Im Abseits gelandet
Bis zu einer Million Menschen sind hierzulande nicht krankenversichert. Oft Obdachlose, Migranten ohne Aufenthaltsstatus oder Arbeitslose aus EU-Ländern wie Rumänien und Bulgarien. Hilfe bekommen sie durch engagierte Ärzte und Sozialarbeiter.
Am frühen Morgen hatte Karl sein Quartier verlassen, war in den Bus gestiegen und ans andere Ende der Stadt gefahren. Mehr als eine Stunde brauchte er bis zu seinem Ziel. Am Ende stand er vor verschlossenen Türen. Erst nachmittags öffnet die medizinische Anlaufstelle für Menschen ohne Krankenversicherung. Zweimal wöchentlich versorgen Mediziner der Hilfsorganisation „Ärzte der Welt“ in Berlin-Lichtenberg jene, die oft unversorgt bleiben. An diesem Tag kann Karl nicht warten. Er ist Diabetiker und braucht dringend Medikamente. Also nimmt er den Weg zur nächsten U-Bahn-Station.
Es ist kurz nach 13 Uhr an diesem Mittwoch, als Karl den Bahnhof Zoo erreicht. Mit seinem Rollator steuert er den weißen VW-Bus an, der in einer Seitenstraße parkt. Seine Gehhilfe stützt nicht nur ihn, sie trägt auch ein halbes Dutzend Taschen und Tüten, Rucksack, Regenschirm und Greifstock. Seit Jahren ist der 77-Jährige wohnungslos. Wie lange? Das weiß er selbst nicht so genau. Endlich hat er den Bus erreicht, setzt sich auf den Campingstuhl vor der geöffneten Schiebetür und wartet.
Hier, hinter dem Bahnhof, wirkt alles wie ausgestorben. Temperaturen um den Gefrierpunkt haben die meisten Leute von den Straßen vertrieben, einige in die Zelte des Obdachlosencamps am Ende der Gasse. Nur vor der Essenausgabe der Stadtmission, wenige Schritte von Karls Sitzplatz entfernt, warten Menschen in einer langen Schlange. Karl schaut Richtung Bustür. „Caritas-Arztmobil“ steht auf dem Wagen. An diesem Tag besteht die Besatzung aus Neurologin Dr. Dorothee Burkhard, Pflegefachkraft Luisa Raber und Sozialarbeiter Richard Rosenberger. Einen Tag lang durfte G+G das Caritas-Team in seinem rollenden Behandlungszimmer begleiten.
Unter dem Radar
Laut Statistischem Bundesamt waren 2024 etwa 439.500 Menschen aufgrund von Wohnungslosigkeit in Notunterkünften untergebracht. Die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAGW) geht sogar von 607.000 wohnungslosen Menschen aus. Denn viele Betroffene würden gar nicht erfasst. Bundesweit rund 50.000 Menschen sind laut BAGW nicht nur wohnungs- sondern obdachlos, leben also ausschließlich im Freien.
Nicht krankenversichert sind offiziell rund 60.000 Bürger. Doch diese Zahl umfasst nur Menschen, die einen legalen Aufenthaltstitel haben. Gesundheitsökonom Prof. Jürgen Wasem spricht gegenüber dem Ärzteblatt von bis zu einer Million ohne Krankenversicherung. Sozialmediziner Prof. Gerhard Trabert bestätigt diese Größenordnung. Obwohl die Zahlen dramatisch seien, finde das Thema „weder in den eigenen Professionen, noch in der Politik nachhaltig Gehör“, kritisiert Dr. Maria Goetzens, Allgemein-medizinerin und Leiterin der Frankfurter Straßenambulanz Ende vergangenen Jahres auf einer Fachkonferenz.
Am Bahnhof Zoo ist Karl endlich an der Reihe. „Ich hab‘ kein Metformin mehr“, sagt er. „Wir müssen Blutzucker messen“, antwortet Dr. Burkhardt. „Nehmen Sie weitere Medikamente?“ Karl zuckt mit den Schultern. „Ihr Zucker ist viel zu hoch, ich muss wissen, was Sie noch nehmen.“ Karl schaut ratlos. „Spritzen Sie Insulin?“ „Nein.“ Burkhard gibt ihm zwei Tabletten. Sozialarbeiter Rosenberger sagt: „Kommen Sie am Freitag zur Caritas-Ambulanz, Ihr Zucker muss kontrolliert werden.“ Karl nickt – und schlurft mit seinem Rollator davon.
„Obdachlosenhilfe funktioniert nur mit langem Atem – und manchmal führt dieser zum Erfolg.“
Caritas-Leiter Ambulanz und Arztmobil
Krankes System
Die Caritas-Ambulanz befindet sich zehn Autominuten vom Bahnhof Zoo entfernt. Dort sitzt Olaf Schüßler im Besprechungszimmer und wird in der kommenden Stunde über seine Arbeit erzählen. Der Sozialarbeiter ist Leiter des Arztmobils und der Ambulanz. 13 ehrenamtlich arbeitende Ärzte und zwei hauptamtliche Sozialarbeiter kümmern sich wöchentlich um rund 100 Menschen. „Wir haben viele Patienten mit Ektoparasiten und teilweise junge Menschen mit Polytoxikomanie, die oft ulzerierende Wunden aufweisen, wie man sie normalerweise aus dem Altenheim kennt. Außerdem Erkrankte, die schon in jungen Jahren unter ausgeprägter Herzschwäche leiden“, erzählt er.
Warum werden Menschen obdachlos? Oft seien das sehr individuelle Gründe, sagt Schüßler, aber es existierten auch Muster. „Beispielsweise vermeiden manche Menschen, die sowieso schon in schwierigen Verhältnissen leben, irgendwann den Gang zum Jobcenter und zu anderen Behören – oft, weil sie Angst vor Konflikten haben.“ Allmählich stapelten sich die Briefe im Briefkasten, darunter die Wohnungskündigung.
Am Bahnhof Zoo ist der Platz vor dem Arztmobil für einige Minuten leer. Neurologin Burkhardt nimmt einen Schluck Kaffee aus der Thermoskanne, Raber und Rosenberger starten einen Rundgang um das Bahnhofsgebäude. Für Rosenberger ist Obdachlosigkeit nicht nur ein individuelles Problem. „Wir haben ein System, das bestimmte Menschen von der Gesundheitsversorgung ausschließt“, kritisiert er. Vor allem bei der stationären Versorgung sieht er Verbesserungsbedarf. „Manchmal stehen wohnungslose Menschen nach einem Krankenhausaufenthalt schon um sechs Uhr morgens vor unserer Tür, Stunden vor Beginn der Öffnungszeit.“ Mit seiner Kritik ist er nicht allein.
Ungeklärte Finanzierung
Der Sender ProSieben berichtete Ende 2024 von einem obdachlosen Mann, der von Mitarbeitern einer Hamburger Klinik bei drei Grad Celsius vor die Tür gesetzt worden sei. Die Berliner Zeitung schilderte einen ähnlichen Fall in der Hauptstadt und das ZDF zitierte aus einer anonymen Umfrage unter Ärzten, nach der Obdachlose mit Krebs oder Knochenbrüchen in Krankenhäusern abgewiesen wurden.
An einem Donnerstagvormittag sitzt Marc Schreiner in seinem Büro in Berlin. Seit 2018 ist er Geschäftsführer der Berliner Krankenhausgesellschaft (BKG). Die BKG vertritt rund 60 Kliniken, deren Mitarbeiter jährlich rund 770.000 Patienten stationär und etwa eine Million ambulant versorgen. Schreiner kritisiert, dass Kliniken auf den Behandlungs-kosten für wohnungslose Menschen oft sitzen blieben. Hintergrund: In Berlin sind die Bezirke verpflichtet, Krankenhauskosten für unversicherte Patienten zu übernehmen. Doch 86 Prozent der gestellten Erstattungsanträge würden abgelehnt, so Schreiner. Bei 30 Prozent der Fälle erfolge gar keine Reaktion. „Aktuell gehen wir von einem jährlichen Zahlungsausfall von 15 Millionen Euro aus“, so der BKG-Chef und fügt hinzu: „Es kann nicht sein, dass Kliniken eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe erbringen und dann mit den Kosten dieser Aufgabe alleine gelassen werden.“
„An den Arztmobil-Standorten kenne ich schon einige Patienten, manche kommen immer wieder.“
Caritas-Pflegefachfrau
Fehlende Daten
G+G hat bei allen zwölf Berliner Bezirken und der Senatsverwaltung für Wissenschaft, Gesundheit und Pflege nachgefragt. Bis zum Redaktionsschluss haben sieben Bezirksämter und die Senatsverwaltung geantwortet. Die Bezirksämter Charlottenburg-Wilmersdorf, Lichtenberg, Reinickendorf und Tempelhof-Schöneberg erheben keine Daten, aus denen sich Ablehnungsquoten ermitteln lassen. Neukölln teilt mit: Man habe in den vergangenen Jahren keine Kosten übernommen, da die Anspruchsvoraussetzungen durch die Kliniken nicht nachgewiesen worden seien. Auch in Marzahn-Hellersdorf wurden 2024 alle Anträge, insgesamt 165, abgelehnt. Hauptgrund: Die Identität des Patienten konnte nicht festgestellt werden. Die Zahlen aus Berlin-Mitte stammen aus 2023. Bei zwei von insgesamt 565 Anträgen erfolgte eine Teilerstattung aufgrund eines Gerichtsverfahrens.
Darüber hinaus begründen die Bezirke ihre Ablehnungen mit den eng gefassten Regelungen des Paragrafen 25 SGB XII. Demnach müssen Kliniken Identität und Bedürftigkeit ihrer Patienten nachweisen. Zudem gehe der Anspruch auf Kostenerstattung gegenüber den Bezirken nach der Behandlung von den Kliniken auf die Patienten über. Für wohnungslose Menschen ist es aber oft unmöglich, in den Sozialämtern Nachweise vorzulegen. Der Reinickendorfer Bezirksstadtrat für Gesundheit und Soziales Uwe Brockhausen (SPD) zu G+G: „Ich habe großes Verständnis für die sehr schwierigen finanziellen Rahmenbedingungen der Krankenhäuser und die begrenzten Ressourcen, dennoch muss man die Notwendigkeit sehen, vor der Verausgabung öffentlicher Mittel den Bedarf im Einzelfall zu überprüfen.“
Die Senatsverwaltung für Wissenschaft, Gesundheit und Pflege teilt gegenüber G+G mit: Man erörtere mit den Bezirken Entlastungsmöglichkeiten der Krankenhäuser für die hohen finanziellen Ausfälle. Erste Gespräche hätten 2024 begonnen, weitere Gespräche folgten im ersten Quartal 2025.
BKG-Chef Schreiner betont: „Wir schicken keine Menschen weg – trotz fehlender Krankenversicherung. Wir haben eine Behandlungspflicht, wenn Patienten als Notfall eingeliefert werden. Jede Behandlung wird zudem dokumentiert.“ Problematisch sei jedoch die Anschlussversorgung, „da nicht genügend Einrichtungen existieren, die ebenfalls auch ohne Vergütung von uns behandelte Patienten weiter versorgen.“ Eine der wenigen Einrichtungen, die Anschlussbehandlungen anbieten, ist in Berlin das Gesundheitszentrum für Obdachlose der Jenny-de-la-Torre-Stiftung. Dass es auch dort nicht immer einfach ist, Betroffene zu erreichen, zeigt ein Besuch vor Ort.
Grenzen des Machbaren
„Nicht ins Krankenhaus“, bittet der Mann mittleren Alters im Trainingsanzug. Mit schmerzverzerrtem Gesicht sitzt er auf der Liege, während Allgemeinmediziner Dr. Christoph Biella Bauch und Rücken untersucht. „Wenn Sie bei leichtem Klopfen so starke Schmerzen haben, müssen Sie ins Krankenhaus“, sagt Biella. Der Mann sagt: „Bitte geben Sie mir Tabletten.“ Biella sagt: „Es besteht der Verdacht, dass sie eine akute Entzündung ihrer Bauchspeicheldrüse haben.“ Der Mann antwortet: „Ich verliere meinen Schlafplatz, wenn ich in eine Klinik gehe“. Er meint damit einen Schlafplatz im Freien.
Mehr als Medizin nötig
Rund 4.000 Konsultationen übernehmen Dr. Biella und seine Kollegen jährlich. Neben der Allgemeinarztpraxis gibt es zahn- und augenärztliche Behandlungen, psychologische Hilfe, außerdem Sozialberatung, Kleiderkammer und Essenausgabe. „Medizinische Versorgung allein löst die Probleme der Menschen nicht“, betont Dr. Biella. Für eine Rückkehr in einen geregelten Alltag müssten alle Lebensbereiche einbezogen werden.
Ein Mann mit schütterem Haar betritt den Raum, legt eine große Tüte ab. „Wahrscheinlich Läuse“, hatte er bei der Anmeldung gesagt. Dr. Biella und Krankenpfleger Guido Minauro streifen sich Schuhüberzieher, Kittel und Kopfschutz über. Der Mann entledigt sich Jacke, Shirt und Hose. -Biella stopft alles in einen Müllsack. Doch der Patient versucht, die kontaminierte Kluft immer wieder zurückzuholen. „Obdachlose Menschen wollen sich oft nicht von ihren Sachen trennen, weil sie Sorge haben, keine neue, passende Kleidung zu bekommen“, erzählt Pfleger Minauro. „Behandlungen von parasitären Erkrankungen wie zum Beispiel Skabies oder Pedikulose benötigen bis zu zwei Stunden“, ergänzt Dr. Biella und fügt hinzu: „An vollen Tagen kommen wir schnell an die Grenzen unserer Behandlungsmöglichkeiten.“
Zurück zum Arztmobil. Begonnen hatte das Caritas-Team morgens um neun. Erste Station war der Seeling-Treff, eine Tagesstätte für mittellose Menschen. Ein Mann klagte über starke Kopfschmerzen, ein anderer über Bauchkrämpfe, eine schwangere Frau litt unter einem Ekzem im Gesicht.
Rettungsanker Clearingstelle
Stunden später am Bahnhof Zoo, mittlerweile ist es früher Abend: Anton, ein freundlicher Mann aus Bulgarien, kaum älter als 30, klagt über sein schmerzendes Bein. Er ist der letzte Patient für diesen Tag. „Seit drei Jahren lebe ich auf der Straße“, erzählt er, während Dr. Burkhard den Patellarsehnenreflex prüft. Keine Kontraktion. „Bandscheibenvorfall“, vermutet die Ärztin. „Ich brauche Schmerztabletten“, sagt Anton. „Sie brauchen mehr als das“, sagt Burkhardt. „Als erstes ein MRT vom Rücken.“ „Später eventuell eine OP.“
Burkhardt schickt Anton zur Clearingstelle der Berliner Stadtmission. Für obdachlose Menschen, die komplexe und teure Behandlungen benötigen, oft der letzte Rettungsanker. Die Clearingstelle kooperiert mit Kliniken, kümmert sich um Kostenübernahmen. Als Anton verschwunden ist, fahren Luisa Raber und Richard Rosenberger zurück zur Ambulanz. Dr. Burkhardt nimmt den Weg zur nächsten U-Bahn-Station. „Ein sehr ruhiger Tag heute“, sagt sie zum Abschied. Etwa 20 Patienten saßen auf ihrem Behandlungsstuhl. Burkhardt hat Blutdruck und Blutzucker gemessen, Wunden inspiziert, Salben aufgetragen und Verbände angelegt. Am nächsten Morgen wird das Caritas-Team wieder durch Berlin fahren. Auf der Suche nach Menschen, die medizinische Hilfe benötigen.
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