Interview Gesundheitssystem

„Wir können es nur gemeinsam schaffen“

19.06.2024 Bernhard Hoffmann, Vera Laumann 8 Min. Lesedauer

Der Vorstandsvorsitzende der AOK PLUS, Rainer Striebel, im Interview zu den versorgungspolitischen Herausforderungen in Sachsen und Thüringen, den Reformnotwendigkeiten in der Gesundheitspolitik und zur Rolle der Digitalisierung.

Porträt von Rainer Striebel, Vorstandsvorsitzender AOK PLUS
Rainer Striebel, Vorstandsvorsitzender AOK PLUS

Herr Striebel, was sind die dringendsten Probleme in der flächendeckenden medizinischen Versorgung in Sachsen und Thüringen?

Rainer Striebel: Wie im gesamten Bundesgebiet sind die Versorgungsstrukturen in ländlichen Gebieten und in Ballungsräumen sehr unterschiedlich. Allerdings haben wir in beiden Bundesländern extrem viel ländlichen Raum. Damit stehen wir hier massiv vor der Fragestellung, wie medizinische Versorgung in den nächsten Jahren organisiert werden kann. In immer mehr Regionen kann doch schon heute von einer freien Arztwahl keine Rede mehr sein. Dort sind die Menschen froh, wenn sie überhaupt einen Hausarzt haben oder in angemessener Zeit einen Termin beim Facharzt bekommen. Inzwischen werden auch Apotheken geschlossen, weil sich keine Nachfolge findet. Sogar bei der Erreichbarkeit von Zahnärzten gibt es erste, kleinere Engpässe. Auch in der pflegerischen Versorgung sowie der Physio- und Psychotherapie fehlen Fachkräfte. Wir stehen vor dem massiven Problem eines immer größeren Fachkräftemangels, nur dass dieser in den ländlichen Regionen noch stärker durchschlägt und in Ostdeutschland auch deutlich früher einsetzt.
 
Welche Lösungswege geht die AOK PLUS?

Striebel: Wir haben schon vor mehr als zehn Jahren begonnen, mit den Entscheidungsträgern in Sachsen und Thüringen über die demografische Entwicklung und den sich hieraus ergebenden Herausforderungen zu sprechen. Wir haben dann zum Beispiel erst einmal einfach Geld in die Hand genommen, etwa dass wir eine Prämie von 100.000 Euro für die Übernahme einer Landarztpraxis ausgelobt haben. Wir haben zudem ein Stipendienprogramm für ein Medizinstudium in Ungarn unterstützt und tun dies immer noch, weil damals an deutschen Hochschulen der Zugang zum Studium nicht gut funktioniert hat. Aber wir haben auch festgestellt, dass wir allein mit Geld die Versorgungsprobleme durch die Demografie nicht lösen. Denn die Menschen entscheiden heute nach anderen Kriterien, wo sie leben und arbeiten möchten. Und da ist der ländliche Raum leider zunehmend unattraktiv. Wir müssen also die gesundheitliche Versorgung der Bevölkerung völlig neu denken. Denn die zentrale Fragestellung ist: Wie schaffen wir es, mit weniger Fachkräften eine gute medizinische Versorgung zu erreichen?
 
Welche Möglichkeiten, welche Wege sehen Sie?

Striebel: Es gibt nicht die eine Maßnahme, sondern wir müssen diese Herausforderung im Zusammenhang betrachten. Es geht einerseits um grundsätzliche strukturelle Veränderungen, wie sie jetzt mit dem Krankenhausversorgungsverbesserungsgesetz angegangen werden. Andererseits müssen wir die Frage beantworten, wo wir welche Art der medizinischen Versorgung brauchen. Dazu gehört auch zu akzeptieren, dass viele junge Mediziner nicht mehr freiberuflich arbeiten wollen, sondern in Anstellung. Und sie wollen weniger arbeiten als früher, weil sie ein anderes Verständnis der Balance von Arbeit und Leben haben.  Wir müssen also die Vereinbarkeit von Beruf und Familie verbessern und so die Voraussetzung schaffen, dass die jungen Menschen tatsächlich im Arztberuf dort arbeiten, wo wir sie brauchen. Und wir müssen an die heutigen Behandlungsprozesse ran. Also wie schaffen wir die Voraussetzungen, dass durch ein gutes Vernetzen aller Akteure ein sinnvolles Zusammenspiel entsteht. Und zwar immer aus der Sicht des Patienten. Zudem müssen wir verstehen, inwieweit digitale Techniken helfen können, die medizinische Versorgung der Menschen zu sichern. Dabei sollten wir pragmatisch vorgehen und etwa schauen, welche ärztlichen Leistungen delegierbar oder substituierbar sind. Andere Staaten wie skandinavische Länder zeigen, dass hier mehr möglich ist. Bei der Knappheit an Fachkräften werden wir uns Ineffizienzen im Gesundheitswesen nicht mehr leisten können.
 
Hat die AOK PLUS bereits solche neuen Ansätze umgesetzt?

Striebel: Wir gehen unterschiedliche Wege. Im Projekt „Ärzte im Pflegeheim“ geht es darum, durch den rechtzeitigen Einsatz eines Hausarztes zu vermeiden, dass ein Pflegebedürftiger ins Krankenhaus muss. Wir haben in Modellprojekten das Zusammenspiel zwischen den Leistungserbringern verbessert, beispielsweise im Projekt „Arzneimittelinitiative Sachsen-Thüringen" (ARMIN) zwischen Haus- und Fachärzten sowie Apotheken. ARMIN war Vorreiter zur Optimierung der Arzneimittel- und Therapiesicherheit durch einen elektronischen Medikationsplan und ein gemeinsames Medikationsmanagement durch Arzt und Apotheker. Wir arbeiten gemeinsam mit Startups an neuen digitalen Behandlungsmöglichkeiten und unterstützen unsere Versicherten mit einem leichten Zugang. Ein Beispiel ist die Gesundheits-App „eCovery“, die bei Knie- und Hüftbeschwerden eine digitale Bewegungstherapie bietet, wobei wir unseren Versicherten Kosten erstatten. Außerdem nutzen wir telemedizinische Ansätze, um gemeinsam mit der Kassenärztlichen Vereinigung in Kooperation mit einer Universitätsklinik die Facharztversorgung auf dem Land zu sichern. Damit können ländliche Regionen an den besseren Versorgungsstrukturen in den Ballungsräumen teilhaben. In anderen Projekten haben wir ein Gesamtbudget zur Verfügung gestellt und gesagt: Es ist nicht mehr wichtig, in welchem ambulanten oder stationären Segment Ihr die Patienten betreut, sondern dass Ihr Euch um eine gute Versorgung der Patienten kümmert. Mit unserem Marktanteil von mehr als 50 Prozent in Thüringen und 60 Prozent in Sachsen sind für uns selektivvertragliche Regelungen nicht mehr ein primäres Ziel. Zwischenzeitlich übernehmen wir mit unseren Lösungsansätzen zunehmend die Aufgabe, gemeinsam mit allen Akteuren die Versorgung der gesamten Bevölkerung in der Region zu sichern. Das ist unser Auftrag. Da haben wir in den vergangenen Jahren ein gutes Vertrauensverhältnis zu unseren Vertragspartnern und der Politik aufgebaut.

„Bei der Knappheit an Fachkräften werden wir uns Ineffizienzen im Gesundheitswesen nicht mehr leisten können.“

Rainer Striebel

Vorstandsvorsitzender AOK PLUS

Wie äußert sich das?

Striebel: Es ist uns beispielsweise in beiden Bundesländern gelungen, mit vielen wichtigen Akteuren im Gesundheitswesen sowie den kommunalen Ebenen ein gemeinsames Verständnis zu den aktuellen Herausforderungen und zu grundlegenden Lösungsansätzen zu entwickeln. Gemeinsame Zielbilder waren hier ein sinnvoller Weg. Dadurch signalisieren wir auch der Landespolitik, dass wir gemeinschaftlich an den großen Herausforderungen arbeiten wollen und uns intensiv in die Erarbeitung und Umsetzung von Lösungsansätzen einbringen. Es besteht zwischen den Akteuren in beiden Ländern eine grundsätzliche Übereinstimmung über die Notwendigkeit von Strukturreformen. Allen Beteiligten ist klar: Wir können es nur gemeinsam schaffen, auch wenn wir unterschiedliche Vorstellungen über den richtigen Weg haben. Denn es geht um die Patientinnen und Patienten, um die Versicherten. Das ist auch unser Anspruch, und hier sind wir auf einem guten Weg.
 
Reichen dazu die derzeitigen gesetzlichen Rahmenbedingungen aus?

Striebel: In den vergangenen Jahren ist viel passiert und den Kassen wurden wichtige Aufgaben übertragen. Dennoch gibt es durchaus rechtliche Restriktionen, und wir hoffen, dass diese in den anstehenden Reformen geändert werden. Wir brauchen zum Beispiel mehr Möglichkeiten, um eigenständige Versorgungs- und Finanzierungsmodelle zu entwickeln, die regional passgenau sind. Insgesamt brauchen wir zwischen der Bundes- und Landesebene ein neues Verständnis, wie wir den Grundsatz der Subsidiarität im Gesundheitswesen sinnvoll weiterentwickeln können.
 
Was müsste am dringendsten geändert werden?

Striebel: Wenn wir ernsthaft zu einem sektorenverbindenden Gesundheitssystem kommen wollen, müssen wir die bisherigen Finanzierungssysteme grundlegend auf den Prüfstand stellen. Wenn wir allein im ambulanten und stationären Sektor die große Anzahl von verschiedenen Vergütungssystemen anschauen, dürfen wir uns über die bestehenden Dysfunktionalitäten nicht wundern. Auf der Grundlage von Vertrauen ist es aus meiner Sicht gut möglich, ein grundlegendes Vergütungssystem zu schaffen, das allen Beteiligten eine gute Planbarkeit bietet und die bürokratischen Aufwände deutlich reduziert. Wenn wir dazu noch transparente und überprüfbare Qualitätsvereinbarungen treffen, schaffen wird die Voraussetzungen für eine gute medizinische Versorgung aus der Patientenperspektive.
 
Sehen Sie die Chance auf solche Änderungen?

Striebel: Da der Handlungsdruck im Gesundheitswesen weiter zunehmen wird, kommen die Politik und die gemeinsame Selbstverwaltung an diesem Thema nicht mehr vorbei. In der Krankenhausreform sind einige sinnvolle Änderungen vorgesehen. Allerdings müssen wir aufpassen, dass wir nicht wieder eine Vielzahl von einzelnen Bausteinen verändern wollen, ohne dass wir zuvor ein Gesamtzielbild beschrieben haben. Das wird so nicht mehr funktionieren. Wichtig wäre, wie bei einem Puzzle erst zu schauen, welches Bild entstehen soll, und dann gemeinsam zu verstehen, welche Puzzleteile dazu erforderlich sind.  Deshalb ist es so wichtig, dass wir gemeinsam mit allen Akteuren nach Lösungen suchen, die regional passen. Und wenn wir konsequent aus Sicht der Patienten und Versicherten nach guten Lösungen suchen, werden auch die Partikularinteressen der einzelnen Interessengruppen zunehmend kleiner. Und noch ein wichtiger Punkt: Das Versprechen der gesetzlichen Krankenversicherung lautet, dass jede und jeder Versicherte im Krankheitsfall in angemessener Zeit, in angemessener Entfernung und in angemessener Qualität eine sachgerechte medizinische Versorgung erhält. Dafür bezahlen die Versicherten und Arbeitgeber hohe Beiträge. Wenn wir dieses Versprechen nicht mehr halten können, laufen wir Gefahr, das Solidaritätsprinzip der GKV zu delegitimieren. Deshalb halte ich es für extrem wichtig, dass wir den Menschen, gerade im ländlichen Rahmen, weiterhin die Sicherheit einer ausreichenden medizinischen Versorgung geben können. Diese wird aber gerade aufgrund des Fachkräftemangels anders aussehen als bisher. Dazu will die AOK PLUS gegenüber der Politik Probleme offen ansprechen und gemeinsam mit Partnern Lösungsbeiträge liefern.
 
Was wäre das erste Thema, das angegangen werden müsste?

Striebel: Ich setze aktuell insbesondere auf die anstehende Krankenhausstrukturreform. Wenn die gut gemacht wird, haben wir einen Orientierungs- und Handlungsrahmen, der uns die Chance gibt, in den Regionen vor Ort sinnvolle Lösungen zu finden. Das ist die zentrale Herausforderung: Wir brauchen bundespolitisch klare Leitplanken, die zugleich sachgerechte regionale Lösungen ermöglichen. Ein Vorgehen nach dem Motto „one size fits all“ wird nicht flächendeckend funktionieren. Dafür sind die Regionen zu unterschiedlich, auch innerhalb eines Bundeslandes. Mit solchen Leitplanken hätten wir einen Rahmen, der zum einen kein Verwässern der Strukturreform zulässt und uns gleichzeitig die notwendigen regionalen Gestaltungsräume gibt.
 
In beiden Bundesländern stehen Anfang September Landtagswahlen an. Was erwarten Sie, gerade nach den Ergebnissen der Europawahl?

Striebel: Das ist der Blick in die Glaskugel. Mich treibt die Sorge, dass wir in beiden Ländern Wahlergebnisse erhalten, die regierungsfähige Mehrheiten in den Landtagen schwierig machen. In Thüringen haben wir in den vergangenen fünf Jahren erlebt, wie anspruchsvoll, aber auch inhaltlich limitiert eine Minderheitsregierung ist. Wir brauchen in beiden Ländern im demokratischen Spektrum stabile Mehrheiten, um die Herausforderungen der nächsten Jahre in der Gesundheitsversorgung der Menschen zu lösen. Dabei werden künftig auch unangenehme politische Entscheidungen notwendig sein. Diese müssen Politik, Ärzteschaft, Kliniken und auch wir als Krankenkassen gemeinsam den Menschen gut erklären und richtig umsetzen.
 
Welche Rolle wird die AOK PLUS spielen?

Striebel: Wir werden weiter im Interesse unserer Beitragszahlenden Verantwortung übernehmen und unsere Expertise einbringen. Wir wollen noch mehr als Gesundheitslotsin wahrgenommen werden, als Begleiterin unserer Kundinnen und Kunden, und wir wollen gute Services bieten und beim Finden von Lösungen unterstützen. Darauf richten wir unsere gesamte Organisation aus. Durchaus mit Erfolg. Wir werden schon jetzt als Kasse wahrgenommen, die mehr an Service und Zusatzleistungen bietet als viele Mitbewerber.
 
Welche Bedeutung hat dabei die Digitalisierung?

Striebel: Digitalisierung ist nach der ursprünglichen Begriffsdefinition „nur“ eine Umwandlung von analogen in digitale Datenformate mit dem Ziel, konsequent Potenziale auszuschöpfen. Heute wissen wir jedoch, dass vor der Frage, was wir digitalisieren wollen, wir zunächst die bestehenden Prozesse und Strukturen überprüfen und verändern müssen. Erst dann kommt die Frage, wie wir die Möglichkeiten der Digitalisierung sinnstiftend einsetzen können. Dank neuer technologischer Möglichkeiten können wir neue Angebote für unsere Kundinnen und Kunden sowie Vertragspartner entwickeln. Damit meine ich zum Beispiel die verschiedenen Funktionen unserer „AOK NAVIDA“-App. Unser Ziel ist es, damit den Lebenswelten unserer Kundinnen und Kunden näher zu kommen und ihnen einen deutlichen Mehrwert zu bieten.
 
Was erhoffen Sie sich von der elektronischen Patientenakte, der ePA?

Striebel: Ich glaube, eine gut gemachte ePA wird uns in der Verbesserung der medizinischen Versorgung sehr helfen können. Entscheidend wird sein, die ePA so auszugestalten, dass sie aus Sicht der Ärzteschaft und den Versicherten einen relevanten Mehrwert stiftet. Und es ist wichtig, den Fragen und Vorbehalten gegen die ePA zu begegnen und für die Sinnhaftigkeit zu Gunsten der eigenen Gesundheit zu werben. Bei der Akzeptanz solcher digitalen Prozesse haben wir in Deutschland gerade im europäischen Vergleich noch Nachholbedarf. Ein bisschen mehr Mut zur Veränderung wäre gut.

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