Wie die Wissenschaft zum Patienten kommt
Dass sich Medizin nicht auf Meinungen, sondern auf wissenschaftliche Belege stützen sollte, gilt im deutschen Gesundheitssystem als Konsens. Doch politische Initiativen stellen das Prinzip der evidenzbasierten Medizin zunehmend infrage.
Das nationale Netzwerk Genomische Medizin (nNGM) Lungenkrebs ist ein Musterbeispiel für den Erfolg evidenzbasierter Medizin. Bestimmte Patientengruppen profitieren von einer Therapie durch deutlich erhöhte Überlebensraten und eine bessere Lebensqualität; auch für alle anderen hat die Immuntherapie Vorteile. Das konnte eine vom AOK-Bundesverband geförderte Evaluationsstudie der Universitätsmedizin Greifswald und der Uniklinik Köln zeigen, die Ende 2023 in der Fachzeitschrift „The Lancet Regional Health – Europe“ veröffentlicht wurde. Insbesondere kamen die innovativen Therapien schneller als gewöhnlich bei den Betroffenen an. Auch zehn Jahre nach der ersten Zulassung entsprechender Medikamente in Deutschland bleibt die Regelversorgung noch hinter der Versorgung im nNGM zurück. Während innerhalb des Netzwerkes 11,2 Prozent der Patienten mit Lungenkrebs die personalisierte Therapie mit sogenannten Thyrosinkinase-Inhibitoren (TKI) erhielten, waren es außerhalb dieser Strukturen nur 6,4 Prozent. Die innovativen Mono-Immuntherapien kamen im nNGM bei 62,7 Prozent der Betroffenen zum Einsatz, außerhalb des Netzwerkes jedoch nur bei 54,9 Prozent der Patienten.
Genomdiagnostik zeigt, was evidenzbasierte Medizin leistet
Die Wirkung von Therapien differenziert und verlässlich für bestimmte Patientengruppen nachzuweisen, ist aufwändig und langwierig. Doch die Erfolge der Genommedizin belegen, dass es sich lohnen kann. "Das nationale Netzwerk Genomische Medizin (nNGM) Lungenkrebs zeigt eindrucksvoll, welchen Mehrwert eine digital vernetzte, evidenzgenerierende und evidenzbasierte Medizin schaffen kann", sagt Jürgen Wolf, Ärztlicher Leiter des Centrums für Integrierte Onkologie, im aktuellen "Blickpunkt Klinik". Das Netzwerk zielt auf eine wissensgenerierende Versorgung durch kontinuierliche „Übersetzung“ neuer Erkenntnisse aus der Forschung in klinische Routine. Auf der Basis einer klaren Arbeitsteilung zwischen den 29 Netzwerkzentren und ihren über 500 Netzwerkpartnern generieren die Beteiligten „Real-World“-Evidenz aus der Routineversorgung und übertragen sie zur Erprobung in die klinische Forschung.
Evidenz braucht Institutionen
Im deutschen Gesundheitssystem ist es vor allem der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA), der Therapien und Maßnahmen zur Qualitätssicherung in die Versorgung trägt. Dazu prüft in der Regel das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) die jeweilige Studienlage auf Evidenz. Das Bundesgesundheitsministerium (BMG) plant indes mit der Krankenhausreform, die Kompetenzen des G-BA zu beschneiden. Schon seit einigen Jahren greift das BMG verstärkt in das Versorgungsgeschehen ein. So sorgte Gesundheitsminister Jens Spahn bereits 2019 für Diskussionen durch den Versuch, die umstrittene Fettabsaugung beim sogenannten Reiterhosen-Syndrom (Lipödem) am G-BA vorbei in die Regelversorgung der GKV zu bringen. Zuletzt brachte sein Nachfolger Karl Lauterbach Mediziner und Verbände mit dem Entwurf für ein Gesundes-Herz-Gesetz auf die Barrikaden: Ungeprüft sollten breit angelegte Screenings auf familiär erhöhte Cholesterinwerte eingeführt und Statine für Kinder ab zwölf Jahren zur Regelversorgung werden, so sah es der Referentenentwurf vor. Erst nach heftiger Kritik von Seiten vieler Organisationen nahm das BMG die strittigen Regelungen zurück. Laut Kabinettsentwurf sollen die Details der Versorgung nun doch durch den G-BA festgelegt werden.
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