Interview Prävention

„Eine psychische Erkrankung erhöht das Suizid-Risiko"

22.01.2025 Änne Töpfer 4 Min. Lesedauer

Rund 10.000 Menschen pro Jahr nehmen sich hierzulande das Leben. Ute Lewitzka erforscht an der Universität Frankfurt, wie sich Suizide verhindern lassen.

Foto: Gesicht einer Frau im Schatten.
Eine psychische Erkrankung erhöht das Suizidrisiko deutlich.
Foto: Porträt von Prof. Dr. Ute Lewitzka, Professorin für Suizidologie und Suizidprävention.
Prof. Dr. Ute Lewitzka, Professorin für Suizidologie und Suizidprävention

Was hat Sie motiviert, sich mit Suiziden wissenschaftlich zu beschäftigen?

Prof. Dr. Ute Lewitzka: Ich habe Menschen mit suizidalen Krisen in der Klinik begleitet und erlebt, dass es Hilfe gibt und alles wieder gut werden kann. Es ist eine berührende Erfahrung für mich gewesen, dass Menschen das schaffen können.

Worauf werden Sie sich in der Forschung konzentrieren?

Lewitzka: Als grundsätzliches Ziel ist mit dieser Professur verbunden, ein deutsches Zentrum für Suizid-prävention aufzubauen. Diese Einrichtung soll vor allem die Translation der Forschungsergebnisse in die Praxis verbessern. Das wichtigste Forschungsthema ist die Prädiktion. Wir können immer noch nicht gut vorhersagen, welcher Mensch suizidgefährdet ist und wie stark er gefährdet ist.

Was ist über die Ursachen für Suizide bekannt?

Lewitzka: Eine psychische Erkrankung erhöht das Risiko deutlich. Da stehen ganz oben die Depressionen, also affektive Störungen, das heißt auch manisch-depressive Erkrankungen. Viele andere Faktoren, die gut untersucht sind, kommen hinzu. So gehen beispielsweise das männliche Geschlecht und das höhere Alter mit einem erhöhten Suizid-Risiko einher. Auch Menschen mit traumatischen Erfahrungen oder Menschen in Adoleszenzkrisen, also in der Pubertät, und Menschen mit schweren körperlichen Erkrankungen sind stärker betroffen. Der größte Risikofaktor ist aber die Verfügbarkeit der Methode: Alle Waffenträger haben ein erhöhtes Suizid-Risiko. Mediziner, Apotheker oder Tierärzte tragen ein höheres Risiko, auch weil sie leichter an bestimmte Substanzen kommen. Auch Landwirte haben Zugang zu potenziell geeigneten Mitteln.

Gefährdet sind sicher auch suchtkranke Menschen, die sich möglicherweise ihren goldenen Schuss setzen.

Lewitzka: Grundsätzlich haben Menschen mit Substanzkonsumstörung ein erhöhtes Suizid-Risiko. Suizidale Krisen werden durch den Genuss einer Substanz noch verstärkt. Wenn ein Mensch mit depressiver Symptomatik Alkohol getrunken hat, fällt häufig auch die Hemmschwelle zu einer suizidalen Handlung. Wenn er wieder nüchtern ist, bewertet er seine Situation vielleicht ganz anders und will weiterleben.

Wenn jemand ankündigt, sich das Leben nehmen zu wollen, sollte das ernst genommen werden. Aber reicht das allein als Prädiktionsfaktor aus?

Lewitzka: Es ist extrem wichtig, eine Ankündigung ernst zu nehmen. Allzu oft schauen wir weg. Wenn es im Alltag passiert, bestehen große Unsicherheiten und Ängste. Dabei braucht es gar nicht viele Kompetenzen, denn jeder darf fragen: Mensch, ich sehe, dir geht es nicht gut, gibt es da Gedanken, dass das Leben keinen Sinn mehr macht? Es geht um das menschliche Begleiten, das Dabeisein, das Vermitteln: Ich helfe dir, ich bin bei dir – das ist das Allerwichtigste. Aber nicht alle Menschen, die Suizidgedanken äußern, nehmen sich das Leben. Das heißt, eine Prädiktion gelingt nicht anhand von Suizidäußerungen eines Betroffenen.

Wie lassen sich Suizide verhindern?

Lewitzka: Als Botschaft steht an erster Stelle: Prävention ist möglich. Die sogenannte universelle Prävention spricht gesunde Menschen an. Dabei geht es um Aufklärung, um Kompetenzstärkung: Was kann ich tun, wenn es mir nicht gut geht? Wo gehe ich hin, wo bekomme ich Hilfe? Es ist auch wichtig, den Zugang zu den Methoden zu erschweren. Das ist in Deutschland nur begrenzt möglich, weil die häufigste Suizid-Methode hierzulande das Erhängen ist. Gegen Schienen-Suizide oder Intoxikationen lässt sich etwas tun. Die selektive und indizierte Prävention spricht Menschen an, die sich in Krisen befinden. Wir müssen die niedrigschwelligen Angebote stärken, wie etwa die Telefonseelsorge, U25 oder die MANO-Suizidprävention, und Krisendienste einrichten. Die gibt es in Bayern und Berlin, aber nicht flächendeckend in jedem Bundesland. Mit Krisendienst meine ich die Möglichkeit, 24 Stunden, 365 Tage im Jahr Personen ansprechen zu können, die sich mit Suizidabsichten auskennen und gegebenenfalls den Betroffenen zu Hause aufsuchen.

Hilfe bei suizidalen Gedanken

Notrufnummer 112

Telefonseelsorge 0800 1110111 und 0800 1110222 sowie Telefonseelsorge

Nummer gegen Kummer für Kinder und Jugendliche 116111

U25-deutschland.de

Deutsche Depressionshilfe

Wie lassen sich Suizide und Suizidversuche systematisch erfassen?

Lewitzka: Wenn ein Suizid passiert, kreuzt ein Arzt auf der Todesbescheinigung einen nicht natürlichen Tod an. Daraufhin wird eine Ermittlung durch die Kriminalpolizei eingeleitet. Anhand der Ermittlungsergebnisse entscheidet die Staatsanwaltschaft, ob ein Suizid vorlag. Dann erfolgt eine Meldung an die Statistischen Landesämter, die die Zahlen aufbereiten und am Ende dann dem Statistischen Bundesamt melden. Im Jahr 2023 waren es 10.304 Fälle. Wie hoch die Dunkelziffer ist, wissen wir nicht. Zudem fehlen eine zentrale Erfassung und valide Zahlen zu Suizidversuchen. Eine neuere Untersuchung geht davon aus, dass es bis zu fünfzigmal mehr Suizidversuche als Suizide gibt. Diese können zum Teil erhebliche Folgen haben, wie beispielsweise Querschnittslähmung oder Amputation.

Welche Verbesserungen erwarten Sie durch das im Entwurf vorliegende Gesetz zur Suizidprävention?

Lewitzka: Das Gesundheitsministerium hat offenbar versucht, die Kritik am ersten Entwurf aufzugreifen. Der nun vorliegende Entwurf ist trotzdem noch nicht das, was wir brauchen. Deshalb muss an dem Gesetz in der neuen Legislatur nochmal substanziell gearbeitet werden, bevor es weitergeht. Ich bin immer noch zuversichtlich, dass dabei am Ende etwas Gutes herauskommt.

Was könnte ein deutsches Zentrum für Suizidprävention leisten?

Lewitzka: Es geht darum, die Expertise einzelner Forschergruppen in Deutschland zu bündeln, sowie universitäre und außeruniversitäre Forschung zusammenzubringen. Außerdem könnte eine solche Einrichtung die Translation der Erkenntnisse aus der Forschung in die Versorgung verbessern. Ich sehe in so einem Zentrum auch eine Schnittstelle für die unterschiedlichen Fachverbände und Suizidpräventionsakteure, wie zum Beispiel das Nationale Suizidpräventionsprogramm oder die Deutsche Gesellschaft für Suizidprävention, auch für die palliativen Verbände, die Telefonseelsorge und weitere. Das Zentrum könnte den Stellenwert der Prävention stärken.

Gibt es Fortschritte in der Suizidprävention?

Die Fortschritte sieht man nur sehr langfristig. Seit den 1980er-Jahren sind die Suizid-Zahlen zwar gesunken, aber dann sind sie sehr lange stabil geblieben und nicht weiter gesunken, obwohl es verschiedene Angebote zur Prävention gab. Die Statistik zeigt zuletzt wieder eine Zunahme der Zahlen. Darin sind allerdings die Fälle von Suizidassistenz enthalten. Wir wissen von den Sterbehilfeorganisationen, dass sich die Zahlen seit dem Bundesverfassungsgerichtsurteil verdreifacht bis vervierfacht haben. Wir leben aber auch in einer zunehmend verunsicherten Welt mit Krisen, Krieg und Katastrophen. Deshalb brauchen wir eine Stärkung der Prävention.

Zur Person

Prof. Dr. Ute Lewitzka, ist Professorin für Suizidologie und Suizidprävention an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Die klinische Psychiaterin ist Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention. Im Jahr 2017 gründete sie das Werner-Felber-Institut für Suizidprävention und interdisziplinäre Forschung im Gesundheitswesen (WFI), dessen Vorstandsvorsitzende sie heute noch ist.

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