Quantensprung über Sektorengrenzen
Beim Pilotprojekt SAHRA nutzen Städte und Gemeinden Pflegekennzahlen zur Sozialraumplanung, die auf Daten der AOK Baden-Württemberg basieren. Wie dieser neue Blick die Versorgung von Menschen verbessert, zeigt das Gesundheitsnetz Heuberg auf der Schwäbischen Alb.
Mehrmals wöchentlich steigt Katharina Hafen die Treppe in den Keller hinunter, wo sich die Waschküche befindet. Noch nie ist etwas passiert. Dabei wohnen sie und ihr Mann schon mehr als sechs Jahrzehnte in dem Häuschen in Wehingen, einer Gemeinde auf dem Großen Heuberg inmitten der Schwäbischen Alb. Katharina Hafen ist 83 Jahre alt, aber das merkt man ihr nicht an. Sie putzt, wäscht, kümmert sich um den Garten. Zum Supermarkt fährt sie mit ihrem Auto. „Immer unfallfrei“, erzählt sie stolz. An einem Montag im April läuft sie ins Untergeschoss, stolpert und stürzt. Rettungssanitäter fahren sie nach Tuttlingen. In der Klinik diagnostizieren die Ärzte unter anderem eine Beinfraktur. Es folgen Operation, Reha, und zwei Wochen später naht der Entlassungstag. Eigentlich eine gute Nachricht.
Doch besonders für ältere Menschen kann sich der Umzug vom Krankenhausbett in die eigenen vier Wände schnell in einen Hindernislauf verwandeln. Fühlen sie sich in der geschützten Klinikumgebung noch stark genug, ihren Alltag zu bewältigen, geraten sie zu Hause an ihre Grenzen. Katharina Hafen wird in den kommenden Wochen hinter einem Rollator laufen. Treppensteigen, Taschen tragen – alles tabu. Deshalb hat ein Krankenhausmitarbeiter noch vor ihrer Entlassung Veronika Hermle-Wehl kontaktiert. Die examinierte Krankenschwester hat viele Jahre ein Altenpflegeheim geleitet. Seit 2023 ist sie Patientenlotsin der gemeinnützigen Genossenschaft Gesundheitsnetz Heuberg.
„Ich möchte, dass die Menschen so lange wie möglich im eigenen Heim leben können und mit meiner Arbeit gleichzeitig die Angehörigen entlasten“, sagt Veronika Hermle-Wehl. Auf Wunsch besucht sie erkrankte oder pflegebedürftige Menschen, beurteilt die häusliche Situation, fragt nach Wünschen, kontaktiert Ärzte und Kassen, organisiert Hilfe. Für Patienten ist dieses Angebot kostenlos.
An diesem Dienstagnachmittag klingelt sie an der Tür von Katharina Hafen. „Ich konnte einiges erledigen“, sagt Hermle-Wehl, legt einen Stapel Papiere auf den Tisch und fügt hinzu: „Hier ist das Rezept für ihre Physiotherapie.“
„Kann der Therapeut zu mir nach Hause kommen?“, fragt Katharina Hafen.
„Das habe ich geklärt, das macht er.“
„Ab wann kann er kommen?“
„Ich rufe ihn gleich an, vereinbare Termine.“
„Was ist mit der Lymphdrainage?“
„Hier ist das Rezept, ebenfalls für Hausbesuche.“
Eine Stunde lang unterhalten sich Patientin und Patientenlotsin. Veronika Hermle-Wehl berichtet, was sie bislang erreicht hat: Eine Arzthelferin wird regelmäßig vorbeischauen, um die Blutwerte zu kontrollieren, denn Katharina Hafen leidet unter Elektrolytmangel. Deshalb hat Hermle-Wehl bei der AOK bereits die Teilkostenübernahme für eine Ernährungstherapie beantragt. Katharina Hafen sagt: „Ich bin froh, dass Sie sich kümmern.“
Vier Stunden zuvor, 25 Kilometer südlich von Wehingen: In einer Außenstelle des Landratsamtes Tuttlingen schaltet Marianne Thoma ihren Rechner ein. Seit Januar 2015 leitet sie hier die Fachstelle für Pflege und Selbsthilfe. „Meine Aufgabe ist es, Kommunen beim Aufbau von Versorgungskonzepten zu beraten“, erzählt sie. Marianne Thoma analysiert, konferiert, koordiniert; kennt sich aus im Labyrinth der Sozialgesetzbücher und Förderprogramme. „Was brauchen wir, um eine wohnortnahe Versorgung sicherzustellen?“, lautet ihre Leitfrage. Besonders in ländlichen Gegenden fehle es oft an Angeboten. „Deshalb sind Projekte wie das Gesundheitsnetz Heuberg so wichtig.“ Seit einigen Monaten hat Marianne Thoma ein besonderes Werkzeug, das sie bei ihrer Arbeit unterstützt, und an diesem Morgen demonstriert sie, was ihr Helfer kann.
Lotsin durch das Datenmeer
Kurz nach acht Uhr ist der Computer startklar und auf dem Bildschirm erscheint eine topografische Karte des Landkreises Tuttlingen. Aus einem Menü kann sie jede Menge Daten ablesen. Darunter, wie viele Menschen derzeit ambulant oder stationär gepflegt werden, wie viele Patienten Kurzzeit- oder Verhinderungspflege beanspruchen und welche Krankheiten bei Betroffenen diagnostiziert wurden. Insgesamt 38 Pflegekennzahlen, filterbar nach Altersgruppen, Geschlecht und Pflegegraden, abbildbar bis hinunter auf die kommunale Ebene. Marianne Thoma führt mit der Computermaus über den Umriss des Ortes Wehingen. Die Angabe „226 Pflegebedürftige“ erscheint. Was nützt ihr dieses Wissen?
Marianne Thoma klickt weiter, verändert Filtereinstellungen und zeigt auf den Monitor. In drei Gemeinden im Norden ist die Zahl von Menschen zwischen 30 und 60 Jahren mit diagnostizierter Depression vergleichsweise hoch. Ein ähnliches Bild bei Herzinsuffizienzen. Damit steigt die Wahrscheinlichkeit, dass wir dort in den kommenden Jahren mehr Pflegebedürftige mit Alzheimer oder kardiovaskulären Einschränkungen haben als anderswo“, sagt Thoma. Bislang existieren in der Gegend aber kaum Betreuungsangebote. „Deshalb müssen wir jetzt beginnen, Versorgungsnetzwerke aufzubauen.“ Möglich macht diese Form der Sozialraumplanung SAHRA – das Programm auf Marianne Thomas Computer.
„Wir müssen jetzt beginnen, Versorgungsnetzwerke aufzubauen.“
Leiterin der Fachstelle Pflege und Selbsthilfe im Landratsamt Tuttlingen
Die Neuordnung der Daten
SAHRA – ein Akronym für Smart Analysis Health Research Access – ist in Baden-Württemberg ein Pilotprojekt, hervorgegangen aus einem Modellversuch des Bundeswirtschaftsministeriums. Bislang ist es für Städte und Kommunen aufwendig, an fundierte Informationen zur Versorgungsplanung zu gelangen. Zwar existiert zumindest teilweise entsprechendes Zahlenmaterial beim Statistischen Landesamt, doch diese Daten sind oft veraltet und müssen zeitintensiv aus langen Tabellen extrahiert werden. SAHRA beruht auf aktuellen und präzisen Abrechnungsdaten aus der Pflegeversicherung. Die liefert – anonymisiert – die AOK Baden-Württemberg. In der Stuttgarter Zentrale der Gesundheitskasse kümmert sich Karin Gaiser um SAHRA. Die AOK-Spezialistin für ganzheitliche Gesundheitsberatung sagt: „Nur mit einer vernünftigen datenbasierten Bedarfsermittlung kann zukünftig eine funktionierende gesundheitliche und pflegerische Versorgung neu aufgestellt werden.“ Mitte Juni besuchte Karin Gaiser einen Nutzer-Workshop. „Von den Vertretern aus 25 Kommunen bekam ich nur positive Rückmeldungen“, erzählt sie, „einige Teilnehmerinnen und Teilnehmer sprachen von einem Quantensprung in der Sozialraumplanung.“
„Nur mit einer datenbasierten Bedarfsermittlung kann eine funktionierende gesundheitliche und pflegerische Versorgung neu aufgestellt werden.“
Die Datenbank erstellt hat „data experts“, ein mecklenburgisches Unternehmen, in dessen Berliner Niederlassung Mitarbeiter die Daten der AOK mit der Pflegestatistik, Bevölkerungsdaten und regionalisierten Bevölkerungsvorausberechnungen des Statistischen Landesamtes verarbeiten. Katja Hodeck, Referentin für Versorgungsforschung bei „data experts“, sagt: „Erst die gute Zusammenarbeit mit der AOK, die uns Kontakte zu allen pflegerelevanten Akteuren vermittelt hat, ermöglichte es uns, SAHRA umzusetzen.“ An einem Dienstagmorgen sitzt sie mit Softwareentwickler Benjamin Springborn im Konferenzraum der Firma. In den kommenden zwei Stunden zeigen sie, welch großer Aufwand hinter SAHRA steckt.
Zunächst müssen Springborn und seine Kollegen Daten aus verschiedenen Datenquellen in ein einheitliches System integrieren. „Oft benötigen wir weitere Angaben, stellen deshalb detaillierte Anfragen an Statistische Landesämter.“ Im nächsten Schritt erstellt er auf Basis von Bevölkerungsvorausberechnungen des Statistischen Landesamtes Bevölkerungsprognosen. Springborn klickt auf den Landkreis Tuttlingen: 7.815 Pflegebedürftige. Dann wandert er mit der Computermaus Richtung Zukunft, stoppt im Jahr 2030: 8.400 Pflegebedürftige. „Ein wichtiges Tool, um Trends zu erkennen“, sagt Springborn. Zuletzt visualisieren er und seine Kollegen die Datenbanken, verwandeln das riesige Zahlenmeer in eine anwenderfreundliche Benutzeroberfläche. „Mir gefällt, dass wir eine Arbeit machen, die gesellschaftliche Relevanz hat“, sagt Benjamin Springborn am Ende des Gesprächs.
780 Kilometer südwestlich von Berlin, im Landratsamt Tuttlingen, schaltet Marianne Thoma ihren Computer aus, verlässt das Büro und steigt ins Auto. Sie möchte an diesem Tag Vertreter des Gesundheitsnetzes Heuberg besuchen, die derzeit neben dem Projekt Patientenlotsin ein zweites, noch größeres Vorhaben realisieren. Ein halbe Stunde später parkt sie ihren Wagen vor dem Rathaus in Bubsheim.
Im Rathaus wartet Thomas Leibinger, seit 2012 Bürgermeister der Gemeinde. Zunächst schildert er sein Problem. „Wir haben hier einen Hausärztemangel und die Hälfte der praktizierenden Ärzte ist um die 60.“ Gleichzeitig wachse die Gemeinde, ziehen Familien mit Kindern in den Ort. Deshalb beschloss Bubsheim den Bau eines Medizinischen Versorgungszentrums (MVZ) und startete eine bundesweite Werbekampagne mit YouTube-Videos. „Die Bürger von Bubsheim suchen einen Landarzt“, lautet der Titel eines Clips, in dem Einwohnerinnen und Einwohner von der landschaftlich schönen Region schwärmen. Mit Erfolg.
Ein Kinderarzt aus Hannover wird künftig in Bubsheim praktizieren, eine neue Hausärztin ist schon seit Januar vor Ort. Bis das MVZ eröffnet, behandelt sie im Rathaus. Thomas Leibinger hat für sie seine Amtszimmer geräumt, in eine Praxis umbauen lassen und ist mit seinen Mitarbeiterinnen in den Ratssaal gezogen, den sie zu einem provisorischen Großraumbüro umfunktioniert haben. An diesem Tag will er die Fortschritte am MVZ-Bau zeigen. Zusammen mit Landratsamtmitarbeiterin Marianne Thoma fährt er ans andere Ende von Bubsheim.
„Der Überblick über die Pflegesituation im Landkreis hilft uns extrem weiter.“
Bürgermeister von Bubsheim
Hausmittel gegen Ärztemangel
Auf der Baustelle herrscht Hochbetrieb. Handwerker entladen, montieren, putzen. Thomas Leibinger eilt durch die Räume, zeigt nach links, zeigt nach rechts, zeigt nach oben; erklärt, was in wenigen Wochen zu sehen sein wird, wo sich heute noch Kabel über Fußböden schlängeln und Baumaschinen den Weg versperren: Wartezimmer, Wartezimmer für infektiöse Kinder, Behandlungsräume für den Kinderarzt, Behandlungsräume für zwei Allgemeinärzte, Impfraum, EKG-Raum, Schockraum mit Rettungswagenzufahrt, Pausenhof fürs Personal, Büros, Duschen, Schulungsräume. Wie stemmt man als kleine Gemeinde ein solches Projekt? „Der Überblick, den Frau Thoma über die Lage im Landkreis hat, hilft uns extrem weiter“, sagt Thomas Leibinger am Ende seiner Tour.
Wenige Kilometer von Bubsheim entfernt verabschiedet sich Patientenlotsin Veronika Hermle-Wehl von Katharina Hafen. Kurz darauf steht schon die nächste Besucherin vor der Tür: eine Mitarbeiterin des örtlichen Nachbarschaftshilfevereins. „Ich kümmere mich um die Wäsche“, sagt die Helferin und steigt die Treppe in den Keller hinunter, in dem die 83-Jährige zwei Wochen zuvor gestürzt ist. Katharina Hafen schaut ihr hinterher und sagt: „Mein größtes Ziel ist, dass ich bald wieder Auto fahren kann.“
Standpunkt
Unsere Ressourcen sind begrenzt. Das heißt, dass wir genau damit planen müssen – gerade in Städten und Kommunen, wo Geld notorisch knapp ist. Projekte wie SAHRA liefern die nötige Datengrundlage. Und die AOK Baden-Württemberg sieht es als ihre Pflicht an, ihre Daten der Gemeinschaft zur Verfügung zu stellen. SAHRA kann auch dazu dienen, dass wir zusammen mit den 44 Stadt- und Landkreisen in Baden-Württemberg eine gemeinsame Denkweise entwickeln, welche Standards notwendig sind. Sozialplanerinnen und -planer können in ihrer Community Wissen teilen und vergrößern.
SAHRA verfolgt einen partizipativen Ansatz und holt viele regionale Akteure mit ins Boot. Das ist auch notwendig. Die Daseinsfürsorge ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Wir müssen das Konzept der „Sorgenden Gemeinschaft“ mit Leben füllen und die Kommunen unterstützen, damit sie ihre Rolle ausfüllen können. Auch darf die AOK nicht die einzige Krankenkasse bleiben, die ihre Daten für eine Verbesserung bestehender Strukturen zur Verfügung stellt. Über-, Unter- und Fehlversorgung anzugehen, darüber wird schon lange gesprochen. Einzelmaßnahmen sind nicht mehr ausreichend, sondern jetzt müssen funktionierende und bezahlbare Systeme mit Blick in die Regionen entwickelt werden.