Interview Gesundheitssystem

„Es fehlt die übergreifende Idee“

07.02.2025 Bernhard Hoffmann 7 Min. Lesedauer

Die Gesundheitspolitik dieser und auch der vorherigen Legislaturperioden ist gekennzeichnet durch eine Vielzahl von Gesetzen. Zugleich mahnen fast alle Beteiligten grundlegende Reformen an. Für den Politikwissenschaftler Nils Bandelow eine nachvollziehbare Forderung. „Es gibt viele tolle Ideen, aber keine Konzepte, die genügend Akteure zusammenbinden, um tragfähige Mehrheiten zu bekommen, um was dauerhaft umzusetzen“, sagte Bandelow der G+G.

Leere Stühle von Bundestag aus der Vogelperspektive
Am 23. Februar ist Bundestagswahl. In welche Richtung wird es danach in der Gesundheitspolitik gehen?

In seiner Amtszeit als Bundesgesundheitsminister verwies Jens Spahn gerne auf die hohe Zahl an Gesetzen, die verabschiedet wurden. Sein Nachfolger Karl Lauterbach steht ihm in der Quantität trotz verkürzter Legislaturperiode kaum nach. Was sagen solche Zahlen über die Gesundheitspolitik aus?

Nils C. Bandelow: Erst mal ist es ganz spannend, dass wir mittlerweile nicht mehr die großen Versorgungsgesetze machen, mit denen ich groß geworden bin. Da gab es die Blüm-Reform, also das Gesundheitsreformgesetz 1989. Dann gab es die Seehofer-Reform, das war das Gesundheitsstrukturgesetz 1993. Diese Gesetze waren so angelegt, dass sie alle Bereiche des Gesundheitswesens grundlegend adressieren sollten. Diesen Politikstil hat man geändert und konzentriert sich jetzt darauf, sehr kleinteilig Einzelaspekte des Gesundheitswesens zu adressieren. Offenbar weil man glaubt, dass man dann erfolgreicher damit sein kann. Die reine Menge an Gesetzen sagt für mich nicht wirklich aus, dass sich jetzt viel Veränderung vollzogen hat. Sicherlich bringt die Krankenhausreform, wenn denn auch alle erforderlichen Verordnungen durch den Bundesrat gehen, substanzielle Veränderungen. Schaue ich weiter zurück, fällt mir als nächstes das AMNOG ein, also das Arzneimittelmarkt-Neuordnungsgesetz von 2010. Wir haben es mit vielen kleinteiligen Gesetzen zu tun, die keine grundlegende Zielrichtung haben, wie langfristig Strukturen nachhaltig gestaltet werden können.

Porträt: Prof. Dr. Nils C. Bandelow, Politikwissenschaftler
Prof. Dr. Nils C. Bandelow, Politikwissenschaftler

Haben Sie eine Erklärung für diese Entwicklung?

Bandelow: Die Rahmenbedingungen für die Politik, und nicht nur für die Gesundheitspolitik, haben sich in den vergangenen Jahren grundlegend verändert. Wir haben jetzt eine ganz andere Situation, als wir sie mal in der alten Bundesrepublik hatten. Wir haben eine extreme Pluralisierung, gerade in der Gesundheitspolitik. Es gibt mehr einzelne Interessengruppen, die relevant sind, und nicht mehr einzelne große Verbände, die für eine ganze Gruppe sprechen. Auch die Konfliktfelder sind so plural geworden, dass es keine stabilen Bündnisse mehr gibt. So wollte immer der Hartmannbund für die Ärzteschaft sprechen. Heute ist nicht einmal der GKV-Spitzenverband eindeutig die Stimme der Krankenkassen. Auch die Konfliktfelder sind so plural geworden, dass es keine stabilen Bündnisse mehr gibt. In der alten Bundesrepublik gab es relativ stabile Koalitionen, etwa von Sozialdemokraten, Gewerkschaften und Ortskrankenkassen, die sich für die Idee eines solidarischen Gesundheitssystems eingesetzt haben. Auf der anderen Seite gab es Union, FDP, Arbeitgeber und natürlich viele Leistungsanbieter, die sich eher für die Idee der Eigenverantwortung eingesetzt haben. Wenn sich diese unterschiedlichen Gruppen im Kern einig waren, dann reichte das für einen Kompromiss.

Was aber nur zwei Mal in dieser Art funktioniert hat – 1993 mit dem Gesundheitsstrukturgesetz, dem GSG, und 2004 mit dem Gesundheitsmodernisierungsgesetz, dem GMG.

Bandelow: Genau. Das war auch schwer genug, weil es völlig unterschiedliche Vorstellungen davon gab, in welche Richtung das Gesundheitswesen entwickelt werden sollte. Das hat nur funktioniert, weil der Problemdruck jeweils ganz extrem war. Hinzu kommt, dass gerade das GSG inhaltlich gut vorbereitet war durch die Bundestags-Enquetekommission „Strukturreform der gesetzlichen Krankenversicherung“ Ende der 80er-Jahre. Diese inhaltliche Zuarbeit hat die Gesundheitspolitik noch bis in die Regierungszeit Merkel geprägt, etwa das GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz von 2007 bis hin zum AMNOG. Solche inhaltlichen Vorarbeiten sehe ich derzeit nicht. Es gibt viele tolle Ideen, aber keine Konzepte, die genügend Akteure zusammenbinden, um tragfähige Mehrheiten zu bekommen, um was dauerhaft umzusetzen.

Fehlt also eine übergreifende Idee für die Weiterentwicklung der Krankenversicherung oder überhaupt der Sozialversicherungen?

Bandelow: Wenn man zurückschaut in die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, wäre es naheliegend zu sagen: Wir brauchen etwas, das die verschiedenen relevanten Interessengruppen, die man beteiligen muss, um Gesundheitsreformen durchzusetzen, auch gemeinsam tragen können. Das müsste dann von der Idee her aber anders formuliert sein als die klassischen Gegensätze. Das Schlagwort „Health in all Policies“ könnte das Potenzial haben, wenn es denn so konzipiert wird, dass sich damit auch alle Beteiligten einigermaßen identifizieren können. Das sehe ich noch nicht.

„Es gibt keine Konzepte, die genügend Akteure zusammenbinden, um tragfähige Mehrheiten zu bekommen.“

Prof. Dr. Nils Bandelow

Politikwissenschaftler

Gleichzeitig kommt immer wieder der Ruf nach einer umfassenden Reform. Ist eine solche Erwartung überhaupt realistisch?

Bandelow: Ich befürchte, sie ist nur dann realistisch, wenn es noch schlimmer kommt, als es jetzt schon ist. Also wenn das System wirklich zusammenbricht. Das wäre nicht das, was ich mir als positive Idee vorstellen kann. Bei vielen politischen Ideen, die im Raum stehen, sehe ich erst mal Fragezeichen – welche positive Sicht dahintersteht, wie man das finanzieren möchte, wer das gemeinsam tragen soll. Momentan halte ich es nicht nur in der Gesundheitspolitik, sondern gesamtpolitisch für unheimlich schwer, stabile, gestaltungsfähige Mehrheiten für irgendwas hinzubekommen.

Die schon erwähnten Reformen – das GSG 1993 und das GMG 2004 – sind ja ebenfalls unter enormem wirtschaftlichem und sozialem Druck entstanden.

Bandelow: Druck schafft erstmal Entscheidungsfenster. Daran hat es allerdings in der ablaufenden Legislaturperiode nicht gemangelt. Das Spannende ist ja, dass diese Entscheidungsfenster nicht genutzt worden sind. Von der Corona-Pandemie über den Beginn des Ukraine-Kriegs bis hin zur Haushaltskrise gab es extremen Handlungsbedarf. Und auch eine Koalition aus Partnern mit sehr unterschiedlichen Perspektiven hätte dazu eine gute Voraussetzung sein können. Hier hat die Ampelkoalition von Anfang an vieles falsch gemacht. Sie hat keine Tauschkonzepte über Politikfelder hinweg hinbekommen. Stattdessen hat sie Kompromisse über alle Politikfelder hinweg gesucht, was sich sehr bremsend ausgewirkt hat. Es ist ihr nicht gelungen, ein übergreifendes Narrativ zu entwickeln. Das Gesundheitsmodernisierungsgesetz von 2004 war Teil der Agenda 2010, und das GSG 1993 war eingebettet in den Aufbau Ost nach der deutschen Einheit. Es gab jeweils einen zusammenhängenden Umgestaltungswillen. Für die Ampelkoalition war das Haushaltsurteil des Bundesverfassungsgerichts die letzte Option, sich zusammenzufinden und eine Idee zu entwickeln, die nicht nur ein Politikfeld betrifft. Das ist dann wahrscheinlich auch an den Personen gescheitert, die nicht mehr so gut zusammengewirkt haben. Und auch die nächste Bundestagswahl war wohl schon zu nah.

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Welcher Voraussetzung bedarf es denn, um strukturelle Reformen hinzubekommen?

Bandelow: Voraussetzungen als Begriff ist zu hart, denn das klingt nach notwendiger Bedingung. Ich bezeichne das lieber als multifinal und äquifinal. Das heißt: Die gleichen Konstellationen können zu unterschiedlichen Ergebnissen führen, aber auch unterschiedliche Konstellationen zu gleichen Ergebnissen. Hier kann man aus Erfahrungen und aus Erklärungen von Erfahrungen nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen Ländern lernen. Ein solches Entscheidungsfenster kann also über Probleme entstehen oder auch über Macht wie etwa großkoalitionäre Strukturen. Aber auch in solchen Konstellationen braucht man ein schon vorher möglichst zusammenhängend erarbeitetes Programm. Momentan haben wir im Gesundheitswesen unfassbar viele Ideen. Wir haben aber nichts, das mit tragenden Köpfen im System hinterlegt ist, die gemeinsam auf längere Zeit dafür arbeiten. Es müssten Personen sein mit unterschiedlichem Hintergrund, aus unterschiedlichen Verbänden, aus der Wissenschaft und aus unterschiedlichen Parteien, unterschiedlichen politischen Ebenen, mit einer übergreifenden Idee. Das wäre etwas sehr Hilfreiches.

Wäre der Public-Health-Ansatz dafür geeignet?

Bandelow: Der Public-Health-Gedanke geht inhaltlich in diese Richtung. Aber er ist noch nicht konsensual ausformuliert und mit Menschen hinterlegt, die auch Einfluss haben. Dann braucht man entweder eine Person oder eine Gruppe von Leuten, die auch gewillt und an den richtigen Positionen sind, um das im entsprechenden Entscheidungsfenster umzusetzen. Das ist einer von verschiedenen Wegen, die erfolgreich sein können. Die Empfehlung wäre, zumindest mal anzufangen, gemeinsam etwas zu erarbeiten. Vielleicht in einer Enquetekommission oder auf einer anderen Plattform der Zusammenarbeit.

Zur Person

Prof. Dr. Nils C. Bandelow ist seit 2007 W3-Professor für Politikwissenschaft an der TU Braunschweig und Leiter des 2020 eingerichteten Institute of Comparative Politics and Public Policy (CoPPP) am Department für Sozialwissenschaften der Carl-Friedrich-Gauß-Fakultät. Zuvor war er unter anderem Vertreter des Lehrstuhls für Vergleich Politischer Systeme und Politikfelder an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Er hat mehrere DFG-Projekte zum Regieren in der Europäischen Union und zur vergleichenden Gesundheitspolitikforschung geleitet und war DFG-Forschungsstipendiat an der University of Birmingham, UK.

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