Interview Gesundheitssystem

„Wir brauchen den Kindergipfel im Kanzleramt“

20.02.2025 Bernhard Hoffmann 7 Min. Lesedauer

Einen Child-Health-in-all-Policies-Ansatz fordert der Präventionsexperte Thomas Altgeld für die nächste Legislaturperiode. Er hält eine stärkere Verknüpfung von Bildung und Gesundheit für unabdingbar.

Illustration Porträtbild Thomas Altgeld und Deutschlandkarte mit Schultüte und Papierfliegern
Präventionsexperte Thomas Altgeld fordert für die nächste Legislaturperiode einen Child-Health-in-all-Policies-Ansatz.

Wie steht es in Deutschland um die Prävention?

Thomas Altgeld: In der Prävention in Deutschland wird vergleichsweise viel Geld ausgegeben, insbesondere seit dem Präventionsgesetz 2015. Die Präventionsförderung ist jedoch sehr kleinteilig organisiert, so dass wir um jede Art von Gesundheitsthema ein eigene Präventionsschiene aufbauen. Mit denen werden dann vor allem jene gesundheitsbewussten Menschen erreicht, die sich ohnehin dafür interessieren. Wer sich also bemüht, hat in Deutschland große Chancen, irgendwie in der Kita ein Angebot für seine Kinder zu bekommen oder für sich selber ein Angebot eines Trägers, um die eigene Gesundheit verbessern können. Es sind insbesondere besser gebildete Bevölkerungsgruppen und dabei deutlich mehr Frauen als Männer, die sich für solche Angebote interessieren und begeistern können.

Wenn die Inanspruchnahme vom Bildungsstand abhängt, wäre es dann nicht der erste Schritt, die Gesundheitskompetenz des Einzelnen zu stärken?

Altgeld: Nein, der erste Schritt wäre, Bildungschancen zu verbessern und Lebenskompetenz in Bildungs-Settings zu stärken. Das heißt zu schauen, wie man in Schulen und Kitas den Alltag so gestalten kann, dass Bewegungsfreude herrscht, dass die Kinder nicht als erstes in Grundschulen lernen im 45 Minuten-Takt still sitzen zu können. Es geht um Fragen, wie man etwa einen bewegten Mathe-Unterricht bis zur 13. Klasse hinbekommt, wie man Kinder dazu bringt, sich selbst wahrzunehmen und mit anderen Kindern gut in Kontakt zu sein. Also soziale Kompetenz und Selbstwahrnehmung. Denn diese Kinder werden dann auch weniger süchtig, sie werden keinen ungeschützten Sexualverkehr haben und sie werden auch nicht mit 160 Kilometern pro Stunde über die Autobahn brettern. Das ist die zentrale Herausforderung: Lebenskompetenz in Bildungs-Settings zu fördern.

„Der erste Schritt wäre, Bildungschancen zu verbessern und Lebenskompetenz in Bildungs-Settings zu stärken.“

Thomas Altgeld

Geschäftsführer der Landesvereinigung für Gesundheit und Akademie für Sozialmedizin Niedersachsen Bremen

Was ist für einen solch übergreifenden Ansatz erforderlich?

Altgeld: Wir brauchen alle staatlichen Ebenen – Bund, Länder und Kommunen. Doch wir haben hier eine Aufsplitterung. Für Bildung und auch für die öffentliche Gesundheit sind die Länder zuständig, für die Rahmenbedingungen ist es der Bund. Die Schwierigkeit ist, die unterschiedlichen Zuständigkeiten zu verzahnen. Dazu gibt es ein funktionierendes Beispiel, den Bereich der frühen Hilfen, also für Kinder bis zum ersten Lebensjahr. Hier gibt es die Bundesstiftung „Frühe Hilfen“, eine Länderkoordination und es gibt Geld für jede Kommune, damit sie Angebote zu frühen Hilfen machen kann. Etwas Ähnliches wäre auch für die späteren Lebensjahre sinnvoll, also ein gemeinschaftliches Investitionsprogramm von Bund und Ländern, Kommunen und Sozialversicherungsträgern, das vor Ort in den Quartieren wirksam wird. Dies zeigt, was geht, wenn der politische Wille da ist.

Scheitert ein ähnliches Angebot für ältere Altersstufen an finanziellen Fragen oder an strukturellen?

Altgeld: Das scheitert eher an strukturellen Fragen, weil laut Grundgesetz die Länder für Bildung und den öffentlichen Gesundheitsdienst zuständig sind. Wir haben jetzt mit dem Startchancen-Programm des Bundesbildungsministeriums zum ersten Mal eine große Investition von nationaler Ebene in die Schulen, hier in die Schulen mit einem hohen Anteil sozial benachteiligter Schülerinnen und Schüler. Das könnte man auch für mehr Gesundheitsförderung nutzen oder zumindest für alle Grundschulen im Programm hinkriegen, dass Gesundheitsfachkräfte an Schulen die Regel und nicht die Ausnahme sind, wenn das politisch gewollt wäre. Dazu aber müsste Einiges im Bund-Länder-Zuschnitt geändert werden. Allerdings beharren die Länder auf ihrer alleinigen Zuständigkeit für das Bildungssystem. Das ist auch eine hart umkämpfte parteipolitische Frage. Die einen halten eisern an ihren Gymnasien fest, die anderen setzen auf andere Bildungsformen. Das ist ein ideologischer Grabenkampf, und deshalb wird sich hier auch so schnell nichts ändern.

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Brauchen wir für einen solchen Health-in-all-Policies-Ansatz eine Föderalismusreform?

Altgeld: Ja, die brauchen wir auf jeden Fall, insbesondere wenn wir an nachwachsende Generationen denken. Wir brauchen vor allem einen anderen Ansatz, eine Child-Health-in-all-Policies, also zu schauen, welche Verantwortung diese Gesellschaft für insbesondere sozial benachteiligte Kinder annimmt. Das ist die zentrale Herausforderung. Und deshalb brauchen wir eine Föderalismusreform, aber vor allem mehr politische Aufmerksamkeit. Wenn irgendwelche Medikamente fehlen oder die Kinderstation eines Krankenhauses geschlossen wird, dann handelt Politik. Aber es gab noch nie einen Kindergipfel im Bundeskanzleramt, während es jedes Jahr ein, zwei Autogipfel gibt. Es fehlt noch das notwendige politisches Bewusstsein. Deshalb wird es auch keine Föderalismusreformen geben, weil das Problem gar nicht in seiner Gänze erkannt wird.

Was bedarf es denn an Voraussetzungen, damit sich das ändert?

Altgeld: Wir produzieren in der EU nach Rumänien mit die meisten Schulabgänger ohne Schulabschluss. Die Frage ist, wie lange es sich unsere Gesellschaft leisten kann, vor allem sozial benachteiligte Männer mit Migrationshintergrund irgendwie durch neun Jahre Schule zu schleußen und ihnen dann keinen Abschluss und Teilhabeperspektiven bieten zu können. Die Folgekosten, wenn sie dann auffällig werden und die sozialen Sicherungssysteme in Anspruch nehmen oder kriminell werden, nehmen wir hin. Sinnvoller wäre aber ein Bildungssystem, in dem Bildung für alle das Ziel ist und nicht Elite-Förderung für die Bessergestellten. Andere Länder sind hier aufmerksamer. Sie bezahlen die Fachkräfte in Kitas und die Grundschullehrer besser, weil es in dieser Lebensphase darum geht, lernen zu lernen, und nicht darum, Kinder ab der fünften Klasse im Gymnasium auf das Studium vorzubereiten. Denn das ist die falsche Logik.

„Es gab noch nie einen Kindergipfel im Bundeskanzleramt, während es jedes Jahr ein, zwei Autogipfel gibt. Es fehlt noch das notwendige politisches Bewusstsein. “

Thomas Altgeld

Geschäftsführer der Landesvereinigung für Gesundheit und Akademie für Sozialmedizin Niedersachsen Bremen

Wie ließe sich das ändern?

Altgeld: Wir brauchen auf jeden Fall auch zuverlässige Daten, zum Beispiel eine Fortführung des Kinder- und Jugend-Gesundheitssurveys, den das Robert-Koch-Institut erstellt hat. Zu den ersten Wellen des KIGGS gab es ja eine gewisse Betroffenheit in der Gesellschaft. Die Akteure, die sich mit der Kindergesundheit beschäftigen, vor allem die Wohlfahrtsverbände mit ihren Arbeitsberichten, müssen dazu kontinuierlich lauter werden und eine Wende in der Bildungs- und Gesundheitspolitik einfordern. Und das Wichtigste: Die nächste Bundesregierung muss die Gesundheit und die Bildungsfähigkeit nachwachsender Generationen zu ihrem zentralen Thema machen. Da kann man lange über den Wirtschaftsstandort Deutschland und Fachkräftemangel diskutieren, wenn man ein Potenzial von ganzen Generationen verschenkt. Dazu reicht ein Beratungsgremium wie der „ExpertInnenbeirat Gesundheit und Resilienz“ nicht aus. Notwendig ist eine Art Stabsstelle im Bundeskanzleramt. „Child-Health-in-all-Policies“ muss zur Chefsache werden.

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Zur Person

Thomas Altgeld studierte Psychologie und Politologie in Hamburg. Der Geschäftsführer der Landesvereinigung für Gesundheit und Akademie für Sozialmedizin Niedersachsen Bremen ist Vorsitzender des Bundesforums Männer sowie Schatzmeister der Bundesvereinigung für Prävention und Gesundheitsförderung. Außerdem leitet er bei gesundheitsziele.de die Arbeitsgruppen „Gesund aufwachsen“ und „Gesundheit rund um die Geburt“.

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