Interview Finanzierung

Einnahmeentwicklung muss wieder Maßstab sein

23.07.2024 Bernhard Hoffmann 8 Min. Lesedauer

Für die Vorstandsvorsitzende des AOK-Bundesverbandes steht fest: Die finanzielle Belastungsgrenze durch kostenträchtige Gesetze ist in der Kranken- und Pflegeversicherung längst erreicht. Im Interview mahnt Carola Reimann die Ampelkoalition, überfällige Strukturreformen endlich anzugehen.

Porträt von Carola Reimann, Vorstandsvorsitzende des AOK-Bundesverbandes
Seit 2022 an der Spitze des AOK-Bundesverbandes: Dr. Carola Reimann

Der weitaus größte Teil der Gesetzesvorhaben der Ampelkoalition stößt auf Kritik der AOK. Wo sehen Sie die größten Versäumnisse?

Carola Reimann: Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach adressiert schon die richtigen Stellen im Gesundheitssystem. Aber was oft fehlt, sind das entsprechende Fingerspitzengefühl und die richtige Schrittweise. Häufig werden Akteure gar nicht oder sehr spät eingebunden, was natürlich auch zu Schwierigkeiten führt. Und manchmal haben wir den Eindruck, dass dem Minister das mediale Echo wichtiger ist als eine langdauernde und verlässliche Kompromissfindung. Es gibt auch inhaltlich strategische Punkte, die wir völlig anders sehen. So wird das für die Krankenkassen zentrale Thema der nachhaltigen Finanzierung überhaupt nicht angegangen. Im Gegenteil verschärfen viele Gesetzesvorhaben das Problem. Das gilt für die Kranken- wie für die Pflegeversicherung. Mit dem Schlagwort der Entökonomisierung hat das wichtige Anliegen der Wirtschaftlichkeit und Beitragssatzstabilität einen populistischen Zungenschlag bekommen. Das halten wir für grundlegend falsch.

Wo ist denn die Regierung auf dem richtigen Weg?

Reimann: Im Bereich der Digitalisierung sind Gesetze auf den Weg gebracht worden, die aus unserer Ansicht eine wirkliche Verbesserung erzielen. Sie können zu Veränderungen führen, die die Versorgung und das Gesundheitswesen nachhaltig modernisieren. Solche strukturellen Verbesserungen fehlen bei der Finanzierung des Gesundheitswesens. Die Krankenversicherungsbeiträge werden großzügig verteilt, es gibt jedoch keine strukturell tragfähigen Konzepte und Reformen.

In der Krankenhausreform sind aber Struktur- und Finanzierungsreform enthalten.

Reimann: Doch die Finanzierungsfragen sind im Gesetzentwurf wesentlich konkreter und detaillierter geregelt als die strukturellen Themen. Und diese Finanzierungsregelungen sind ordnungspolitisch fragwürdig, etwa der Transformationsfonds. Einen solchen Fonds muss es selbstverständlich geben, um Krankenhäuser in der Umstrukturierung zu unterstützen. Aber dass die Krankenkassen die Hälfte der Kosten übernehmen sollen, ist unakzeptabel. Das ist eine gesamtgesellschaftliche Investition, die aus Steuergeldern zu finanzieren ist. Uns geht es in allererster Linie darum, dass die Qualität der Versorgung verbessert wird. Hier aber sind bisher lediglich drei Rechtsverordnungen vorgesehen, die das Bundesgesundheitsministerium ohne Beteiligung des Parlaments erlassen kann.

Foto von Bernhard Hoffmann im Gespräch mit Dr. Carola Reimann
Zwischenbilanz zur Sommerpause im Konferenzraum des Vorstands

Sehen Sie denn im parlamentarischen Verfahren noch Chancen, etwas zu ändern?

Reimann: Wir hoffen, dass im Parlament noch wichtige Dinge bewegt werden können, dass Klarheit über den weiteren Prozess und den Inhalt der ausstehenden Rechtsverordnungen erzielt wird. Aber unsere Befürchtung ist, dass wir vor allen Dingen ein teures Gesetz bekommen werden. Was höhere Kosten für die Beitragszahlerinnen und -zahler betrifft, steht der Gesundheitsminister leider in der Tradition seiner beiden Vorgänger.

Inwieweit werden sich die drei Landtagswahlen im September auf den weiteren Prozess bei der Klinikreform auswirken?

Reimann: Die Wahlen werden, je nach Ausgang, die Situation nicht erleichtern. Zumal nicht auszuschließen ist, dass anschließend noch andere Akteure beteiligt sein werden als derzeit. Damit würde die bei einer Krankenhausreform ohnehin komplexe Kompromisssuche zusätzlich erschwert.

Auch im Gesundheitsversorgungsstärkungsgesetz, dem GVSG, geht es um Mehrausgaben, insbesondere durch die Entbudgetierung für die Hausärzte. Stellen sich die Kassen schon auf höhere Kosten ein?

Reimann: Wir setzen sehr auf das parlamentarische Verfahren. Allerdings ist das eine sehr große Aufgabe, in diesem Verfahren all jene Punkte wieder einzubringen, die ursprünglich mal vorgesehen waren, um die Versorgung zu verbessern. Was jetzt vorliegt, ist ein Vergütungsverbesserungsgesetz für die Hausärzte. Mehr ist zurzeit nicht zu erkennen. Das wird über den Sommer hinweg ein hartes Stück Arbeit werden, um Änderungen zu erreichen. Die AOK hat Vorschläge unterbreitet für eine flexible Vertragsklausel auf regionaler Ebene, um so die Versorgung übergreifend besser zu organisieren.

Foto von Bernhard Hoffmann im Gespräch mit Dr. Carola Reimann
Für Carola Reimann unverzichtbar: Strukturreformen im Klinikbereich

Die Notfallversorgung will die Regierung ebenfalls reformieren. Dazu gab es in der vorherigen Legislaturperiode erfolglose Anläufe. Rechnen Sie nun mit einem Erfolg?

Reimann: Ja, wir hoffen sehr darauf, denn eine Notfallreform ist untrennbar mit der Krankenhausreform verbunden. Viele Menschen fragen sich, wie Notfälle in einer sich verändernden Kliniklandschaft weiterhin verlässlich versorgt werden. Dafür bedarf es Antworten. Derzeit gibt es keine gute Steuerung von Notfällen, was für viel Unmut bei Patientinnen und Patienten, aber auch in der Ärzteschaft sorgt. An den jetzt vorliegenden Vorschlägen halten wir durchaus einige Punkte für verbesserungswürdig. Aber den zentralen Punkt, Integrierte Notfallzentren zu bilden, in denen die medizinische Ersteinschätzung erfolgt, um die Patienten in die richtige Versorgungsebene zu steuern, halten wir für wichtig und zielführend. Diese Änderungen sollten in Abstimmung mit der Krankenhausreform erfolgen. Wünschenswert wäre, auch das Rettungswesen in die Notfallreform einzubeziehen, damit die Zusammenarbeit zwischen den Integrierten Notfallzentren und den Rettungsleitstellen möglichst einheitlich und koordiniert läuft und es keinen regionalen Flickenteppich gibt.

Im Zuge der Krankenhausreform will das Bundesgesundheitsministerium Qualitätsvorgaben machen, im Entwurf des Gesundes-Herz-Gesetzes sind genaue Vorgaben für die Behandlung mit Statinen vorgesehen. Ist es sinnvoll, dass die Politik den Rahmen und auch konkrete Inhalte festlegt?

Reimann: Was wir sehen, ist eine fortgesetzte Verletzung der Kompetenzen der Selbstverwaltung. Die Vorstellung, medizinische Behandlungen in Gesetzen zu definieren, liegt aus meiner Sicht an der Grenze zur Absurdität. Dafür haben wir den Gemeinsamen Bundesausschuss. Die Regierung sollte besser auf dessen Expertise zurückgreifen. Es sollte der Grundsatz gelten, dass der Gesetzgeber den Rahmen setzt und die wesentlichen Dinge regelt. Die operative Ausgestaltung und Umsetzung sollten der Selbstverwaltung überlassen werden.

Foto von Carola Reimann am Tisch im Interview
Eingriffe in die Kompetenzen der Selbstverwaltung lehnt Carola Reimann ab.

Wie beurteilen Sie das geplante Bundesinstitut für Prävention und Aufklärung in der Medizin?

Reimann: Wir halten den Vorschlag für sehr sinnvoll. Denn bisher fehlt eine Institution, die den Public-Health-Ansatz konsequent verfolgt und die verschiedenen Ebenen, also Bund, Länder und Kommunen, vernetzt. Allerdings finden sich im Referentenentwurf keine Antworten darauf, wie mit zentralen Herausforderungen umgegangen werden soll. Das beginnt mit der Frage, wie die erforderliche Datengrundlage zustande kommt. So ist etwa die letzte umfassende Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen von 2017. Und wir wissen alle, wie sehr sich die Corona-Pandemie auf Kinder und Jugendliche ausgewirkt hat.

Gibt es einen roten Faden in der Gesundheitspolitik der Ampel?

Reimann: Der rote Faden ist, dass ohne Berücksichtigung der Finanzierbarkeit ständig neue kostenträchtige Gesetze produziert werden, die nicht einmal die Versorgung verbessern. Im GVSG gibt es keine strukturellen Verbesserungen. Im Krankenhausreformgesetz sind sie bisher auch noch nicht eindeutig abzusehen. Klar ist immer nur, dass es zu erheblichen Mehrkosten kommt. Die Finanzsituation der Krankenkassen verschlechtert sich von Jahr zu Jahr. Deshalb appellieren wir an die Politik, in ihren Entscheidungen wieder stärker die Einnahmeentwicklung zu berücksichtigen.

Also die Orientierung an der Entwicklung der beitragspflichtigen Einnahmen?

Reimann: Ja, das ist absolut erforderlich. Ich vermisse bisher den Blick auf eine langfristige Finanzierung der Kranken- und  Pflegeversicherung und das Ziel, die Beitragsgelder möglichst effizient einzusetzen.

Zugleich wächst die Kritik, dass der morbiditätsorientierte Risikostrukturausgleich Kassen mit vielen kranken Versicherten benachteilige. Hoffen Sie auf Änderungen?

Reimann: Ich halte Änderungen für notwendig. Die jüngst vorgelegten Gutachten unterstützen und bestärken uns in unserer Position. Wir selbst haben schon 2022 ein Gutachten vorgelegt, das gravierende Mängel bei der Berücksichtigung vulnerabler Gruppen aufzeigt. Wichtig wäre jetzt, das gesetzgeberisch aufzugreifen und eine Grundlage für die Abbildung sozioökonomischer Aspekte im Morbi-RSA zu schaffen.

Welche Schritte sind bis zur Bundestagswahl 2025 unverzichtbar?

Reimann: An erster Stelle die Vereinbarung im Koalitionsvertrag umzusetzen, aus dem Bundeshaushalt die Pauschalen für die Gesundheitsversorgung von Bürgergeld-Empfängern zu erhöhen. Das würde die Kassen um neun Milliarden Euro im Jahr entlasten. Bei der Pflege hat der Gesundheitsminister zwar noch eine Reform in Aussicht gestellt, aber die Richtung ist völlig offen. Der Pflegebericht, den das Bundeskabinett jüngst beraten hat, gibt darauf jedenfalls keine Antwort. Unverzichtbar sind Strukturreformen, die zu einer besseren Qualität in der medizinischen Versorgung führen.

Freuen Sie sich auf die Sommerpause?

Reimann: Angesichts der anstehenden Aufgaben und vielen laufenden Gesetzgebungsverfahren wird es wohl keine richtige Sommerpause geben.

Zur Person

Seit Anfang 2022 steht Carola Reimann an der Spitze des AOK-Bundesverbandes. Zuvor war die promovierte Biotechnologin niedersächsische Gesundheitsministerin. 17 Jahre lang war Reimann Mitglied des Bundestags.

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