Artikel Gesundheitssystem

Von wegen Gedöns

20.02.2025 Thomas Rottschäfer 6 Min. Lesedauer

Gesundheitspolitik betrifft alle Menschen ganz direkt. Trotzdem spielt sie auch in diesem Bundestagswahlkampf keine Rolle. Dabei birgt der Grundsatz „Gesundheit in allen Politikbereichen“ Lösungen für viele Probleme der Gesundheitsversorgung.

Illustration mit drei verschiedenen Menschen, die lachen und weiteren Elementen, wie einem Auto, einem Teddybären und einer Läuferin
Gesundheitspolitik betrifft nicht nur die unmittelbare medizinische, therapeutische und pflegerische Versorgung. Gesundheit betrifft alle Lebensbereiche.

Gefühlt jeden Tag schlechte Nachrichten. Das macht miese Laune und ist nicht gut für die Gesundheit. Deshalb zum Einstieg zwei gute Gesundheitsnachrichten: Die Zahl der Kinder und Jugendlichen, die nach exzessivem Alkoholgenuss im Krankenhaus landen, ist nach neuen Erkenntnissen der Kaufmännischen Krankenkasse auf den niedrigsten Stand seit Beginn der Statistik 2006 gefallen. Und nach Daten der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) – vor wenigen Tagen in Bundesinstitut für Öffentliche Gesundheit (BIÖG) umgetauft – bleibt Nichtrauchen bei Jugendlichen im Trend.

Und sonst? Die Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) und der Sozialen Pflegeversicherung (SPV) steht auf der Kippe, die dringend notwendige Krankenhausreform kommt nicht in Fahrt und die Einführung der elektronischen Patientenakte (ePA) bleibt ein Geduldspiel. Im Bundestagswahlkampf ist das alles kein Thema. Die vom Grünen-Spitzenkandidaten Robert Habeck aufgeworfene Debatte um das Heranziehen von Kapitalerträgen für Krankenkassen- und Pflegebeiträge flammte kurz auf. Auch der Vorschlag von CDU-Kanzlerkandidat Friedrich Merz, Versicherte für ePA-Datenspenden an Wissenschaft und Wirtschaft mit Beitragsnachlass zu belohnen, war allenfalls Strohfeuer.

Gesundheit und Pflege wichtigste Themen

Ist mit Gesundheitspolitik kein Blumentopf zu gewinnen? Die Wahrnehmung der Menschen ist eine andere. Bei einer im Dezember 2024 durchgeführten und im Januar veröffentlichten Forsa-Umfrage im Auftrag der AOK nannten 48 Prozent der Befragten Gesundheit und Pflege als wichtigstes politisches Handlungsfeld – noch vor Wirtschaft (46 Prozent), Innere Sicherheit und Kriminalitätsbekämpfung (40 Prozent), Bildung (40 Prozent) und Renten (32 Prozent). Das deckt sich mit EU-Zahlen. Bei einer Eurobarometer-Befragung vor der Europawahl im Juni 2024 sagten 32 Prozent, die EU müsse sich vorrangig für die Förderung der öffentlichen Gesundheit einsetzen. Trotzdem haben sich alle im Bundestag vertretenen Parteien von der AfD auf das Thema Migration festnageln lassen. Wobei: Selbst das Thema Migration hat viel mit Gesundheit zu tun. Ohne Deutsche mit Migrationshintergrund und ausländische Fachkräfte stünden das deutsche Gesundheitswesen und die Pflege längst vor dem personellen Kollaps.

Konzept „Health in all policies“

Gesundheitspolitik betrifft nicht nur die unmittelbare medizinische, therapeutische und pflegerische Versorgung. Gesundheit betrifft alle Lebensbereiche. Es geht um gesundes Wohnen, eine gesunde Umwelt mit weniger Verkehrs- und Schadstoffbelastung, gesundheitsförderliche Familienpolitik und Klimaschutz, Gesundheitsförderung am Arbeitsplatz, Bildungs- und Sportpolitik, gesunde Lebensmittel und nicht zuletzt auch um vernetzte Pflege und neue Wohnformen im Alter als Alternative zum Vereinsamen im Pflegeheim. Das politische Leitmotiv dazu: „Gesundheit in allen Politikbereichen“ – im Fachjargon „intersektorielle Gesundheitspolitik“ oder „Health in all Policies“.

Der Koalitionsvertrag der Ampel weckte Hoffnungen auf eine Umsetzung dieses Ansatzes. SPD, FDP und Grüne vereinbarten 2021 unter anderem das Formulieren eines nationalen Präventionsplans „unter dem Leitgedanken von Vorsorge und Prävention“. Das neue BIÖG sollte alle Aktivitäten im Public-Health-Bereich, die Vernetzung mit dem Öffentlichen Gesundheitsdienst und die Gesundheitskommunikation des Bundes koordinieren und den nationalen Präventionsplan formulieren. Die Bilanz: Das Präventionsgesetz wurde nicht weiterentwickelt. Und eine übergeordnete Strategie steht trotz ausgiebiger Vorarbeiten der Nationalen Präventionskonferenz, in der sich die gesetzlichen Krankenkassen stark engagieren, weiter aus.

Stattdessen hat das Bundesgesundheitsministerium (BMG) das dichte Geflecht von Präventionsgremien und zahlreichen Einzelprojekten im Juni 2024 noch um eine Nationale Präventionsinitiative erweitert. Zum Thema „Health in all Policies“ heißt es knapp: „Das BMG hat hierzu eine ressortübergreifende Arbeitsgruppe initiiert und in Workshops erste Schritte zur Umsetzung des Konzeptes erarbeitet. Diese Arbeit wird fortgeführt.“ Nach Chefsache klingt das nicht, eher nach „Gedöns“-Schublade.

Pillen statt Herzsportgruppe

Dabei war Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach beim Thema Prävention durchaus nicht untätig. Sein am Ende auf die Entbudgetierung für Hausärzte zusammengeschrumpftes Gesetz zur Stärkung der Gesundheitsversorgung (GVSG) enthielt ursprünglich zahlreiche Initiativen zur Gesundheitsförderung und vernetzten Versorgung auf kommunaler Ebene – darunter auch die bundesweite Einrichtung von „Gesundheitskiosken“, insbesondere als niedrigschwellige Anlaufstellen in sozialen Brennpunkten.

Doch wie bei seiner Krankenhausreform und anderen Vorhaben setzte der SPD-Politiker auch beim GVSG auf Detail-Gesetzgebungspolitik (fast) unter Ausschluss der von ihm als „Lobbyisten“ geschmähten Organisationen der gemeinsamen Selbstverwaltung im Gesundheitswesen. Er verschärfte damit das bereits von seinen Vorgängern Daniel Bahr (FDP), Hermann Gröhe und Jens Spahn (beide CDU) eingeleitete Abgleiten ins Kleinteilige. „Es fehlt eine übergeordnete Idee“, sagt der Politikwissenschaftler Nils Bandelow im Interview mit G+G. „Es gibt viele tolle Ideen, aber keine Konzepte, die genügend Akteure zusammenbinden, um tragfähige Mehrheiten zu bekommen, um was dauerhaft umzusetzen.“

Lauterbachs teils erratisches Vorgehen kulminierte Mitte 2024 im „Gesundes-Herz-Gesetz“ (GHG). Das unumstrittene Ziel: Risikofaktoren von Herz-Kreislauf-Erkrankungen möglichst früh erkennen und bekämpfen. Doch in der Praxis hätte das nach AOK-Berechnungen bis zu 34 Millionen zusätzliche DMP-Teilnehmer „und nach einer fünfjährigen Hochlaufphase für die Kassen potenzielle Mehrkosten von bis zu 3,8 Milliarden Euro pro Jahr“ mit sich gebracht. Auf die Palme brachte der Minister Krankenkassen und betroffene Organisationen vor allem mit seinem Vorhaben, den vorbeugenden Einsatz von Medikamenten massiv auszuweiten und dafür das GKV-Budget für Prävention zusammenzustreichen – Pillen statt Herzsportgruppe. Das hätte das Aus für die meisten Projekte zur Gesundheitsförderung in unterschiedlichen Lebenswelten bedeutet, darunter viele Gesundheitsangebote für Kinder und Jugendliche in Kitas und Schulen. Nach dem Ampel-Aus blieb das GHG im Bundestag hängen.

BIÖG soll Paradigmenwechsel einleiten

Auf den letzten Metern seiner Amtszeit hat Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach Mitte Februar noch die Umbenennung der BZgA in BIÖG per Ministererlass durchgesetzt. Die unvollendete inhaltliche Neuaufstellung der in Köln ansässigen Behörde und eine produktive Zusammenarbeit mit dem Robert-Koch-Institut in Berlin hinterlässt der Minister der nächsten Bundesregierung. Aus Sicht der AOK bietet das BIÖG die Chance, „den notwendigen Paradigmenwechsel in der Präventionspolitik“ einzuleiten. „Wir brauchen die konsequente Umsetzung des Health-in-all Policies-Ansatzes“, sagt Verbandschefin Carola Reimann. „Eine gesundheitsförderliche Politik in allen Bereichen der Gesellschaft ist mit Blick auf die hohe Krankheitslast durch vermeidbare Risiken dringend geboten.“

Foto: Drei Essensboxen stehen nebeneinander: links Crepes mit Dipp, daneben Coscous mit Soße, daneben Brokkoli.
Menschen tragen mit ihren individuellen Entscheidungen im Alltag nachweislich dazu bei, ihr eigenes Krankheitsrisiko zu verringern. Politik kann einen Rahmen schaffen, der ihnen einen gesünderen Lebensstil leichtmacht. Ob es auf Bundesebene in naher Zukunft mehr Anreize dafür geben wird, ist allerdings fraglich.
20.02.2025Sepideh Honarbacht5 Min
Die Illustration zeigt ein Glas Rotwein und zahlreiche Zigarettenkippen.
Gravierenden Erkrankungen durch ungesunde Ernährung, Rauchen oder Alkoholkonsum sowie Bewegungsmangel wollen Länder weltweit Einhalt gebieten. Denn sie bringen chronische Leiden mit sich und verursachen hohe Kosten für die Gesundheitssysteme. G+G stellt einige erfolgreiche Beispiele vor, wie gesundes Verhalten erleichtert wird.
20.02.2025Irja Most10 Min

Halbherzige Ernährungsstrategie

Auch Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir (Grüne) brachte ein wichtiges Element der „Health-in-all-Policies“-Strategie nicht ins Ziel. Die von Amtsvorgängerin Julia Klöckner (CDU) nur halbherzig vorangetriebene Ernährungsstrategie der Bundesregierung behielt auch in seiner Amtszeit ihren freundlichen Appell-Charakter. Das Bemühen, die Gesundheit der Menschen durch weniger Zucker, weniger Salz und weniger Fett in den Lebensmitteln und eine generell gesündere Ernährung zu schützen, kommt einfach nicht voran. Für die Industrie blieb es auch in dieser Legislaturperiode ohne Folgen, dass sie ihre freiwilligen Verpflichtungen für gesündere Produkte weitgehend nicht erfüllt. Zur Freude der Lebensmittellobby blockierte die FDP auch die von Özdemir angestrebten Einschränkungen bei auf Kinder abgestellter Werbung für Ungesundes.

Gesundheitskompetenz bleibt Baustelle

Klar: Für ihre Gesundheit und die ihrer Kinder sind die Menschen in erster Linie selbst verantwortlich. Saufen schadet der Leber, Rauchen macht Krebs und Schokolade dick. Ist alles bekannt. Aber Suchtgefahren, übermäßiger Fastfood-Konsum oder süße Limo schon in der Nuckelflasche sind ebenso wie die Inanspruchnahme von Vorsorgeuntersuchungen und anderen Gesundheitsleistungen auch eine Frage der Lebensumstände und der Gesundheitskompetenz. Einkommen, Bildung und Gesundheit hängen zusammen.

Trotz aller Bemühungen und vielversprechender Projekte hat sich die Gesundheitskompetenz laut einer Studie der Universität Bielefeld in den letzten zehn Jahren sogar verschlechtert. Danach verfügen derzeit „rund 60 Prozent der Bevölkerung über eine geringe Gesundheitskompetenz“. Besonders betroffen: Menschen mit niedrigem Bildungsgrad, niedrigem Sozialstatus, mit Migrationshintergrund, im höheren Lebensalter und mit chronischer Erkrankung. Ausgerechnet um die immer wichtiger werdende digitale Gesundheitskompetenz ist es laut Studie besonders schlecht bestellt – noch eine Baustelle für die nächste Bundesregierung.

Auf den Punkt gebracht: Für eine erfolgreiche Eindämmung von Volkskrankheiten wie Adipositas, Diabetes, Atemwegs- und Herzerkrankungen ist eine „Health-in-all-Policies“-Strategie essenziell. Leider waren auch die Ampel-Jahre in dieser Hinsicht verlorene Jahre. „Momentan haben wir im Gesundheitswesen unfassbar viele Ideen. Wir haben aber nichts, das mit tragenden Köpfen im System hinterlegt ist, die gemeinsam auf längere Zeit dafür arbeiten“, sagt Politikwissenschaftler Bandelow. Das gelte auch für die Public-Health-Strategie. In seiner klugen Analyse erinnert er an die weitreichenden Weichenstellungen der Ende der 1980er-Jahre vom Bundestag eingesetzten Enquete-Kommission zur GKV-Strukturreform. Die neue Bundesregierung und die im nächsten Bundestag vertretenen Parteien sollten sich zu einer Neuauflage durchringen und die Weichen für nachhaltige Gesundheitsförderung und mehr Gesundheitskompetenz der Menschen stellen. Das ist angesichts der innen- und außenpolitischen Rahmenbedingungen sicher schwierig, aber angesichts der katastrophalen Finanzsituation von GKV und SPV fast unumgänglich.

Das G+G Special zur Bundestagswahl - hier geht's zurück zur Übersichtsseite. 

Ein Mann sitzt auf der Couch an seinem Tablet und hat Kopfhörer auf. Recht im Bild ist ein Handy zu sehen, auf dem der G+G-Podcast "Kassentreffen" abgespielt wird.
Einig im Ziel, aber manchmal mehr, manchmal weniger uneinig über den Weg: Was daherkommt wie eine hohle Worthülse, umreißt recht treffend, was engagierte Gesundheitspolitikerinnen und -politiker antreibt. Vier von ihnen waren anlässlich der anstehenden Neuwahlen zum Deutschen Bundestag die Premierengäste im „G+G Kassentreffen“.
19.02.2025Ralf Breitgoff5 Min

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