„Wir haben eine gute Ausgangsposition“
Der Intensivmediziner Christian Karagiannidis rät dazu, aus der Pandemie zu lernen, ohne „darin verhaftet zu bleiben“. Um das Gesundheitswesen resilienter aufzustellen, müsse das Tempo der Gesetzgebung beibehalten werden. Die elektronische Patientenakte hält der in zwei Regierungskommissionen aktive Experte für einen „echten Quantensprung“.
Herr Professor Karagiannidis, Sie haben im März 2020 innerhalb von zwei, drei Wochen federführend das Intensivbetten-Register auf die Beine gestellt. Wie war das in so kurzer Zeit möglich?
Prof. Dr. Christian Karagiannidis: Das war das Momentum der Pandemie. Das Register hatte einen langen Vorlauf. Bestimmt zehn Jahre lang haben wir probiert, es einzurichten. Das scheiterte immer an der Finanzierung. Ehrlicherweise muss man aber sagen, dass auch die Krankenhäuser wenig daran interessiert waren, freiwillig zu melden, was aktuell passiert. In der Pandemie wurden die Daten dann so essenziell, dass plötzlich Geld geflossen ist. Und seitens der Bundesregierung, des Bundesgesundheitsministeriums und des Robert-Koch-Instituts war dann der Wille da, es gemeinsam mit uns umzusetzen. Natürlich war auch der gesellschaftliche Druck hilfreich. Es war viel Arbeit, aber auch kein Hexenwerk, weil keine große technische Entwicklung dahinterstand, sondern wir vorhandene Daten digital verknüpfen konnten. Wir werden das Intensivbetten-Register jetzt nochmal ein bisschen verschlanken und auf die wesentlichen Daten konzentrieren, damit das Einpflegen im Klinikalltag nicht zu viel Zeit in Anspruch nimmt. Das ist ein wichtiger Punkt.
An gesetzlichen Vorgaben zur Digitalisierung des Gesundheitswesens mangelt es ja mittlerweile nicht. Wie wirken die?
Karagiannidis: Es sind schon einige Dinge wirklich besser geworden. Durch das noch aus der Amtszeit von Jens Spahn stammende Krankenhauszukunftsgesetz gibt es ja eine Sonderförderung des Bundes für die Digitalisierung der Krankenhäuser. Das bietet erst einmal die Grundvoraussetzung, dass wir in diesem Bereich aufholen. Einen echten Quantensprung erwarte ich von der Einführung der elektronischen Patientenakte. Die ePA wird vieles verbessern, auch wenn es Kritik gibt und vielleicht am Anfang ein bisschen wacklig sein wird. Für uns im Krankenhaus ist die ePA ein riesiger Meilenstein. Wir beschäftigen uns im Klinikalltag so viel damit, Befunde zusammenzusuchen, bei Hausärzten anzurufen und so weiter. Oft erhalten wir aber die Befunde dann nicht. Das wird sich durch die ePA ändern, da bin ich mir sicher.
Sie sind Mitglied im Expertinnen-/Expertenrat „Gesundheit und Resilienz“ der Bundesregierung, dem Nachfolgegremium des Corona-Expertenrates. Ende Dezember vergangenen Jahres hat der Rat seine achte Stellungnahme vorgelegt. Welche Wirkung hat Ihre Beratungstätigkeit?
Karagiannidis: Grundsätzlich bekommt der Rat weniger öffentliche Aufmerksamkeit als sie der Corona-Expertenrat hatte. Themen und Stellungnahmen sind in erster Linie für Entscheidungsträger gedacht; sie führen auch sicher nicht sofort zu irgendeiner konkreten Änderung. Ich kann mir aber vorstellen, dass unsere siebte Stellungnahme zu „Resilienz und Gesundheitssicherheit im Krisen- und Bündnisfall“ größere Aufmerksamkeit erhalten und wirken wird. Denn im Gegensatz zu anderen gesellschaftlichen Bereichen fehlt uns im Gesundheitswesen ein Sicherstellungsgesetz. Wir sind hierzulande alle im Frieden aufgewachsen. Aber jetzt ist der Nato-Bündnisfall nicht mehr auszuschließen, das muss man ja leider so sagen. Insofern ist es sehr dringlich, dass wir ein Gesundheitssicherstellungsgesetz bekommen.
„Wir können aus der Pandemie lernen, dürfen aber geistig nicht darin verhaften bleiben.“
Pneumologe und Intensivmediziner an der Lungenklinik Köln-Merheim
Ein solches Gesetz hatte Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach bereits vorbereitet. Es ist wie andere seiner Vorhaben durch das Ampel-Aus gescheitert.
Karagiannidis: Richtig. Dieses Vorhaben gehört zusammen mit dem leider auch nicht mehr vom Bundestag verabschiedeten Pflegekompetenzgesetz und dem Notfallgesetz zu den Projekten, die zu Beginn der nächsten Legislaturperiode sehr schnell umgesetzt werden müssen. Wir brauchen für den Bündnisfall klare gesetzliche Regeln, welche Krankenhäuser für welche Aufgaben zuständig sind.
Wie geht es mit dem Expertenrat nach der Bundestagswahl weiter?
Karagiannidis: Mein Eindruck ist, dass die bisherige Bundesregierung die Arbeit der Räte sehr geschätzt hat. Ob die nächste mit so einem wissenschaftlichen Gremium weiterarbeiten will, weiß ich nicht. Empfehlen würde ich es ihr, denn damit macht sich die Politik auch weniger angreifbar.
Sachsen hat im Dezember vergangenen Jahres einen Landtagsausschuss zur Aufarbeitung der Pandemie eingesetzt. Auf Bundesebene wurde darüber viel diskutiert, passiert ist bisher nichts. Wie stehen Sie dazu?
Karagiannidis: Wir können aus der Pandemie lernen, dürfen aber geistig nicht darin verhaften bleiben. Ich glaube, wir würden uns mit der Aufarbeitung grundsätzlich schwertun. Retrospektiv hat jeder ein anderes Bild von dem, was damals wirklich passiert ist. Vor einer langen und Ressourcen-intensiven Aufarbeitung sollten wir außerdem gut überlegen, ob wir auch bereit sind, Schlussfolgerungen umzusetzen. Wir täten allerdings gut daran, noch einmal klar zu machen, wie die wahre Ist-Situation war.
Etwa in Bezug auf die Intensivbetten-Auslastung, die ja im Nachhinein auch infrage gestellt wurde?
Karagiannidis: Davon zu sprechen, es habe keine Überlastung gegeben, halte ich für wirklich daneben. Wir hatten 2018 eine der stärksten Influenza-Wellen mit in der Spitze zeitgleich 3.000 Patienten auf den Intensivstationen. In der Corona-Pandemie waren es mehrfach 6.000 Patienten gleichzeitig. Und schon 2018 hatten wir echt Schwierigkeiten, alle Patienten wirklich gut zu versorgen. In der Pandemie haben wir diese außergewöhnlich hohe Belastung nur auf Kosten aller anderen Behandlungen überhaupt geschafft. Und wir hatten das große Glück, dass es durch die Masken und andere Corona-Maßnahmen viel weniger andere Erkrankungen gab. Es gab keine Influenza-Welle, und wir hatten auch deutlich weniger COPD-Patienten. Zudem konnten wir Covid-19-Intensivpatienten über das Kleeblatt-System aus Krankenhäusern in besonders von Corona betroffenen Bundesländern in Kliniken mit geringerer Belastung verlegen.
Wie viel besser als im Januar 2020 steht das Gesundheitswesen heute da?
Karagiannidis: Ich bin grundsätzlich positiv eingestellt. Ich bin aber auch der Meinung, wir sollten nicht zu viel zurückblicken, sondern aus der Rückschau nur lernen, was wir jetzt nach vorne brauchen. Und da sind – wie gesagt – das Gesundheitssicherstellungsgesetz, das Notfallgesetz und das Pflegekompetenzgesetz das A und O. In den nächsten Jahren kommen große Probleme auf uns zu – allein schon durch den demografischen Wandel in der Pflege. In meinem Heimatland Nordrhein-Westfalen sind 30 Prozent der Pflegenden älter als 55 Jahre, nur 15 Prozent sind unter 30. Wir kommen also auch in diesem Bereich um tiefgreifende Reformen nicht herum.
Sie waren auch Mitglied der Regierungskommission zur Reform der Krankenhausversorgung. Inwiefern sind in deren Vorschläge Lehren aus der Pandemie eingeflossen?
Karagiannidis: Gerade auch die Beatmungsmedizin als Beispiel ist sehr komplex. Der Grundansatz der Krankenhausreform ist mehr Spezialisierung unter Beibehaltung der Basismedizin in der Breite. Mit dieser Reform wird mehr Spezialisierung kommen, davon bin ich überzeugt. Die Patientenversorgung wird am Ende besser dastehen als im Moment. Ich sehe das Ganze aber auch mit einem weinenden Auge, weil die Regierungskommission vorgeschlagen hatte, die Krankenhauslandschaft klar in drei Versorgungsstufen einzuteilen. Dabei sollte sich die höchste Versorgungsstufe 3 um die ganz schweren Fälle kümmern, Krankenhäuser der Stufe 1 dagegen nur noch eine Basisversorgung leisten. Das haben die Bundesländer kategorisch abgelehnt. Dem trauere ich wirklich noch hinterher. Das wäre der Versorgungsqualität noch mal deutlich mehr zuträglich gewesen.
Karl Lauterbach hat in gut drei Jahren Amtszeit 19 Gesundheitsgesetze auf den Weg gebracht. Er hat alle Beteiligten ziemlich unter Strom gesetzt und häufig auch gegen sich aufgebracht. Hat er einfach zu viel auf einmal gewollt?
Karagiannidis: In den vergangenen 20 Jahren ist so viel liegen geblieben. Das konnte er nicht noch weiter auf die lange Bank schieben. Ihm blieb gar nichts anderes übrig, als das Ganze in irgendeiner Form aufzuholen. Wenn man es mal positiv formuliert: Wir haben jetzt eine gute Ausgangsposition. Bei großen Gesetzen wie der Krankenhausreform ist es nicht unüblich, dass man nach den ersten Erfahrungen Fehler korrigiert. In der Regierungskommission zur Reform der stationären Versorgung haben wir klar gesagt, dass wir eine Evaluation brauchen. Leider ist das ja beim Fallpauschalen-System nicht geschehen. Wenn man da nach fünf oder zehn Jahren wichtige Stellschrauben verändert hätte, dann wäre es gar nicht so weit gekommen. Insofern glaube ich, dass Lauterbach schon das Richtige gemacht hat. Aber die Aufholjagd bleibt riesig. Deshalb muss es in der nächsten Legislaturperiode eigentlich mit der gleichen Geschwindigkeit weitergehen – auch wenn das keiner hören will.
Zur Person
Prof. Dr. med. Christian Karagiannidis arbeitet als Pneumologe und Intensivmediziner an der Lungenklinik Köln-Merheim. Der 51-Jährige gehörte dem Corona-Expertenrat an und ist Mitglied im Expertinnen-/Expertenrat „Gesundheit und Resilienz“ der Bundesregierung sowie in der Regierungskommission zur Reform der Krankenhausversorgung.
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