Seid verschlungen, Milliarden
Die gesetzliche Krankenversicherung und die soziale Pflegeversicherung stehen von zwei Seiten unter Druck. Regelmäßig übersteigen die Leistungsausgaben die Einnahmen. Und eine sprunghafte Politik gefährdet eine nachhaltige Finanz- und Versorgungsplanung.

Vor fünf Jahren schockte die Corona-Pandemie die Welt. Um in Deutschland die wirtschaftlichen Folgen einzudämmen, verabschiedete die Große Koalition 2020 unter anderem das Corona-Konjunkturpaket. Es beinhaltete die „Sozialgarantie 2021“. Union und SPD versprachen eine Stabilisierung der Sozialversicherungsbeiträge bei maximal 40 Prozent. Diese Garantie hat nicht lange gehalten. Das Sozialabgaben-Niveau liegt seit Jahresbeginn bei 42,5 Prozent. Bis 2035 könnte nach jüngster Projektion des Berliner IGES-Institutes für die DAK die Belastung von Versicherten und Arbeitgebern durch Beiträge zur Kranken-, Pflege-, Renten- und Arbeitslosenversicherung auf knapp 50 Prozent steigen. Den durchschnittlichen Beitragssatz der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) sieht das IGES ohne Gegensteuern in zehn Jahren bei 20 Prozent – aktuell sind es 17,5 Prozent. Der durchschnittliche Beitragssatz in der sozialen Pflegeversicherung (SPV) würde laut Projektion bis 2029 von derzeit 4,0 auf 4,4 Prozent steigen und bis 2035 auf 4,5 Prozent.
Nur ausgeben, was auch reinkommt
Das widerspricht der wohlfeilen Wahlkampf-Forderung von Union, SPD, FDP und AfD nach „mehr Netto vom Brutto“. Die Arbeitgeberverbände laufen schon angesichts des aktuellen Abgabenniveaus Sturm. Auch die Forderung der Grünen, Sozialversicherungsbeiträge auf Kapitalerträge zu erheben, um den Faktor Arbeit zu entlasten und die Einnahmenbasis zu erweitern, ist vor diesem Hintergrund zu sehen. Die gesetzlichen Krankenkassen warnen jedoch vor dem einseitigen Blick auf die Einnahmenseite. Sie fordern die konsequente Rückkehr zu dem im Sozialgesetzbuch verankerten Grundsatz der Beitragssatzstabilität den die Bundesregierungen der vergangenen 25 Jahre mehr oder weniger ignoriert haben.
2025 werden die Krankenkassen voraussichtlich 341 Milliarden Euro für Leistungen ausgeben müssen. Da kommen die Einnahmen nicht mehr mit. Bereits das Jahr 2024 wird die GKV mit einem Milliardendefizit abschließen, zum 3. Quartal lag das Minus schon bei 3,7 Milliarden Euro. Das ist auch dem Umstand geschuldet, dass die Krankenkassen die Personalkosten für die Pflege im Krankenhaus ausgleichen müssen – das Krankenhaus-Reformgesetz (KHVVG) sieht sogar eine Übernahme aller Personalkostensteigerungen vor. Die GKV-Finanzen lassen sich aus Kassensicht nur stabilisieren, wenn Mehrausgaben an die Einnahmen-Entwicklung gekoppelt werden. Die Kurswende erfordert grundlegende Strukturreformen. Dazu gehört eine effiziente Patientennavigation durch das Geflecht der ambulanten und stationären Versorgung. Die Chancen dafür stehen nicht schlecht, denn inzwischen plädiert auch die Bundesärztekammer für Patientensteuerung.
Verführerischer Gesundheitsfonds
Seit 2009 fließen die Beitragsmilliarden von Versicherten und Arbeitgebern nicht mehr direkt an die Krankenkassen, sondern in die Rechensysteme des Bundesamtes für Soziale Sicherung (BAS). Die dem Bundesgesundheitsministerium unterstellte Behörde in Bonn verwaltet den Gesundheitsfonds. Aus diesem Topf erhalten die einzelnen Kassen möglichst bedarfsgerecht das Geld, das sie für die Versorgung ihrer Versicherten benötigen. Dazu dient vor allem der morbiditätsorientierte Risikostrukturausgleich (Morbi-RSA). Nützlich ist der Gesundheitsfonds für die jeweiligen Bundesgesundheitsminister. Sie bedienen sich zur Finanzierung politischer Vorhaben gerne aus der Liquiditätsreserve. Auch deshalb gab es kaum Ampel-Streit um die Gesundheitspolitik. Warum mit dem Bundesfinanzminister streiten, wenn sich der 25-Milliarden-Anteil des Bundes an der Krankenhausreform durch den Griff in den Gesundheitsfonds finanzieren lässt?
Getrickst hatte bereits Karl Lauterbachs Amtsvorgänger Jens Spahn (CDU), um politisch unangenehme Beitragsanhebungen hinauszuzögern: Die Krankenkassen mussten den Großteil ihrer über Jahre erwirtschafteten Notlage-Reserven an den Gesundheitsfonds abführen. Lauterbach hat die Rücklagen weiter abgeschmolzen. Das hat zum historisch beispiellosen Beitragssatzsprung zu Jahresbeginn 2025 beigetragen. Um wettbewerbsfähig zu bleiben, sind zuletzt fast alle Krankenkassen finanziell auf der Felge gefahren. Viele müssen jetzt mit den Beitragsmehreinnahmen erst einmal die Mindestreserve von aktuell nur noch 0,2 Prozent einer Monatsausgabe auffüllen. Auf eine neue Krise in Corona-Größenordnung ist die GKV finanziell nicht vorbereitet.
Lauterbach hat zudem die von Spahn eingeleitete Umwandlung der Gesellschaft für den Aufbau der Telematikinfrastruktur im Gesundheitswesen (Gematik) in eine „Nationale Agentur für Digitale Medizin“ unter Aufsicht des Bundes fortgesetzt und so die Mitbestimmung von Ärzten, Krankenkassen und Krankenhäusern bei Planung und Mittelvergabe weitgehend ausgehebelt. Politisch motivierte Kurswechsel bei aufwendigen Digitalisierungsprojekten haben die Versichertengemeinschaft in den vergangenen Jahren Milliarden gekostet. Das Aufweichen des staatlichen Prinzips der Selbstverwaltung im Gesundheitswesen untergräbt eine nachhaltige GKV-Finanzplanung.
Unzureichende Vorsorgepolitik
Politik auf kurze Sicht statt nachhaltiger Vorsorge belastet auch die soziale Pflegeversicherung (SPV). Die Bundesregierungen haben zu lange verdrängt, dass die SPV mit dem Hineinwachsen der Boomer ins Renten- und Pflegealter erheblich unter Druck geraten wird. Erst 2015 wurde der Pflegevorsorgefonds eingerichtet. Laut Gesetz fließen 0,1 Prozentpunkte der SPV-Beiträge in diese Pflege-Spardose unter Aufsicht der Deutschen Bundesbank – zuletzt rund 1,9 Milliarden Euro pro Jahr. Ab 2035 sollen die Rücklagen dazu dienen, zu erwartende Beitragssatzsprünge abzubremsen.
Der Bund wollte ab 2024 pro Jahr 1,7 Milliarden Euro zuschießen. Eigentlich. 2023 kürzte Lauterbach die versprochene Mittelzuführung für 2024 bis 2027 auf 700 Millionen Euro jährlich. Überdies strich die Ampel den jährlichen Bundeszuschuss zur SPV – eine Milliarde pro Jahr – für den gleichen Zeitraum. Das brachte die SPV erheblich ins Schlingern und machte die Beitragssatz-Anhebung zu Jahresanfang unumgänglich. Zudem schuldet der Bund den Pflegekassen noch sechs Milliarden Euro für Pandemie-Ausgaben.
Die Herausforderungen in der Pflege verlangen eine verlässlichere Vorsorge-Politik. Laut WIdO-Pflege-Report 2024 waren 2023 rund 4,9 Millionen Menschen in Deutschland pflegebedürftig. Das Statistische Bundesamt rechnet für das Jahr 2030 mit 5,4 Millionen Pflegebedürftigen, 2040 könnten es bereits sechs Millionen und 2050 dann 6,7 Millionen sein. Die Ausgabenentwicklung hängt auch vom künftigen Leistungsumfang ab. Zwischen 2011 und 2021 verdoppelte sich in der SPV-Statistik die Zahl der Pflegebedürftigen, weil mit neuen Leistungen der Kreis der Anspruchsberechtigten vergrößert wurde. Ein großer Ausgabenschub steht 2028 an. Dann soll die bislang aufgeschobene Leistungsdynamisierung nachgeholt werden.
Bund und Länder machen sich einen schlanken Fuß
Ein Blick auf die GKV-Finanzen kommt nicht ohne Hinweis auf die Belastung durch gesamtgesellschaftliche Aufgaben aus, die der Staat auf die Krankenkassen verlagert hat. Der Sozialverband Deutschland hat den Umfang der „versicherungsfremden Leistungen“ jüngst mit 54,3 Milliarden Euro beziffert. Auch wenn es – je nach Definition – einige Milliarden weniger sein sollten: Die 14,5 Milliarden Euro, die der Bund der GKV derzeit pro Jahr als Ausgleich für diese Leistungen zahlt, decken die Ausgaben bei weitem nicht. Allein bei der Erstattung der Kosten für die Gesundheitsversorgung von Bürgergeld-Beziehenden ist der Bund mit rund zehn Milliarden Euro pro Jahr im Rückstand.
Einen schlanken Fuß machen sich auch die Bundesländer. Sie sind für die Finanzierung der Krankenhaus-Investitionskosten zuständig. Während sie bei der Krankenhausplanung stets auf ihre Zuständigkeit pochen, kommen sie bei der Finanzierung ihren Verpflichtungen nur unzureichend nach. Viele Krankenhäuser bezahlen Baumaßnahmen und andere Investitionen notgedrungen über das Behandlungsbudget – auf Kosten der Versichertengemeinschaft.
Auf den Punkt gebracht: Nur durch eine Koppelung von Leistungsausgaben an die Einnahmen-Entwicklung werden sich die GKV finanziell stabilisieren und der Anstieg des Sozialabgaben-Niveaus stoppen lassen. Dafür muss die nächste Bundesregierung die Weichen für eine langfristig angelegte, verlässliche Gesundheits- und Pflegepolitik stellen. Ein entscheidender Hebel dazu ist ein angemessener und dynamischer Ausgleich für „versicherungsfremde“ Leistungen der GKV. Zudem darf die jeweilige Bundesregierung den Gesundheitsfonds – das Geld von Versicherten und Arbeitgebern – nicht länger als frei verfügbaren Schattenhaushalt betrachten.
Mitwirkende des Beitrags

Autor
Datenschutzhinweis
Ihr Beitrag wird vor der Veröffentlichung von der Redaktion auf anstößige Inhalte überprüft. Wir verarbeiten und nutzen Ihren Namen und Ihren Kommentar ausschließlich für die Anzeige Ihres Beitrags. Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht, sondern lediglich für eventuelle Rückfragen an Sie im Rahmen der Freischaltung Ihres Kommentars verwendet. Die E-Mail-Adresse wird nach 60 Tagen gelöscht und maximal vier Wochen später aus dem Backup entfernt.
Allgemeine Informationen zur Datenverarbeitung und zu Ihren Betroffenenrechten und Beschwerdemöglichkeiten finden Sie unter https://www.aok.de/pp/datenschutzrechte. Bei Fragen wenden Sie sich an den AOK-Bundesverband, Rosenthaler Str. 31, 10178 Berlin oder an unseren Datenschutzbeauftragten über das Kontaktformular.
1 Kommentar
Tim
Auf den Punkt gebracht. Danke für Ihren Artikel.