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Fehlzeiten: Deutschland braucht eine gute Datenbasis

31.01.2025 Maria Sinjakowa 5 Min. Lesedauer

Deutschland hat im internationalen Vergleich eine der höchsten Fehlzeiten pro beschäftigte Person und Jahr. Gleichzeitig gibt es hierzulande eines der großzügigsten Systeme zur Lohnfortzahlung im Krankheitsfall weltweit. Eine Regelung, die Beschäftigte absichert, aber auch viele Fragen aufwirft, wie eine Diskussion am gestrigen Donnerstag zeigte, die OECD Berlin Center veranstaltet hat.

Mann sitzt auf Sofa mit Decke und Taschentuch und putzt sich die Nase
Die meisten Krankschreibungen gab es 2024 aufgrund von Atemwegserkrankungen.

Führt eine großzügige Lohnvorzahlung zu mehr Fehltagen? Laut Nicolas Ziebarth vom Zentrum für europäische Wirtschaftsforschung in Mannheim zeigen viele Studien bei dieser Frage klare Zusammenhänge: „Je großzügiger die Lohnfortzahlung, desto eher melden sich Arbeitnehmer krank.“ Darüber hinaus bestätigen Umfragen, dass sich rund ein Drittel der Beschäftigten in Zweifelsfällen – sogenannten Bettkantenentscheidungen – eher für eine Krankmeldung entscheidet. Doch ist das schon ein Missbrauch des Systems? In Deutschland erhalten Angestellte im Krankheitsfall bis zu sechs Wochen ihr volles Gehalt vom Arbeitgeber. Danach springt die Krankenkasse ein und zahlt bis zu 70 Prozent des Bruttolohns für maximal anderthalb Jahre.

Die Debatte darüber hat durch den sprunghaften Anstieg der Krankenstände seit 2021 an Fahrt gewonnen. Viele Arbeitgeberverbände sehen darin einen Effekt der telefonischen Krankschreibung, doch Experten wie Christopher Prinz von der OECD widersprechen. „Die Fehlzeiten waren schon immer relativ hoch, sie wurden nur unzureichend erfasst. Die verbesserte elektronische Datenübermittlung zeigt dies nun deutlich.“ Zwar spielen auch andere Faktoren wie Long-Covid, Infektionskrankheiten oder durch Corona verändertes Krankmeldeverhalten dabei eine Rolle, die langfristige Zunahme sei aber vor allem auf eine bessere Datenbasis zurückzuführen.

„Die Fehlzeiten waren schon immer relativ hoch, sie wurden nur unzureichend erfasst. Die verbesserte elektronische Datenübermittlung zeigt dies nun deutlich.“

Christopher Prinz

OECD-Arbeitsmarktexperte

Karenztage: Eine Lösung mit Nebenwirkungen

Ein Vorschlag, um Fehlzeiten zu reduzieren, kommt von Oliver Bäte, dem Chef des Versicherungskonzerns Allianz: die Einführung von Karenztagen. Das bedeutet, dass Beschäftigte am ersten Tag jeder Krankheitsepisode kein Gehalt erhalten sollen. Volkswirt Ziebarth ist jedoch skeptisch. „Das ist ein rückwärtsgewandter Holzhammer-Vorschlag. Wir hatten sie in den 70er-Jahren und sie wurden aus guten Gründen wieder abgeschafft.“ Studien etwa aus Schweden zeigten, dass Karenztage paradoxe Effekte haben könnten: Wer sich einmal krankmelde, bleibe dann oft länger zu Hause, um nicht bei einer erneuten Erkrankung wieder einen Lohnausfall zu riskieren. Zudem führe die Maßnahme dazu, dass Beschäftigte krank zur Arbeit kämen, was Produktivität senke und Infektionen im Betrieb steigere.

Auch aus sozialer Perspektive ist der Vorschlag umstritten. Gerade Geringverdiener wären besonders betroffen. „Ein Karenztag entspricht etwa fünf Prozent des Monatslohns – für Menschen mit niedrigen Einkommen ist das eine erhebliche Belastung“, warnte Norbert Reuter vom Verdi-Bundesvorstand. Statt Arbeitnehmer zu bestrafen, müssten die Arbeitsbedingungen verbessert werden.

Bild einer Frau, die mit einer Hand vor dem unteren Teil ihres Gesichts verzweifelt vor ihrem Bett sitzt. Über ihr befindet sich in einer gelben Sprechblase ein Kompasssymbol
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Der Unterschied: Krank sein oder arbeitsunfähig

Ein zentraler Punkt der Diskussion war die Unterscheidung zwischen „krank sein“ und „arbeitsunfähig sein“. „Nicht jede Krankheit bedeutet automatisch, dass jemand nicht arbeiten kann“, betonte Dr. Susanne Wagenmann von der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA). Ein Büroangestellter mit einer Wadenverletzung kann möglicherweise aus dem Homeoffice arbeiten, während ein Profifußballer mit derselben Diagnose definitiv ausfällt. Wagenmann zufolge kommt hier die Rolle der Ärzte ins Spiel. „Die ärztliche Krankschreibung entscheidet derzeit vor allem über das ‚Krank sein‘, aber nicht ausreichend über die tatsächliche Arbeitsfähigkeit“, kritisiert die BDA-Vertreterin. In anderen Ländern wie den Niederlanden gebe es deshalb eine klare Trennung: Allgemeinmediziner stellten Diagnosen, aber über die Arbeitsfähigkeit entscheide ein spezialisierter Arbeitsmediziner, ergänzte der OECD-Arbeitsmarktexperte Prinz.

Zudem würden Krankmeldungen in Deutschland oft ohne persönlichen Kontakt ausgestellt, betonte Wagemann. „Die Feststellung der Arbeitsunfähigkeit ist eine ärztliche Kernaufgabe und darf nicht delegiert werden – auch wenn der Praxisalltag oft eine andere Realität zeigt.“ Hier befürchten Arbeitgeberverbände Missbrauch. Gleichzeitig weisen Gewerkschaften darauf hin, dass auch das Gegenteil ein Problem sei: „Viele Beschäftigte gehen krank zur Arbeit – aus Angst, als Simulanten zu gelten oder weil sie sich verpflichtet fühlen“, betonte Verdi-Experte Reuter.

„Die ärztliche Krankschreibung entscheidet derzeit vor allem über das ‚Krank sein‘, aber nicht ausreichend über die tatsächliche Arbeitsfähigkeit“

Dr. Susanne Wagenmann

Alternierende Vorsitzende des Vorstands der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA)

Missbrauch: Eine überzogene Debatte

Nach Meinung von Christopher Prinz folgt die Diskussion über den Missbrauch von Sozialleistungen oft einem bekannten Muster: Sie wird aufgebauscht, ohne dass es belastbare Belege für eine systematische Problematik gibt. Tatsächlich zeigen Erfahrungen aus anderen Ländern, dass Investitionen in effektive Kontrollmechanismen meist belegen, dass der tatsächliche Missbrauch deutlich geringer ausfällt als angenommen. Ein Beispiel sei die Schweiz, wo eine heftige Debatte über angeblichen Missbrauch von Invaliditätsleistungen tobte – bis gezielte Kontrollen die Vorwürfe weitgehend entkräfteten. Sobald Missbrauchsfälle überprüft und als Randerscheinung entlarvt wurden, verschwand das Thema aus der politischen Debatte. Eine solche Herangehensweise könnte auch in Deutschland helfen, die Diskussion zu versachlichen und faktenbasiert zu führen.

Managementqualität: Der blinde Fleck der Arbeitswelt

Für Prinz bleibt in der Debatte um die Fehlzeiten ein entscheidender Faktor meist unbeachtet: die Qualität des Managements. Objektive Indikatoren belegen, dass die Arbeitsbedingungen in Deutschland insgesamt gut sind und sich sogar verbessert haben. Dennoch sind viele Beschäftigte wenig zufrieden. „Studien zeigen, dass nur etwa 20 Prozent der Arbeitnehmer in Europa wirklich motiviert zur Arbeit gehen – der Rest macht eher Dienst nach Vorschrift“, meint Prinz. Ein Schlüsselfaktor dafür sei das Management: Während in den USA das Verständnis für gutes Führungsverhalten ausgeprägt sei, fehle es in Europa oft an Bewusstsein für dessen Bedeutung. Gute Führung könne wesentlich dazu beitragen, die Zufriedenheit und Produktivität in Unternehmen zu steigern. Statt ausschließlich über Arbeitsbedingungen zu sprechen, müsste daher stärker hinterfragt werden, welche Rolle schlechtes Management für das Wohlbefinden und die Leistungsbereitschaft von Beschäftigten spiele. Ein Lösungsansatz sei hier, das betriebliche Gesundheitsmanagement zu stärken und die Führungskräfte für diese Thema zu sensibilisieren. Wagenmann, die auch alternierende Vorsitzende des Aufsichtsrats des AOK-Bundesverbandes ist, betonte, dass viele Unternehmen sich da schon auf den Weg gemacht haben. Außerdem bieten Krankenkassen vor allem mittleren und kleinen Unternehmen, die die Gesundheit ihrer Beschäftigten fördern möchten, Unterstützung.

Ein weiterer Aspekt für die hohen Fehlzeiten ist die steigende Zahl psychischer Erkrankungen. „Wir sehen einen fast linearen Anstieg seit 2000“, so Wirtschaftswissenschaftler Ziebarth. „Gründe dafür sind unklar, aber lange Ausfallzeiten und hohe Belastungen für Unternehmen und das Gesundheitssystem machen das Thema brisant.“ Unternehmen könnten hier mit gezieltem Gesundheitsmanagement ansetzen – doch bislang sei das eher die Ausnahme als die Regel.

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Mehr Daten, weniger Ideologie

Die Debatte um Krankenstände in Deutschland ist emotional, auch weil belastbare Daten fehlen. „Wir brauchen eine konsistente, repräsentative Datenbasis“, fordert Ziebarth. Dieser Forderung schließen sich alle Diskutanten an. Erst dann könne man seriös bewerten, ob Deutschland wirklich ein Problem mit übermäßigen Krankmeldungen habe oder ob es sich um eine statistische Verzerrung handele. Was klar aus der Diskussion hervorgeht: Pauschale Lösungen wie Karenztage sind umstritten und bringen mehr Schaden als Nutzen. Stattdessen muss es darum gehen, Fehlzeiten gezielt zu reduzieren – durch bessere Arbeitsbedingungen, Betriebliches Gesundheitsmanagement und eine kluge Balance zwischen Schutz und Anreizen.

Mitwirkende des Beitrags