Große Diskrepanz zwischen Forschungsanspruch und gelebter Wirklichkeit
Das Corona-Virus hat durch den Übergang in die Endemie zwar seinen Schrecken verloren, doch die Erkrankung wirkt noch lange nach. Post Covid und Long Covid gehen für Erkrankte teils mit erheblichem Leid einher und stellen das Gesundheitssystem vor große Herausforderungen. Hinzu komme, dass Gesundheitsdaten nicht gesammelt und systematisch ausgewertet worden seien, erläutert Dr. Martin Roesler aus dem Stab Medizin im AOK-Bundesverband.
Herr Dr. Roesler, warum ist es so schwer, diese Daten für die Forschung zu nutzen, damit letztendlich Menschen von einer besseren medizinischen Versorgung profitieren können?
Roesler: In Deutschland besteht eine große Diskrepanz zwischen Forschungsanspruch und gelebter Wirklichkeit. In der Pandemie wurden zwar wichtige Erkenntnisse bei der Grundlagenforschung gewonnen. Gleichzeitig ist zu bemängeln, in welch geringem Maße Gesundheitsdaten gesammelt und systematisch ausgewertet wurden. Deutschland tut sich sehr schwer mit Nutzung der digitalen Möglichkeiten. Das Land war während der Pandemie vielfach abhängig von Forschungsergebnissen insbesondere aus Ländern wie Israel, Großbritannien und Dänemark.
Wie könnte der Ausweg aussehen, auch im Hinblick auf künftige Krisen oder Pandemien?
Roesler: Solange es in Deutschland keine Institution gibt, die alle Gesundheitsdaten erfasst und eine systematische Auswertung vornimmt, sollte den gesetzlichen Krankenkassen Die 97 Krankenkassen (Stand: 26.01.22) in der gesetzlichen Krankenversicherung verteilen sich auf… ermöglicht werden, die Covid-19-Melde- und -Impfdaten ihrer Versicherten mit auszuwerten. Damit könnte – im Vergleich zu den amtlichen Strichlisten – zuverlässiger ermittelt werden, wie viele Menschen in Deutschland wie häufig geimpft sind, eine oder mehrere Corona-Infektionen mit welcher Variante durchgemacht haben, sowie wie häufig Long Covid beobachtet werden kann. Auf diese Weise könnten mit geringen Kosten wichtige Erkenntnisse gewonnen werden, die dazu beitragen, Menschenleben zu retten.
Gleichzeitig wäre es wünschenswert, dass sich die Begleitforschung bei der Versorgung neuer Erkrankungen stärker an der Ergebnisqualität orientiert, also am tatsächlichen Nutzen für die Betroffenen. Hierzu sind regelhaft Kontrollgruppen notwendig. Die finanziellen Mittel sollten nur dann für die Versorgung zur Verfügung gestellt werden, wenn eine hochwertige Begleitforschung sichergestellt ist. Ob zum Beispiel eine Rehabilitation Die Weltgesundheitsorganisation versteht unter Rehabilitation alle Maßnahmen, die darauf abzielen,… den Betroffenen nutzt, kann nicht darüber ermittelt werden, ob die Symptome bei der Entlassung besser sind, als bei der Aufnahme. Der Nutzen wird nur dadurch deutlich, dass eine vergleichbare Gruppe sich ohne Rehabilitation nicht in dem gleichen Ausmaß bessert. Wäre die Besserung in beiden Gruppen gleich, wäre der Gesundheitsgewinn der Rehabilitation lediglich der natürliche Verlauf.
Lassen Sie uns noch mal zu Corona und den Langzeitfolgen zurückkehren. Oft werden die Begriffe „Long COVID“ und „Post COVID“ in einem Atemzug genannt. Worin unterscheiden sie sich?
Roesler: Covid-19-Folgeerkrankungen werden aktuell vornehmlich nach der Dauer der anhaltenden Beschwerden klassifiziert. Beschwerden, die länger als vier Wochen nach Covid-19-Diagnose andauern, werden als Long Covid, Beschwerden länger als zwölf Wochen als Post Covid bezeichnet.
Handelt es sich bei Long Covid um ein eigenständiges Krankheitsbild?
Roesler: Es ist davon auszugehen, dass Covid-19 über verschiedene Krankheitsmechanismen unterschiedliche Folgeerkrankungen auslösen kann. Sinnvollerweise sind mindestens vier verschiedene Patientengruppen zu unterscheiden, also Menschen mit einer organspezifischen Erkrankung, mit Myalgischer Enzephalopathie/Chronischem Fatigue-Syndrom (ME/CFS), mit Postintensivmedizin-Syndrom (PICS) sowie eine Gruppe mit psychosomatischen/psychiatrischen Beschwerden.
Das Krankheitsbild des einzelnen Patienten kann jedoch auch eine Mischung aus den verschiedenen Gruppen sein. Nachzulesen auch im von mir verfassten Artikel in der G+G Wissenschaft Ausgabe 1/2023.
Was lässt sich drei Jahre nach Ausbruch der Corona-Pandemie zur Häufigkeit von Long COVID sagen?
Roesler: Die Weltgesundheitsorganisation Die WHO ist eine Sonderorganisation der Vereinten Nationen, die als Koordinationsbehörde der… (WHO) schätzt, dass Long Covid bei 10 bis 20 Prozent aller mit Covid-19 Infizierten auftritt. Das Robert-Koch-Institut zitiert eine Übersichtsarbeit, wonach die Häufigkeit bei 7 bis 41 Prozent liegt. Diese Zahlen sind zu hoch gegriffen, weil diese Studien systematischen Verzerrungen unterliegen. Einerseits wird die Zahl der Infizierten unterschätzt, insbesondere aufgrund symptomloser Verläufe. Vielfach werden aber auch nicht korrigiert Symptome erfasst, die bereits ohne akute Infektion mit hoher Prävalenz ist eine Messgröße aus der Epidemiologie, die die Häufigkeit einer Krankheit zu einem bestimmten… in der Bevölkerung vorhanden sind, wie Erschöpfung, Angststörungen, Schlafstörungen und Schmerzen. Die Auswertungen der AU-Zahlen des WIdO Das WIdO (Wissenschaftliches Institut der AOK) liefert als Forschungs- und Beratungsinstitut der… zeigen, dass etwa ein Prozent der arbeitenden Bevölkerung im Zusammenhang mit Post Covid arbeitsunfähig geschrieben wurde.
In den Medien sorgen immer wieder Berichte für Aufmerksamkeit, in denen Betroffene schildern, mit ihren Beschwerden nicht ernst genommen zu werden. Dadurch entsteht der Eindruck, dass es eine hohe Dunkelziffer an Long-Covid-Erkrankungen geben könnte. Wie bewerten Sie dies?
Roesler: Aktuell wird in Deutschland ein Bild von Long Covid gezeichnet, in dem bei der Frage nach der Häufigkeit auch leichte Symptome wie anhaltender Husten gezählt werden, und gleichzeitig schwer beeinträchtigte Menschen mit Bettlägerigkeit und schwerer Erschöpfung als das klinische Erscheinungsbild wahrgenommen werden. Dieses Narrativ der schweren Erkrankung mit sehr hoher Häufigkeit ist durch die Daten nicht zu rechtfertigen. Richtig ist: Nachdem große Teile der Bevölkerung bereits infiziert waren, gibt es einerseits einige Millionen Betroffene mit häufig geringen selbstlimitierenden Beschwerden über vier Wochen und andererseits wenige Zehntausend Betroffene, die akut schwer und längerfristig erkrankt sind.
Als praktizierender Facharzt für Anästhesie und Intensivmedizin kennen Sie schwere Covid-19-Verläufe. Wie ist der Stand bei Therapie und Rehabilitation?
Roesler: Es gibt keine Therapien bei Long Covid mit gesicherter Wirksamkeit. Deshalb besteht erheblicher Forschungsbedarf bei der Diagnose und Therapie. Rehabilitationsmaßnahmen werden zwar häufig durchgeführt. Das Problem: Die Empfehlungen hierzu beruhen auf Leitlinien werden definiert als systematisch entwickelte Entscheidungshilfen für Ärzte und Patienten, die eine… und nicht auf dem Nachweis eines Nutzens gegenüber dem Spontanverlauf der Erkrankung. Insbesondere bei ausgeprägter Belastungsintoleranz sind sie zudem nur begrenzt indiziert. Das Positive: Bei vielen Betroffenen bessern sich die Beschwerden im Laufe des ersten Jahres. Wichtig ist, die Patientinnen und Patienten beim Selbstmanagement zu unterstützen und eine hausärztliche Versorgung sicherzustellen. Die Allgemeinmediziner können bei medizinischer Notwendigkeit weitere Maßnahmen, insbesondere Rehabilitationen, veranlassen. Es wäre allerdings wünschenswert, diese Maßnahmen durch aussagekräftige Begleitstudien auf ihre Wirksamkeit zu untersuchen.
Sie haben den Long-Covid-Coach, der im September vergangenen Jahres an den Start ging, federführend entwickelt. Das AOK-Internetangebot soll Betroffene und Angehörige beim Umgang mit der Erkrankung unterstützen. Welche Resonanz haben Sie bisher von Betroffenen dazu bekommen?
Roesler: Den Long-Covid-Coach haben wir zusammen mit der Universitätsklinik Heidelberg erstellt. Für den Stab Medizin haben Anja Debrodt und ich die Erstellung maßgeblich betreut. Das Angebot ist unter für alle Interessierten einsehbar. Die Videos und Text gebe Informationen zur Erkrankung, eine Orientierung über geeignete Ansprechpartner im Gesundheitssystem und praktische Übungen für die Betroffenen. Das öffentliche Interesse zu diesem Thema ist groß, sodass wir sofort hohe Aufrufzahlen hatten. Direkt von Betroffenen haben wir bisher zwar wenig Resonanz bekommen, diese viel allerdings sehr positiv aus. Wie die Menschen uns erzählten, ist ihnen die Anerkennung der neuartigen Erkrankung mit ihren Beschwerden und der noch schwierigen Versorgungssituation besonders wichtig.
Das Gesundheitsministerium will ein Programm auflegen, um mögliche Erkrankte nach einer akuten Corona-Infektion besser zu versorgen. Sie vertreten die AOK im ad-hoc Unterausschuss Long Covid des GBA. Arbeiten Sie an diesem angekündigten Programm mit?
Roesler: Wiederum mit meiner Kollegin Anja Debrodt vertreten wir den AOK Die AOK hat mit mehr als 20,9 Millionen Mitgliedern (Stand November 2021) als zweistärkste Kassenart… -Bundesverband in diesem Unterausschuss. Die Arbeit des Ausschusses wurde zu Beginn des Jahres aufgenommen und soll innerhalb eines Jahres ein Ergebnis liefern. Jetzt zu Beginn wurden erstmal Expertinnen und Experten angehört, um eine inhaltliche Grundlage für die weitere Arbeit zu schaffen.
Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach möchte, dass es künftig schneller geht, Long-Covid-Erkrankte zu identifizieren und ihnen zu helfen. Wie schätzen Sie die Chancen ein, dass dies klappt, und was sollten die ersten Schritte zur Realisierung dieses Ziels sein?
Roesler: Zu Beginn dieses Erkenntnisprozesses brauchen wir eine neue Definition des Long-Covid-Erkrankungsbildes. Bisher sind alle Beschwerden, die mutmaßlich auf eine Covid-Infektion zurückzuführen sind und länger als vier Wochen dauern eingeschlossen. Diese Definition ist dermaßen allgemein. Darunter fallen Betroffene mit unterschiedlichsten Krankheitsmechanismen, die dann ganz unterschiedliche Versorgungen brauchen. In der Zukunft sollte sich der Blick der Forschung eher auf bestimmte Symptome wie Belastungsinsuffizienz und kognitive Störungen konzentrieren, bei denen wir aktuell keine Therapien haben, die mit angemessener Evidenz zu einer Besserung des Verlaufs führen. Jetzt werden auch in Deutschland erstmals Studien begonnen, die wichtige Therapiemöglichkeiten wie Immunadsorbtion oder Prednisolontherapie systematisch in Pilotstudien untersuchen. Prednisolon ist ein synthetisches Cortisonderivat, mit breiter klinischer antientzündlicher Anwendung und es gibt Hinweise aus Studien, dass bei einer Teilgruppe von Post-Covid-Betroffenen ein Mangel hiervon vorliegt. Die Immunadsorbtion ist ein Blutwäscheverfahren, bei dem gezielt Antikörper aus dem Blut herausgefiltert werden. Hier gibt es bereits kleine Fallserien, bei denen dieses Verfahren positive Effekte zeigte.
Bis Ende des Jahres soll der GBA-Unterausschuss Konzepte für Diagnose und vernetzte Behandlung von Post-Covid-Patienten erarbeiten. Welche Empfehlungen für die Versorgung von Long-Covid-Erkrankten werden Sie aussprechen? Können Sie schon einen Ausblick geben?
Roesler: Aus meiner Sicht ist es sinnvoll, dass wir für Vertrauen in die bestehenden Versorgungsstrukturen in Deutschland werben. Der Großteil der Long-Covid-Betroffenen erfährt deutliche Linderung im Verlauf des Folgejahres. Solange der Alltag alleine bestritten werden kann, ist hier die Hausärztin oder der Hausarzt der angemessene Ansprechpartner. Bei Vorerkrankungen, die die Lunge und das Herz-Kreislauf-System betreffen, sowie bei bestimmten Warnsignalen sollte immer eine fachärztliche Abklärung erfolgen. Menschen mit schweren akuten Verläufen und fehlendem Symptom Belastungsinsuffizienz profitieren sicherlich von symptomorientierten Rehabilitationsmaßnahmen. Ein Teil der Betroffenen braucht vermutlich vor allem psychologische und psychosomatische Unterstützung. Die Schwerbetroffenen deren Erkrankungsbild in Richtung Myalgische Enzephalopathie/ Chronisches Fatigue Syndrom geht, sollten über die neugegründeten Hochschulambulanzen Ambulanzen, Institute und Abteilungen der Hochschulkliniken erhalten eine Ermächtigung zur… mitbetreut werden. Das ist wichtig, damit die Ambulanzen ihrem Forschungsauftrag nachgehen können und diese Erkrankten schnell von neuen Erkenntnissen profitieren können. Es gibt weder medizinisches Personal noch finanzielle Mittel für Parallelstrukturen im Gesundheitssystem, auch wenn jetzt teilweise versucht wird, mit experimenteller Medizin außerhalb von Studien und Naturheilverfahren ohne Evidenz privatwirtschaftlich gutes Geld zu Lasten der Betroffenen zu machen.
Dr. med. Martin Roesler ist seit vielen Jahren Facharzt Will ein Arzt nach erfolgter Approbation eine Fachgebietsbezeichnung (zum Beispiel Arzt für… für Anästhesiologie, Intensiv- und Notfallmedizin und seit 2021 Epidemiologe.
Seit April 2020 arbeitet er neben seiner klinischen Tätigkeit als Referent im Stab Medizin des AOK-Bundesverbandes. Einer seiner Arbeitsschwerpunkte sind Folgeerkrankungen nach Covid-19.