Interview Gesundheitssystem

„Es ist nichts Schändliches, bei Gesundheit ökonomisch zu denken“

18.02.2025 Bernhard Hoffmann 8 Min. Lesedauer

Für eine verstärkte gesellschaftliche Debatte über die Finanzierbarkeit von Gesundheit und Pflege plädiert der Gesundheitsökonom Nils Goldschmidt. Noch sei es „Zeit für eine sorgsame Diskussion, die den Menschen und die Frage, was ein gutes Leben ist, in den Mittelpunkt stellt“, sagte der Direktor des Weltethos-Instituts an der Universität Tübingen im Gespräch mit G+G. Goldschmidt ist Mitglied des Deutschen Ethikrats.

Die Illustration zeigt ein Porträt von dem Autor Nils Goldschmidt. Im wolkigen Hintergrund sind verschiedenfarbige Leinen gespannt, auf denen Personen balancieren, teilweise mit Balancierstange, an der auf der einen Seite ein Herz und auf der anderen Seite ein Euro-Zeichen befestigt ist.
Zur Ethik-Diskussion im Gesundheitssektor gehört immer auch eine finanzielle Beurteilung der Machbarkeit.

Herr Professor Goldschmidt, sprechen wir beim Thema Gesundheit zu viel vom Geld?

Nils Goldschmidt: Nein, ich glaube nicht, dass wir zu viel vom Geld sprechen. Fragen der gesetzlichen Krankenversicherung sind ganz eng damit verknüpft, wie wir die Dinge, die uns wichtig sind, auch finanzieren können. Wir leben in einer Marktgesellschaft. Es ist auch eine Errungenschaft von Märkten, dass wir einen hohen Standard an Prävention und Behandlung haben, dass wir uns einen so ausdifferenzierten Gesundheitssektor leisten können. Deswegen müssen wir über Geld sprechen. Geld nicht als Selbstzweck und auch nicht die Frage der Finanzierung als Selbstzweck, sondern als eine wesentliche Nebenbedingung, um das zu erreichen, was wir wollen: ein gutes und gesundes Leben führen zu können.

Wir sprechen vom Solidarsystem in den Sozialversicherungen, gerade in der Krankenversicherung. Welche Verpflichtung geht mit diesem Begriff einher?

Goldschmidt: Zunächst einmal geht damit ein Versprechen einher, nämlich dass die Mitglieder einer Gesellschaft, die gesund sind, diejenigen, die aus welchen Gründen auch immer nicht ein so gutes Los haben, unterstützen. Es ist ganz wichtig, uns immer wieder klarzumachen, dass wir eine Solidargemeinschaft sind. Damit geht aber auch die Verpflichtung einher, dass wir die Leistungen entsprechend adäquat finanzieren und selbst natürlich auch darauf achten, dass wir das System nicht überfordern oder gar ausnutzen. Das bedeutet eben auch, ein gewisses Ethos zu haben, mit einem solchen System pfleglich umzugehen.

„Der Maßstab ist der Mensch und damit die Frage, wie wir uns ein würdiges Leben vorstellen und wie wir das finanzieren wollen.“

Prof. Dr. Nils Goldschmidt

Direktor des Weltethos-Instituts an der Universität Tübingen

Sie verweisen damit auf die drei Rollen Versicherter, Beitragszahler und Patient. Müssen wir uns jeweils dieser Rollen stärker bewusst werden oder ist das Bewusstsein ausreichend vorhanden?

Goldschmidt: Nein, ich glaube, dass wir auch viel zu selten darüber nachdenken, wie diese Systeme funktionieren, was die Prämissen sind. Wir nehmen diese Systeme, wie eben die gesetzliche Krankenversicherung, als gegeben an und nehmen sie eigentlich immer nur dann wahr, wenn wir dafür zahlen müssen oder wenn wir sie brauchen, insbesondere im Krankheitsfall. Wir müssen viel mehr darüber nachdenken und sprechen, wie wir politisch diese Systeme gestalten wollen, welche Leistungen bezahlt werden sollen, wie das finanziert wird. Das sind immer unbeliebte Themen. Das ist ähnlich wie bei der gesetzlichen Rentenversicherung. Aber wir sehen ja gerade, insbesondere mit Blick auf den demografischen Wandel und vor dem Hintergrund einer nicht unbedingt wachsenden Wirtschaft, dass wir uns diese Solidarsysteme sehr sorgsam angucken und sie entsprechend reformieren müssen. Vor diesem Hintergrund ist mehr Reflektivität notwendig, mehr Wissen auch darüber, wie diese Systeme funktionieren.

Welche Maßstäbe wären denn in einer solchen Diskussion aus Ihrer Sicht entscheidend? Sind es ethische, sind es ökonomische?

Goldschmidt: Für mich als Ökonom ist es wenig überraschend, dass die ökonomische Diskussion eine relevante und ganz wesentliche ist. Wir erleben einen massiven Preisanstieg bei innovativen Arzneimitteln. Wir sehen, wie schwierig es ist, das Krankenhaussystem so zu finanzieren, dass es auch profitabel ist. Wir müssen uns überlegen, wie wir das Gesundheitssystem finanzieren, wenn der Anteil der Hochaltrigen weiter steigt. Wir müssen uns Gedanken darüber machen, wie wir technischen Fortschritt finanzieren können, in welchem Maße er eingesetzt wird. Die ökonomische Dimension ist also eine ganz wesentliche. Aber die ökonomische Sicht hat eine dienende Funktion. Wir können die Ökonomie nicht zum alleinigen Maßstab dafür machen, wie wir unser System ausgestalten. Die Grundlage muss immer eine ethische Dimension sein, die politisch verhandelt wird unter der Nebenbedingung, dass sie eben auch finanzierbar ist. Der Maßstab ist der Mensch und damit die Frage, wie wir uns ein würdiges Leben vorstellen und wie wir das finanzieren wollen.

Illustration mit vielen verschiedenen Elementen, wie einem Krankenhaus, einem Rettungswagen, einem Wegweiser.
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Muss ein Krankenhaus profitabel sein?

Goldschmidt: Profitabel in dem Sinne, dass es nicht defizitär ist. Wir können uns dauerhaft kein System leisten, das hohe Defizite einfährt, wenn es denn möglich ist, durch kluge Reorganisationen Dinge profitabler zu machen, ohne Abstriche an der Qualität zu machen. Die angestrebte Restrukturierung des Krankenhausmarktes ist notwendig. Wir müssen uns fragen: Wie sieht medizinische Versorgung in der Zukunft aus? Gibt es Möglichkeiten, die Abläufe in Krankenhäusern effizienter zu gestalten? Gibt es Möglichkeiten, das Verhältnis von niedergelassenen Ärzten und Krankenhäusern effizienter zu gestalten? Es geht nicht um den Gewinn. Es geht darum, Menschen gut zu versorgen. Aber wir müssen eben lernen, dass finanzielle Ressourcen endlich sind. Das ist die ökonomische Sichtweise. Wenn wir Dinge effizienter gestalten, bedeutet das, dass wir mehr Ressourcen dafür haben, auch andere Dinge zu tun. Märkte können helfen, dieses Ziel zu erreichen. Es ist nichts Schändliches, ökonomisch zu denken, wenn es um Gesundheit, um das gute Leben geht.

Welche Rolle sollte dabei das Verhältnis zwischen Solidargemeinschaft und Eigenvorsorge spielen?

Goldschmidt: Es wäre schwierig, den Menschen vorschreiben zu wollen, wie sie sinnvollerweise zu leben haben. Die Menschen müssen über ihr Leben frei entscheiden können. Das ist eine der großen Errungenschaften. Deshalb sollten wir nicht sagen, dass bestimmte Leistungen gestrichen werden, wenn eine Person bestimmte Dinge macht. Da bewegen wir uns im Bereich der Eingriffe in die persönliche Entfaltungsmöglichkeit. Zugleich geht es darum, ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass jedes persönliche Handeln auch Auswirkungen auf die Solidargemeinschaft hat. Aber eindeutige Verhaltensregeln vorzugeben, passt nicht zu einer freiheitlichen Gesellschaft. Gleichwohl kann man natürlich überlegen, wie wir Eigenverantwortung vielleicht auch finanziell stärken können. Da braucht es kluge Ideen. Das muss sozial verträglich gestaltet werden. Aber ein gewisses Gespür bei den Menschen zu schaffen, dass die Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen Kosten verursacht, halte ich für durchaus zumutbar.

„Wir müssen die Ethik-Debatte führen, um zu verstehen, dass Gesundheitsleistungen finanziert werden müssen und keine unendlichen Ressourcen zur Verfügung stehen.“

Nils Goldschmidt

Ökonom

Wie viel sollte denn eine Gemeinschaft für die Gesundheit des Einzelnen ausgeben?

Goldschmidt: Das ist eine sehr schwierige Frage. Nehmen Sie die Entwicklungen in der Arzneimitteltherapie. Was dort in den vergangenen Jahrzehnten passiert ist, ist großartig. Jetzt gibt es eben nicht mehr nur das eine Parkinson-Medikament, sondern viele, auch individuell angepasste Medikamente. Das ist gut und auch wünschenswert. Natürlich muss die Gesellschaft bereit sein, in solche Entwicklungen zu investieren. Wir werden aber nicht umhinkommen, eine Nutzenabwägung zu machen. Das heißt, volkswirtschaftlich und auch individuell zu fragen: Wie ist der Einsatz eines bestimmten Medikaments zu beurteilen? Wie hoch ist der gesellschaftliche Nutzen auf mittlere Frist? Wie hoch ist der individuelle Nutzen mit Blick auf den möglichen Behandlungserfolg, auf Auswirkungen auf die Lebensqualität? Diese Dinge abzuwägen, ist die Aufgabe des Ethikers. Es gibt keine generelle Marschroute zu sagen: Bis zu diesem Preis können wir ein Medikament verschreiben, ab da nicht mehr. Vielmehr müssen wir abwägen. Es ist ein Abwägen der Alternativen: Könnten wir mit dem Geld, das dieses Medikament kostet, an anderen Stellen mehr erreichen? Wir brauchen im Gesundheitswesen allgemein und in den Krankenhäusern im Besonderen mehr ethischen Beistand, Ethikteams, die genau solche Fragen stellen.

Dies wäre jeweils eine Entscheidung im individuellen Fall. Müsste es nicht auch grundsätzliche Antworten auf solche Fragen geben?

Goldschmidt: Ja, individuell ist einfacher, weil die Fakten, die relevant sind, relativ klar vorliegen, sodass eine gute Prognose möglich ist. Volkswirtschaftlich ist das schwieriger. Wir brauchen beispielsweise eine Debatte über die Fragen: Wie können wir das Lebensende gestalten? Was sind denn die Nöte, die Menschen haben? Wie sieht eine gute palliative Begleitung aus? Vielleicht müssen wir überlegen, ob dieser Anspruch, möglichst lange zu leben, nicht der entscheidende Punkt ist, sondern es vielmehr darum geht: Wie können wir Leben gut gestalten? Wann ist der Zeitpunkt gekommen, loszulassen? Das ist eine sehr schwierige Debatte. Aber wir müssen diese führen, um zu verstehen, dass Gesundheitsleistungen auch finanziert werden müssen und eben keine unendlichen Ressourcen zur Verfügung stehen. Deswegen müssen wir nach ethischen Prinzipien Alternativen abwägen und auch lernen, anders über Gesundheit und Krankheit nachzudenken. Diese Diskussionen müssen im politischen Raum geführt werden. Da drückt man sich sehr gerne vor, weil Alter und Krankheit keine Themen sind, mit denen man Wahlen gewinnen kann.

Sehen Sie Chancen auf eine solche Diskussion?

Goldschmidt: Erste Ansätze gibt es, etwa in der Diskussion um die Krankenhausreform, in die gerade anfangs Expertinnen und Experten aus unterschiedlichen Fachrichtungen einbezogen waren. In der Corona-Pandemie wurden solche Fragen gestellt, etwa welche Bevölkerungsgruppe als erste geimpft wird. Das sind ethische Diskussionen. Ich glaube auch, dass es solche Diskussionen im privaten Bereich gibt, etwa zur Frage der Sterbebegleitung. Im politischen Bereich wird es nach meiner Einschätzung zu wenig thematisiert. Dabei ist es bei Gesundheit und auch Pflege die reine fiskalische Notwendigkeit, über solche Fragen nachzudenken. Ich wünsche mir, dass wir nicht aus finanziellen Gründen zu Getriebenen werden und dann mit brachialen Maßnahmen Dinge verändern müssen. Noch ist es Zeit für eine sorgsame Diskussion, die den Menschen und die Frage, was ein gutes Leben ist, in den Mittelpunkt stellt.

Zur Person

Nils Goldschmidt ist seit Jahresanfang 2025 Direktor des Weltethos-Instituts an der Universität Tübingen und seit 2013 Professor für Kontextuale Ökonomik und Ökonomische Bildung an der Universität Siegen. Seit 2024 gehört der Ökonom dem Deutschen Ethikrat an. 2016 wurde er zum Berater der Kommission für gesellschaftliche und soziale Fragen der Deutschen Bischofskonferenz berufen.

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