Die gesunde Wahl zur einfachen machen
Menschen tragen mit ihren individuellen Entscheidungen im Alltag nachweislich dazu bei, ihr eigenes Krankheitsrisiko zu verringern. Politik kann einen Rahmen schaffen, der ihnen einen gesünderen Lebensstil leichtmacht. Ob es auf Bundesebene in naher Zukunft mehr Anreize dafür geben wird, ist allerdings fraglich.

Auf den Speiseplänen von Schulen stehen heute auch vegetarische Gericht zur Auswahl. „Das war vor 15 Jahren noch ganz anders. Es wurde das Fleischgericht angenommen. Eltern, Schülerinnen und Schüler mussten aktiv nach einer vegetarischen Alternative fragen“, sagt Prof. Dr. Dominic Lemken, Ernährungsforscher am Institut für Lebensmittel und Ressourcenökonomie der Universität Bonn. In von der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) zertifizierten Kantinen stehen vegetarische Gerichte sogar ganz oben auf dem Menü. Diese bevorzugte Platzierung soll bewusstere Entscheidungen bei der Wahl des Mittagessens anregen.
Anreize für nachhaltige Ernährung setzen

Dieses sogenannte Nudging ist eine Methode der Verhaltensökonomie, die Anreize zu besseren Entscheidungen setzt, ohne andere Optionen auszuschließen oder zu verbieten. Dass Nudging wirkt, belegen zahlreiche Studien: In einer Universitätskantine in Großbritannien beispielsweise wurde die Zahl der vegetarischen Gerichte auf der Speisekarte verdoppelt. Statt einer von vier Gerichten wurden zwei vegetarische Alternativen angeboten. Aufgrund dieser Menü-Veränderung stieg die Zahl der Besucher der Kantine, die ein fleischloses Gericht wählten, um 62 Prozent. Ein höherer Anteil fleischloser Alternativen auf Menüs motiviert auch Nicht-Vegetarierinnen und -Vegetarier, sich für ein vegetarisches Gericht zu entscheiden: Sie ändern ihre Gewohnheiten und tun etwas für ihr eigenes Wohlbefinden und die Umwelt.
Bündnis 90/Die Grünen thematisierten bereits 2013 den Veggie-Day in ihrem Bundestags-Wahlkampf: In staatlichen Kantinen sollten an diesem Tag ausschließlich vegetarische Gerichte verfügbar sein. Die Idee war, in öffentlichen Kantinen, insbesondere in Behörden, Schulen und Mensen, einen Tag pro Woche fleischfrei zu gestalten. Der Vorschlag wurde von CDU/CSU, FDP und auch Teilen der SPD heftig kritisiert, die Grünen wurden aufgrund dieses „Fleischverbots“ einer „übergriffigen Öko-Politik“ bezichtigt, die Kampagne kostete sie Wählerstimmen. Im aktuellen Wahlprogramm gibt es keinen vergleichbaren Vorstoß.
Gesunder Lebensstil – mehr Motivation, weniger Belehrung
„Make the healthy choice the easy choice“ basiert auf der Idee, dass Menschen oft die Option wählen, die am bequemsten oder am einfachsten ist. Vertreter des Ansatzes wollen sich nicht auf individuelle Willenskraft oder bewusste Entscheidungen verlassen, sondern die Umgebung der Verbraucherinnen und Verbraucher so gestalten, dass sie gesunde Entscheidungen automatisch oder mit minimalem Aufwand treffen können. Der Ansatz stammt aus der Gesundheits- und Verhaltenswissenschaft und hat seine Wurzeln in der Nudging-Theorie, der Public-Health-Forschung und der Ernährungswissenschaft. Ziel ist es, Verhaltensänderungen sanft anzustoßen – ohne Zwang oder Verbote.
Kernprinzipien
- Gesunde Wahl erleichtern: zum Beispiel mehr vegetarische Alternativen, Obst in Augenhöhe, Snacks weniger sichtbar
- Gesunde Optionen als Standard festlegen: zum Beispiel kleinere Tellergrößen in Kantinen, Wasser als Bestandteil eines Menüs statt Softdrinks
- Positive Anreize setzen: zum Beispiel günstigere Preise für gesunde Mahlzeiten
- Infrastrukturen verändern: zum Beispiel mehr Fahrradwege anlegen, Treppen attraktiver als Aufzüge machen
Anwendungsbeispiele
- In Supermärkten gesündere Produkte an prominenter Stelle platzieren
- In Kantinen standardmäßig Vollkornbrot statt Weißbrot anbieten
- In Unternehmen aktive Pausen oder Stehschreibtische fördern
- In Schulen Wasserspender statt Limonadenautomaten bereitstellen
Ernährungsstrategie der Bundesregierung
Die amtierende Bundesregierung stellte Anfang 2024 eine Ernährungsstrategie mit 14 Handlungsfeldern vor, die unter anderem darauf abzielt, pflanzenbasierte Ernährung zu stärken, jungen und alten Menschen gerechten Zugang zu gesunder und nachhaltiger Ernährung zu ermöglichen und ein vielseitiges Essen in Kitas, Schulen und Kantinen zu fördern. Zwei Drittel der 90 Maßnahmen sind laut Bundesregierung in Umsetzung. Unklar ist, welche Maßnahmen nach dem Regierungswechsel weiter vorangetrieben werden.
Dominic Lemken hat wenig Hoffnung, dass eine neue Bundesregierung regulierend eingreift, um mehr positive Impulse für gesunde Ernährung und Bewegung zu setzen. „Die Grünen sind die einzige Partei, die in ihrem Programm lenkend auf das Ernährungsverhalten Einfluss nehmen möchte: So wollen Sie die Mehrwertsteuer auf Obst und Gemüse abschaffen. Das werden Sie aber voraussichtlich in keiner Regierungskoalition umsetzen können. Da gibt es zu viel Gegenwehr oder Stimmen, die dann fordern, auch die Mehrwertsteuer auf alle Lebensmittel abzusenken“, sagt er. Hinzu kommt, dass die Änderung der Umsatzsteuer in der Zuständigkeit des Bundesministeriums für Finanzen liegt.
"Make the healthy choice the easy choice" – Historie
- 1950er bis 1960er Jahre: In der öffentlichen Gesundheitsförderung wurde zunehmend erkannt, dass Umweltfaktoren eine große Rolle für individuelles Verhalten spielen. Programme zur Raucherentwöhnung oder zur Reduktion von Herzkrankheiten (zum Beispiel Framingham Heart Study) legten nahe, dass nicht nur individuelle Willenskraft, sondern auch strukturelle Faktoren wichtig sind (zum Beispiel Verfügbarkeit gesunder Lebensmittel).
- 1970er bis 1980er Jahre: Das Konzept der „Choice Architecture“ (Gestaltung von Entscheidungssituationen) begann sich zu entwickeln, insbesondere im Zusammenhang mit Ernährungsverhalten und Prävention von Zivilisationskrankheiten.
- 1999: Der Public-Health-Wissenschaftler David Just und sein Kollege Brian Wansink untersuchten, wie Umweltfaktoren Ernährungsentscheidungen beeinflussen, etwa durch Platzierung von Lebensmitteln in Schulkantinen.
- 2008: Richard Thaler und Cass Sunstein veröffentlichten ihr Buch „Nudge: Improving Decisions About Health, Wealth, and Happiness“, das den Begriff des Nudging populär machte. Sie betonten, dass die gesündere Wahl zur einfacheren Wahl gemacht werden sollte.
- 2010er Jahre: Regierungen und Gesundheitsorganisationen (zum Beispiel WHO, CDC, NHS) begannen, das Konzept aktiv in Ernährungsrichtlinien, Städteplanung und Arbeitsplatzgestaltung zu integrieren.
- 2014 bis 2017: Michelle Obamas Initiative „Let's Move“ nutzte diesen Ansatz zur Bekämpfung von Kinderfettleibigkeit in den USA und setzte Nudging in Schulkantinen und Supermärkten ein.
- 2020er Jahre: Digitale Plattformen und Apps setzen verstärkt auf „Soft Nudges“, um gesunde Ernährung oder Bewegung zu fördern (zum Beispiel Apple Health, Google Fit).
- Heute: Einige internationale Lebensmittelhersteller wie zum Beispiel Nestlé, Unilever und Mars, setzen bei der Produktentwicklung auf „Healthy-by-Default“-Strategien, indem sie gesündere Optionen standardisieren. Zum Beispiel indem sie den Anteil pflanzlicher Zutaten in ihren Produkten erhöhen oder zuckerreduzierte Rezepturen entwickeln.
Lokales Engagement und Vorstöße auf Bundesebene
Mehr verspricht sich Lemken von Pilotprojekten und Entwicklungen auf kommunaler Ebene: Sie zielen zum Beispiel auf Angebote gesunder Ernährungsalternativen in Schulen, Kitas und Betriebskantinen oder auf öffentlichen Veranstaltungen. Lemken: „Tatsächlich bringt das Nudging eine Wahlfreiheit mit sich, die weniger inneren Widerstand weckt und es den Menschen leichter macht, sich umzustellen.“ Die wachsende Zahl der Ernährungsräte in Deutschland stimmt ihn zuversichtlich, dass etwas in Bewegung kommt. 2016 wurden die ersten Ernährungsräte in Köln und Berlin gegründet. Mittlerweile sind es 45 im gesamten Bundesgebiet. Sie knüpfen Netzwerke zwischen Politik, Verwaltung, Landwirten, Händlern, Gastronomen und Verbrauche, um in Städten und Gemeinden eine nachhaltige und lokale Lebensmittelversorgung zu ermöglichen.
Der Deutsche Bundestag wiederum setzt Bürgerräte ein, um zu politischen Fragestellungen Rückmeldung aus der Mitte der Gesellschaft zu bekommen. So hat der Bürgerrat „Ernährung im Wandel“ im März 2024 ein Gutachten an den Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft sowie mitberatend an den Finanzausschuss, den Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, den Ausschuss für Gesundheit und den Ausschuss für Klimaschutz und Energie übergeben. Darin geht es unter anderem auch darum, „zur Verbesserung der gesunden Ernährung“, die Steuer von unverarbeitetem Obst und Gemüse aus der EU in Bio-Qualität auf Null zu setzen. Die Linke brachte auf dieser Basis den Antrag mit dem Titel „Grundnahrungsmittel zeitgemäß definieren“ ein. Der Finanzausschuss beriet im Dezember zu einem neuen Steuerkurs für Lebensmitte und hat den Sachstandsbericht am 11. Februar an die Bundestagspräsidentin Bärbel Bas übergeben.
„Nudging bringt eine Wahlfreiheit mit sich, die weniger inneren Widerstand weckt und es den Menschen leichter macht, sich umzustellen.“
Ernährungsforscher am Institut für Lebensmittel und Ressourcenökonomie der Universität Bonn
Nährwertkennzeichnungssystem bisher freiwillig
Und auch auf der EU-Ebene kann noch einiges passieren – auch im Zusammenhang mit der Green-Claims-Verordnung. Unternehmen, die Verbraucher hin zu umweltfreundlichen und gesünderen Lebensmitteln lenken möchten, müssen sicherstellen, dass ihre Aussagen klar, spezifisch und wissenschaftlich fundiert sind. „Die Debatte um einen verpflichtenden Nutri-Score ist noch nicht ganz verloren. Wir können gespannt sein auf die weitere Entwicklung in Frankreich, sie kann auch Impulse für die EU und Deutschland bringen“, so Lemken.
In Frankreich ist die Anwendung des Nährwertkennzeichnungssystems ebenso wie in Deutschland und anderen europäischen Ländern bisher freiwillig. Das französische Parlament hat aber im November 2024 für zwei Änderungsanträge gestimmt, die eine verpflichtende Einführung des Nutri-Scores auf Lebensmittelverpackungen und dessen Förderung in Werbematerialien vorsehen. Lemken: „Zuvor gab es bereits verpflichtende Warnlabels bei ungünstigen Nährwertzusammensetzungen zum Beispiel in Israel, Chile, Mexiko und Argentinien. Aber Frankreich wäre damit das erste Land, das den NutriScore verpflichtend machen würde.“ Die französische Gesundheitsministerin hat derweil klargestellt, dass der Nutri-Score nicht verpflichtend sein wird, aber rund 1.400 Unternehmen ihn bereits nutzen.
Mitwirkende des Beitrags
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