Recht: Krankenhausvorbehalt für Zwangsbehandlung unzulässig
Gesetzliche Regelungen, die ärztliche Zwangsbehandlungen ausschließlich in einer Klinik vorsehen, sind teilweise verfassungswidrig.
Urteil vom 26. November 2024
– 1 BvL 1/24 –
Bundesverfassungsgericht
Jeder Mensch hat das Recht auf körperliche Unversehrtheit. Wenn aber Patienten zum Beispiel wegen einer psychischen Erkrankung nicht erkennen, dass eine bestimmte Therapie erforderlich ist, kann unter engen Voraussetzungen eine medizinische Zwangsbehandlung angeordnet werden. Ein eingesetzter Betreuer muss dafür die Genehmigung eines Betreuungsgerichts einholen (Paragraf 1906a BGB alte Fassung, nunmehr Paragraf 1832 BGB). Zudem darf die Zwangsbehandlung nur erfolgen, wenn erfolglos versucht wurde, den Patienten von der Notwendigkeit der ärztlichen Maßnahme zu überzeugen, andernfalls ein erheblicher gesundheitlicher Schaden droht und der Nutzen der ärztlichen Zwangsmaßnahme die zu erwartenden Beeinträchtigungen deutlich überwiegt. Bislang ist eine Zwangsbehandlung nur während eines stationären Aufenthalts in einem Krankenhaus erlaubt (Paragraf 1906a BGB alte Fassung beziehungsweise 1832 BGB). Doch nun urteilte das Bundesverfassungsgericht, dass es Ausnahmen geben muss.
Antrag zurückgewiesen
Den Verfassungsrichtern lag der Fall einer Frau mit der Diagnose paranoide Schizophrenie vor, die regelmäßig aus ihrer vertrauten Wohneinrichtung in ein Krankenhaus für eine Zwangsbehandlung mit einem Neuroleptikum gefahren wurde. Das Medikament war zur Dauermedikation verordnet. Für den Transport in die Klinik war ihre Fixierung notwendig. Da die regelmäßige Fahrt die Betroffene belastete und traumatisierte, beantragte ihr Betreuer eine stationsäquivalente Behandlung in ihrem gewohnten Umfeld. Statt in der Klinik solle die Medikamentengabe bei der Frau ambulant in ihrer Einrichtung erfolgen.
Den Antrag wies das Betreuungsgericht zurück. Eine medizinische Zwangsbehandlung sei nach Paragraf 1906a Absatz 1 BGB alte Fassung nur in einem Krankenhaus während einer vollstationären Aufnahme möglich. Der Bundesgerichtshof setzte schließlich das Verfahren aus und legte dem Bundesverfassungsgericht die Frage vor, ob der gesetzliche Krankenhausvorbehalt mit der aus Artikel 2 Absatz 2 des Grundgesetzes folgenden Schutzpflicht des Staates unvereinbar sei (Beschluss vom 8. November 2023, Aktenzeichen XII ZB 459/22).
„Das Bundesverfassungsgericht hat Sachverhalte aufgezeigt, in denen es für Betroffene eher Belastung denn Hilfe und Unterstützung bedeutet, wenn die Zwangsbehandlung unbedingt stationär im Krankenhaus stattfinden muss.“
Syndikusrechtsanwältin im Justitiariat des AOK-Bundesverbandes
Ausnahmen dargelegt
Im Spannungsfeld zwischen dem Schutz der Betroffenen und unter Berücksichtigung der Freiheitsrechte entschied das Bundesverfassungsgericht, dass eine ausnahmslose Bindung der ärztlichen Zwangsmaßnahme an einen stationären Krankenhausaufenthalt unangemessen sei. Zwar seien die mit dem Krankenhausvorbehalt verfolgten Zwecke grundsätzlich legitim und grundrechtlich fundiert. Im Einzelfall müsse jedoch die Möglichkeit einer ambulanten Durchführung der Zwangsmaßnahmen bestehen, wenn mit dem Krankenhausaufenthalt erhebliche Beeinträchtigungen der körperlichen Unversehrtheit mit einiger Wahrscheinlichkeit drohen.
Die Verfassungsrichter verweisen beispielhaft auf die Situation bei an Demenz erkrankten Menschen, für die ein Ortswechsel eine besondere Belastung darstellt. Voraussetzung sei jedoch, dass auch bei der ambulanten Durchführung der Krankenhausstandard im Hinblick auf die konkret erforderliche Versorgung einschließlich der Nachversorgung voraussichtlich nahezu erreicht wird. Weiterhin gelte, dass ärztliche Zwangsmaßnahmen ausschließlich als letztes Mittel (ultima ratio) ergriffen werden dürfen. Insbesondere müsse zunächst mit dem nötigen Zeitaufwand und ohne Ausübung unzulässigen Drucks versucht werden, den Betroffenen von der Notwendigkeit der Behandlung zu überzeugen.
Der Gesetzgeber hat nun bis zum 31. Dezember 2026 Zeit, eine entsprechende Neuregelung zu erlassen. Dabei hat er die vom Bundesverfassungsgericht genannten Vorgaben zu beachten. Bis zur gesetzlichen Neuregelung gilt das bisherige Recht weiter.
Urteil nicht einstimmig
Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts fiel nicht einstimmig, sondern erging mit fünf zu drei Stimmen. Verfassungsrichter Heinrich Amadeus Wolff verfasste ein Sondervotum: Er sieht die Gefahr, dass durch die Entscheidung die Schutzstandards bei Zwangsbehandlungen abgesenkt werden könnten. Die bisherige Regelung bewertete er als verfassungsgemäß. Auch nach Auffassung des Deutschen Instituts für Menschenrechte birgt das Urteil das Risiko, dass Zwangsbehandlungen künftig häufiger und umfangreicher angewendet werden könnten. Es mahnt daher den Bundestag, bei der Neuregelung die Anwendung von Zwangsmaßnahmen streng zu definieren und Menschen mit Behinderungen und Vertretungsorganisationen im Gesetzgebungsverfahren früh einzubeziehen.
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