Nur wer hinsieht, kann helfen
Immer mehr Menschen erleiden häusliche Gewalt. Die Gesundheitsberufe können für die Betroffenen eine wichtige Schnittstelle zu Hilfsmöglichkeiten sein – wenn sie gut informiert sind, Warnsignale erkennen und sensibel nachfragen.
Schlagen, Beschimpfen, sexueller Missbrauch, Vernachlässigen – häusliche Gewalt hat viele Gesichter, und sie findet in der Regel hinter verschlossenen Türen statt. Die Dunkelziffer ist hoch. Schätzungen zufolge erstatten nur zehn Prozent der Betroffenen Anzeige. Für das Jahr 2023 verzeichnete die Polizei mehr als 256.000 Fälle, 2022 waren es noch rund 240.000. In den vergangenen fünf Jahren sind die Zahlen von polizeilich registrierter häuslicher Gewalt um 19,5 Prozent angestiegen.
Gewalt im eigenen Zuhause
Häusliche Gewalt betrifft überwiegend Frauen: Rund 70 Prozent der Betroffenen sind weiblich, etwa 30 Prozent männlich. Bei Gewalt innerhalb von Partnerschaften liegt der Frauenanteil sogar noch höher. „Alle drei Minuten erlebt eine Frau oder ein Mädchen in Deutschland häusliche Gewalt“, bilanzierte Bundesinnenministerin Nancy Faeser im November 2024 bei der Vorstellung des Lagebilds „Geschlechtsspezifisch gegen Frauen gerichtete Straftaten“. Doch auch ältere Menschen, Kinder und Männer erfahren Gewalt in ihrem eigenen Zuhause.
Für die Betroffenen kann ein Arztbesuch oder ein Impftermin eine erste, manchmal die einzige Möglichkeit sein, Hilfe zu bekommen. „Viele Betroffene gehen nicht zur Polizei. Aber sie haben Kontakt zum Gesundheitssektor, zum Beispiel bei einer Vorsorgeuntersuchung“, erklärt Bettina-Pfleiderer. Die Ärztin und Wissenschaftlerin leitet an der Universität Münster das EU-Projekt „VIPROM – Opferschutz in der Medizin“. Ob beispielsweise eine Ärztin oder ein Physiotherapeut Anzeichen von häuslicher Gewalt erkennt und wie sie oder er darauf eingeht, ist von entscheidender Bedeutung. „Wenn wir im Gesundheitssektor Symptome, die auf Gewalt hindeuten können, nicht erkennen, lassen wir die Betroffenen allein“, ist sich Pfleiderer sicher.
Bundesweite Hilfsangebote
An Ansätzen, den medizinischen Sektor für die Problematik zu sensibilisieren, mangelt es nicht: Die Ärztekammern Nordrhein und Westfalen-Lippe gaben bereits 2005 den Leitfaden „Diagnose: Häusliche Gewalt“ heraus, um die Gesundheitsberufe über Warnsignale und angemessene Reaktionen zu informieren. Er umfasst unter anderem Dokumentationsbögen, Handlungsempfehlungen und Infos zur Sicherung von Beweismitteln. Auch der 2002 in Berlin gegründete Verein „S.I.G.N.A.L. – Intervention im Gesundheitsbereich gegen häusliche und sexualisierte Gewalt“ stellt umfangreiches Material bereit. 2009 initiierte das Bundesfamilienministerium im Rahmen des zweiten Aktionsplans der Bundesregierung zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen das Modellprojekt „Medizinische Intervention gegen Gewalt“, das den Fokus auf die Sensibilisierung und Schulung von niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten legte.
Hinschauen und nachfragen
Doch wenn ein Verdacht auf häusliche Gewalt vorliegt, wird immer noch viel zu häufig nichts unternommen. „Der Grund ist oft Unsicherheit“, erklärt Bettina Pfleiderer. „Wie soll ich das Thema ansprechen? Ist mein Verdacht überhaupt begründet? Da gibt es ein großes Wissensdefizit.“ Das Projekt VIPROM setzt darum auf Information und stark praxisorientierte Lern- und Lehrangebote, unter anderem eine frei zugängliche Lernplattform im Internet. Doch diejenigen, die im Gesundheitssektor arbeiten, müssen gar nicht alles wissen und können, sagt Bettina Pfleiderer: „Ihre wichtigste Rolle ist die eines Türöffners in das System der Hilfs-angebote. Und um die auszufüllen, müssen sie vor allem hinschauen und nachfragen.“
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