Interview Gesundheitssystem

Politik der Verschiebebahnhöfe hat Grenzen erreicht

14.02.2025 Bernhard Hoffmann 6 Min. Lesedauer

Seit Jahrzehnten verschieben Bundesregierungen gerne Finanzlasten aus den Haushalten von Bund, Ländern oder Kommunen in die Sozialversicherungen. Doch diese Politik stößt an ihre Grenzen, ist der Sozialwissenschaftler Stefan Sell überzeugt. So resultiere „ein nicht geringer Teil der Beitragssatzanstiege in den vergangenen Jahren daraus, dass die Politik weiterhin Verschiebebahnhöfe nutzt“, sagte Sell G+G.

Ein Container-Areal aus der Vogelperspektive.
Verschiebebahnhöfe finanzieren gesamtgesellschaftliche Projekte aus Sozialversicherungsmitteln zugunsten der Länderhaushalte.
Foto: Prof. Dr. Stefan Sell ist Sozialwissenschaftler am RheinAhr-Campus Remagen der Hochschule Koblenz.
Prof. Dr. Stefan Sell ist Sozialwissenschaftler am RheinAhr-Campus Remagen der Hochschule Koblenz.

Herr Professor Sell, sind Verschiebebahnhöfe in erster Linie ein Phänomen der Sozialversicherungen?

Stefan Sell: Verschiebebahnhöfe sind eine Instrumentalisierung der Sozialversicherungssysteme, die leider auf eine lange Tradition zurückblicken kann. Es geht dabei um eine Zweckverfremdung von Sozialversicherungsmitteln für gesamtgesellschaftliche Aufgaben. Das zeigt sich gut an der Pflegeversicherung als jüngstem Zweig der Sozialversicherungen. Vor Einführung der Pflegeversicherung vor 30 Jahren gab es eine jahrelange Diskussion darüber, wie das Pflegerisiko abgesichert werden sollte, als steuerfinanzierte Leistung oder als Sozialversicherung. Anfang der 1990er-Jahre bezogen etwa 80 Prozent der Pflegeheimbewohner wegen der hohen Kosten Sozialhilfe. Die wurde von den Kommunen finanziert, was diese völlig überlastete. Mit Beginn der stationären Pflegeleistungen ab 1996 sanken die Ausgaben der Kommunen drastisch. Damit war ein Ziel erreicht: die Entlastung der Kommunen. Das war ein Verschiebebahnhof. Heute trifft die finanzielle Hauptlast die Pflegebedürftigen selbst, die ständig steigende Eigenanteile bezahlen müssen. Ursprünglich war vorgesehen, dass die Kassen die Pflegekosten übernehmen, die Pflegebedürftigen die Unterkunfts- und Verpflegungsleistungen bezahlen und die Bundesländer die Investitionskosten tragen. Daraus haben sich aber die Länder nach und nach zurückgezogen, sodass heute die Pflegebedürftigen über die Eigenanteile auch die Investitionskosten zahlen. Also auch hier wieder ein Verschiebebahnhof zugunsten der Länderhaushalte. Dieses Muster sehen wir in Wellen bis heute. Denken Sie an die Zeit nach der Wiedervereinigung.

Damals waren aber in erster Linie Arbeitslosenversicherung und Rentenversicherung betroffen.

Sell: Richtig. Die Arbeitslosenversicherung stand natürlich im Mittelpunkt der Verschiebebahnhofspolitik in den 1990er-Jahren. Aber schon vorher in den 1980er-Jahren während des starken Anstiegs der Arbeitslosigkeit wurden diese Verschiebebahnhöfe genutzt, um etwa die Haushalte der Kommunen zu entlasten. Die Kommunen drängten damals, dass möglichst viele Menschen aus der Sozialhilfe, die von ihnen finanziert wurde, in die Arbeitslosenhilfe gebracht wurden. Denn die wurde von der Bundesanstalt für Arbeit aus den Beitragsgeldern bezahlt. Ähnliches bei der Rentenversicherung: Mit der Einheit haben die ehemaligen DDR-Bürger Leistungen aus der Rentenversicherung erhalten, ohne zuvor Beiträge bezahlt zu haben. Die Leistungen wurden aus Beitragsgeldern finanziert, obwohl es eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe war.

Ist das für die Bürger nicht letztlich eine Art Nullsummenspiel?

Sell: Es ist kein Nullsummenspiel, sondern ein Verschieben in unterschiedliche Haushalte. Hier greift die klassische Diskussion über die unterschiedliche politische Wahrnehmung von Steuerfinanzierung und Beitragsfinanzierung. Wir wissen seit Jahrzehnten, dass die Menschen eher bereit sind, höhere Sozialversicherungsbeiträge zu akzeptieren als höhere Steuern. Denn es gibt einen entscheidenden Unterschied zwischen Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen. Die Sozialversicherungsbeiträge, auch wenn es vielleicht nicht wirklich zutrifft, sind aus Sicht der Menschen zweckgebunden. Ich zahle einen Beitrag an die AOK oder an die Deutsche Rentenversicherung und dafür erwerbe ich Leistungsansprüche im Risiko oder im versicherten Fall. Das generiert eine deutlich höhere Akzeptanz, als wenn Sie sagen: Ich erhöhe den Mehrwertsteuersatz oder den Einkommensteuersatz. Denn nach den Haushaltsprinzipien dürfen Steuereinnahmen ja nicht zweckgebunden erhoben werden, sondern sie fließen in den allgemeinen Haushalt. So hat erst jüngst eine Umfrage gezeigt, dass die Mehrheit der Befragten bereit ist, für ihre Krankenkasse höhere Beiträge zu zahlen statt Leistungen zu kürzen. Das ist bis heute das treibende Motiv für die Politik, zu der widerstandsärmeren Lösung zu greifen und die Finanzierung gesamtgesellschaftlicher Aufgaben den Beitragszahlern zuzuschieben.

„Eine klare Regelbindung könnte verhindern, dass der eingeübte Weg eines Verschiebebahnhofs zulasten der scheinbar weniger widerständigen Sozialversicherung weiter genutzt wird. “

Prof. Dr. Stefan Sell

Sozialwissenschaftler

Wie erklären Sie, dass die Wirtschaft diesen Weg so lange mitgegangen ist? Erst jetzt gab es Proteste von Wirtschafts- und Arbeitgeberverbänden.

Sell: Ich glaube, dass wir – um einen neuen deutschen Begriff zu verwenden – einen Kipppunkt erreicht haben, also mit der Anhebung des Beitragssatzes für die Pflegeversicherung um 0,2 Prozentpunkte und dem starken Anstieg der Zusatzbeiträge der Krankenkassen. Das Stichwort ist Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft. Das hatten wir schon vor 20 Jahren in der Debatte um die Agenda 2010, dass die Wirtschaft durch hohe Sozialversicherungsbeiträge und damit steigende Lohnnebenkosten belastet sei. Deshalb gab es dann Kürzungen von Sozialversicherungsleistungen. Aber offensichtlich war damals die Situation besser als heute. Denn heute sind wir am Ende einer jahrzehntelangen Entwicklung mit insgesamt hohen Beitragssätzen in den Sozialversicherungen. Die stoßen jetzt bei den Unternehmen, aber auch bei den Arbeitnehmern an Akzeptanzgrenzen. In der gesetzlichen Krankenversicherung resultiert dies auch aus der Finanzierungslogik mit Beitragsbemessungsgrenze und Versicherungspflichtgrenze. Dadurch erhöht sich der Druck auf die Gering- und Normalverdiener unterhalb der Beitragsbemessungsgrenze. Außerdem resultiert ein nicht geringer Teil der Beitragssatzanstiege in den vergangenen Jahren daraus, dass die Politik weiterhin Verschiebebahnhöfe nutzt. Jüngstes Beispiel ist der Transformationsfonds, mit dem die Krankenhausreform finanziert werden soll. Diese 25 Milliarden Euro aus Beitragsgeldern sind eine unglaubliche Verletzung einer aufgabenadäquaten Finanzierung. Die müssten korrekterweise aus Steuermitteln finanziert werden. Das ist gar keine Frage. Aber die Ampelkoalition hat auch hier den Weg über die Sozialversicherung genommen, um die Reform überhaupt in den Bundesländern durchzusetzen.

Illustration: Eine Hand zieht mit einer Pinzette 50€ und 20€ Scheine aus einem Portemonnaie.
Mit der „Sozialgarantie 2021“ hatte im Sommer 2020 die damalige Große Koalition versprochen, die Summe der Sozialversicherungsbeiträge nicht auf über 40 Prozent steigen zu lassen. Tatsächlich wird diese Grenze schon seit 2022 überschritten. 2025 ist die Belastung noch einmal deutlich gestiegen.
07.02.2025Otmar Müller2 Min

Wie können denn solche Verschiebebahnhöfe geschlossen werden?

Sell: Ich beziehe mich auf Winfried Schmähl, den alten Rentenpapst und damaligen Vorsitzenden des Sozialbeirats unter Helmut Kohl. Er hat gesagt: Wir brauchen eine systematische, eine aufgabenadäquate Finanzierung, sonst werden die Aufgaben infrage gestellt. Denn Kürzungen und Streichungen sind immer der reflexhafte Mechanismus auf solche Anstiegswellen. Dabei geht es um diese Frage: Wenn ich tatsächlich eine Aufgabe habe, die finanziert werden muss und die der Gesellschaft auch wichtig ist, dann muss ich klären, ob das eine Aufgabe des Sozialversicherungskollektivs ist oder eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Die Abgrenzung ist durchaus schwierig. Aber eine klare Regelbindung könnte verhindern, dass der eingeübte Weg eines Verschiebebahnhofs zulasten der scheinbar weniger widerständigen Sozialversicherung weiter genutzt wird. Vielleicht wäre für den Bereich der Sozialversicherungen ein Gremium sinnvoll, das solche Finanzierungsprüfungen macht. Die Finanzierung des Transformationsfonds wäre bestimmt nicht durchgegangen.

Zur Person

Stefan Sell ist seit 1999 Professor für Volkswirtschaftslehre, Sozialpolitik und Sozialwissenschaften am RheinAhr-Campus Remagen der Hochschule Koblenz. Zuvor war er Professor für Wirtschaftswissenschaft und Arbeitsmarktpolitik an der Fachhochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung in Mannheim. Seit März 2022 ist er Mitglied im „Zukunftsrat Nachhaltige Entwicklung Rheinland-Pfalz“. Sell betreibt außerdem den sozialpolitischen Blog „Aktuelle Sozialpolitik. Aus den Tiefen und Untiefen der Sozialpolitik“.

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