklären oder sie zu schulen. Das ging früher nur außerhalb der Pflegezeiten.“ Auch Peter Schwander, Geschäftsbereichsleiter der Sozialstation St. Martin, glaubt, dass die „IstZeitPflege“ dabei hilft, dringend benötigte Pflegekräfte zu finden und zu halten. „Wir wollten attraktive Arbeitsplätze bieten, in denen die Menschen bis zur Rente arbeiten können und Freude an ihrem Beruf haben“, sagt er.
Zwar habe der Tag auch mit dem neuen Abrechnungsmodell nicht mehr als 24 Stunden, die Zeit werde also nicht mehr. „Aber durch die freiere Ausgestaltung wird die Zeit einfach passgenauer verteilt“, so Schwander. „Das ist auch ein Vorteil für die Patienten.“ Teurer wird es für die Patientinnen und Patienten durch das neue Modell nicht, denn der Stundensatz ist mit den Pflegekassen ausgehandelt. Für einige Patienten wird es sogar günstiger, wenn die Pflegekräfte durch die passgenaue Pflege weniger Zeit benötigen, als es in den Pflege-Modulen der Fall war.
Bundesweite Aufmerksamkeit
Das Modell der Caritas hat mittlerweile bundesweit für Aufsehen gesorgt. Im Bundesgesundheitsministerium verfolge man die aktuellen Entwicklungen, und auch Hochschulen aus ganz Deutschland zeigten Interesse, so Rolf Steinegger. Schließlich habe jeder Pflegedienst, der in Einzelverhandlungen mit den Pflegekassen trete, die Möglichkeit, ebenfalls nach dem neuen Abrechnungsmodell zu arbeiten. Dem Beispiel der Sozialstation in Wehr folgen in Baden- Württemberg bereits zehn ambulante Pflegedienste. „Das Potenzial, das Konzept auch bundesweit auszurollen, ist da“, meint Rolf Steinegger. „Aber dafür braucht es geeignete Partner.“ Deshalb, ergänzt Peter Schwander, wende man sich nun auch verstärkt an die Politik und stelle das Konzept an verschiedenen Stellen vor. „Wir möchten gerne in den nächsten Jahren noch weitere Sozialstationen oder Pflegedienste gewinnen, die das Modell leben – und zeigen, dass man gemeinsam etwas voranbringen kann.“
„Pflegekräfte tun, was aus fachlicher Sicht notwendig ist. Das ermöglicht ein selbstbestimmtes Arbeiten und steigert die Attraktivität des Pflegeberufs.“
Vorstand des Caritasverbands Hochrhein
Auch Therese Heinig ist froh, dass es die „IstZeitPflege“ gibt und ihre Pflegerin Sarah Neudecker sich ihre Zeit freier einteilen kann. Denn dadurch bleibt nicht nur mehr Raum für Gespräche oder kleine Scherze, sondern auch für ein entspanntes Bad. „Ich bade unheimlich gerne, und Sarah nimmt sich immer die Zeit, mir dabei zu helfen“, sagt die 90-Jährige freudig und lässt den Blick in den sonnenbeschienenen Garten schweifen. „Aber jetzt möchte ich gerne noch ein paar Runden spazieren gehen.“ Und schon greift Therese Heinig nach den Griffen ihres Rollators, dreht sich um – und marschiert mit Sarah Neudecker davon.
Standpunkt
Jeden Tag lesen wir vom Fachkräftemangel in der Pflege. Und trotzdem wird zu wenig dagegen getan. Zu viele Pflegekräfte geben ihren Beruf wieder auf, weil sie nicht so arbeiten können, wie sie es gelernt haben. Ihnen fehlt die nötige Zeit für die Patienten und die Möglichkeit, Dinge selbst zu entscheiden. Die Arbeitsbedingungen für Pflegekräfte müssen andere werden. Hier bietet die „IstZeitPflege“ eine Antwort. Die Menschen, die nach diesem Konzept arbeiten, sind wesentlich zufriedener im Beruf – und sie bleiben es auch. Daher ist die „Ist- ZeitPflege“ eine gute Möglichkeit, den Beruf attraktiver zu machen. Das ist für unsere alternde Gesellschaft von enormer Bedeutung. Die AOK Baden-Württemberg hat mit der Ermöglichung und Mitentwicklung des neuen Pflegekonzepts eine wichtige Aufgabe übernommen. Damit zeigen wir abermals auf, dass wir gesellschaftliche Verantwortung übernehmen. Aber es muss mehr passieren: Politik, Kommunen und Gesellschaft müssen sich ebenfalls ihrer Verantwortung für die Älteren bewusster werden und gemeinsam mit den Kommunen müssen individuelle Wege gefunden werden, wie alte Menschen etwa zum Facharzt kommen oder Medikamente erhalten. Hier kann und will die AOK Baden-Württemberg Kommunen bei der Entwicklung von Ideen unterstützen. Aber auch der Gesetzgeber ist gefragt: Gesundheit und Pflege müssen endlich zusammen gedacht werden.