„Schuldenbremse blockiert wichtige Innovationen"
In schwierigen Zeiten hat Ina Czyborra 2023 das Amt der Gesundheitssenatorin in Berlin übernommen. Doch die SPD-Politikerin lässt sich nicht unterkriegen und drängt den Bund zu mehr Unterstützung des Gesundheitswesens.
Frau Senatorin Czyborra, Ärzte, Kliniken, Apotheker, Krankenkassen, Patienten: alle wirken ein stückweit gefrustet. Macht es da noch Freude, für den Gesundheitsbereich zuständig zu sein?
Ina Czyborra: Es kommt darauf an, ob man Spaß an komplizierten Aufgaben hat. Das ist bei mir der Fall. Die Komplexität von Herausforderungen reizt mich. Insofern ist persönlich alles okay.
Woher kommt der enorme Frust?
Czyborra: Die verschiedenen Krisen habe eine extreme Verunsicherung hinterlassen und es sind natürlich die Belastungen der Menschen gestiegen. Das Zutrauen, dass es für einen selbst und insbesondere die eigenen Kinder schrittweise immer besser wird, ist abhandengekommen. Es gibt enorme Verteilungskämpfe in der Gesellschaft. Dazu trägt bei, dass unsere Systeme zum Teil dysfunktional sind.
Stark unzufrieden sind die Ärztinnen und Ärzte. Geht es ihnen nicht eigentlich gut?
Czyborra: Teils, teils. Also da ist immer noch sehr viel Geld im System und die meisten Mediziner verdienen weiter gut. Auf der anderen Seite gibt es Praxen, die kämpfen müssen, zum Beispiel Kinder- und Jugendärzte oder Hausärztinnen und Hausärzte, die sich besonderen Herausforderungen stellen, etwa der Substitution oder der Arbeit mit besonderen Gruppen. Hier stimmt die Verteilung intern nicht, die ja Aufgabe der Kassenärztlichen Vereinigungen ist.
Sehen Sie die wohnortnahe, qualitativ hochwertige Versorgung gefährdet?
Czyborra: Für Berlin sehe ich da keine Gefahr. Aber in Zukunft werden wir notwendigerweise immer weniger Einzelkämpfer-Praxen haben und dafür mehr Ärztehäuser, Medizinische Versorgungszentren und die Umwandlung von kleinen Kliniken in polyklinische Angebote. Dadurch könnten sich die Wege für die Patienten etwas verlängern. Dafür gibt es dann mehr Leistungen an einem Ort.
„In Zukunft wird es immer weniger Einzelkämpfer-Praxen und dafür mehr Zentren geben. Für längere Wege gibt es mehr Leistungen an einem Ort.“
Senatorin für Wissenschaft, Gesundheit und Pflege in Berlin
Sehen Sie die Gefahr, dass die zugesagte Entbudgetierung für Hausärzte in Ballungsräumen zu mehr Über- und Fehlversorgung führen könnte?
Czyborra: Das glaube ich nicht. Die hausärztliche Versorgung wird dadurch ja besser. Wenn viele Menschen wie jetzt keinen guten Zugang zu Hausärztinnen und Hausärzten haben, dann entstehen tendenziell höhere Kosten, zum Beispiel weil Erkrankungen zu spät erkannt werden. Eine gute Vorsorge und eine gute hausärztliche Betreuung dürften nach meinem Verständnis Kosteneinsparungseffekte mit sich bringen. Zurzeit ist es schwierig, einen Hausarzt zu finden, wenn man wechseln möchte oder noch nie einen hatte, weil Praxen voll sind. Für Haus- sowie Kinder- und Jugendärzte finde ich die Entbudgetierung richtig.
Gesundheitsminister Lauterbach möchte hunderte Gesundheitskioske errichten. Finden Sie das richtig?
Czyborra: Für große Teile der Bevölkerung ist es schwierig, den Zugang zum Gesundheitswesen zu finden, weil es Hürden sprachlicher oder sonstiger Art gibt oder weil Angebote nicht bekannt sind. Das überlastet dann wieder die Notaufnahmen, weil dort Erkrankungen landen, die da nicht hingehören. Die Gesundheitskioske können daher eine gute Ergänzung sein, um niedrigschwellige Zugänge gerade für vulnerable Gruppen zu eröffnen und die Steuerung zu verbessern. Wir in Berlin warten gespannt auf das Gesetz.
Kommen wir zur Klinikreform. Kann sie trotz aller Widrigkeiten ein großer Wurf werden?
Czyborra: Es sind sich alle darin einig, dass es ein großer Wurf werden muss, weil die derzeitige Krankenhausstruktur nicht tragfähig ist. Ich glaube, dass die Reformansätze absolut richtig und notwendig sind – hin zu mehr Spezialisierung und Qualität. Die Alternative wäre ein ungeordnetes Kliniksterben nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten. Auch das Fachkräfteproblem ist Grund genug für einen Umbau. Aber: Die Planungshoheit muss bei den Ländern liegen. Wir können unsere Krankenhauslandschaft vor Ort am besten bedarfsgerecht gestalten – unter Berücksichtigung von Qualitätsvorgaben, Spezialisierung und Mindestmengen.
Da sind wir beim Geld und der Frage: Wer zahlt die Transformation?
Czyborra: Bei den Transformationskosten müssen wir eine faire Lastenverteilung hinbekommen. Die Länder und die Krankenkassen sind damit allein überfordert. Es kann nicht sein, dass die gesetzlich Versicherten einseitig die Verbesserung der Kliniklandschaft durch steigende Beiträge finanzieren sollen und andere von den Änderungen profitierende Bevölkerungsgruppen außen vor bleiben. Es muss auf jeden Fall vom Bund Geld aus Steuermitteln dazukommen. Das sind Sonderaufwendungen, die nicht so einfach aus laufenden Einnahmen bezahlt werden können. Ein Vorschaltgesetz wäre wünschenswert.
Woran liegen die Verzögerungen bei der Klinikreform?
Czyborra: Wir haben eine sehr komplizierte Situation mit 16 Bundesländern, dem Bund, den vielen Akteuren und ihren extrem verschiedenen Interessen. Die ostdeutschen Flächenländer, die Stadtstaaten, die Metropolen und ländlichen Räume sind sehr unterschiedlich unterwegs. Die Angst der ostdeutschen Länder, dass sie durch die Vorgaben des Gesetzes und die Umverteilung der Mittel weg von DRGs hin zu Vorhaltepauschalen am Ende so gut wie gar keine Krankenhäuser mehr haben, kann ich nachvollziehen.
Wie ist denn die Situation der Krankenhäuser in der Hauptstadt?
Czyborra: In Berlin ist die Situation überwiegend stabil. Natürlich haben die Kliniken Schwierigkeiten: teils zu geringe Fallzahlen, Personalmangel, hohe Aufwendungen für Leasing, hohe Energiekosten. Die Komplexität der Fälle, die in der Universitätsmedizin behandelt werden, wird nicht angemessen refinanziert. Darum muss es bei der Finanzierungsreform auch darum gehen, die Universitätsmedizin besserzustellen. Aber wir rechnen in Berlin nicht kurzfristig mit einer Insolvenzwelle.
In der gesetzlichen Krankenversicherung kündigen sich neue Milliardenlöcher an. Minister Lauterbach will aber offenbar keine explizite Finanzreform…
Czyborra: Es sind ganz viele verschiedene Gesetze, die Karl Lauterbach in der Pipeline hat, die am Ende alle zusammen betrachtet werden müssen. Klar ist: Die Beitragssätze müssen im Rahmen bleiben. Versicherungsfremde Leistungen sollten dazu verstärkt aus Steuermitteln finanziert werden, weil es sich hier um eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe handelt. Deswegen muss wie im Koalitionsvertrag versprochen der Pauschalbetrag für Bürgergeld-Empfänger künftig kostendeckend sein. Im Übrigen gibt es noch eine ganze Menge Geld im Land, das man heranziehen könnte.
Was meinen Sie?
Czyborra: Ich bin der Ansicht, dass starke Schultern stärker finanziell zur Lösung der gesellschaftlichen Probleme herangezogen werden sollten, eben zur Gesundheitsfinanzierung. Es besteht ein gesamtgesellschaftliches Verteilungsproblem. Es ist vermutlich keine Überraschung, dass ich mir als Sozialdemokratin insgesamt ein anderes Finanzierungsmodell für das Gesundheitswesen wünschen würde, etwa in Form einer Bürgerversicherung.
Warum werden die zugesagten Entlastungen für die GKV nicht umgesetzt?
Czyborra: Es ist das Primat der Schuldenbremse, das die Erfüllung des Koalitionsvertrags in vielen Punkten unter Druck bringt. Ich halte die Schuldenbremse für absolut falsch und fatal. Wichtige Investitionen, die Deutschland für die Zukunft braucht, werden durch sie blockiert. Die Schuldenbremse ist eine Innovations- und Krisenbewältigungsbremse. Das gilt für das Gesundheitswesen wie auch für viele andere Bereiche, wie etwa dem Wissenschaftssektor.
Genießt die Gesundheits- und Sozialpolitik bei der Ampel-Regierung einen ausreichend großen Stellenwert?
Czyborra: Gesundheitspolitik hat generell immer einen zu geringen Stellenwert, was ich schwer nachvoll-ziehbar finde, weil sie ja unmittelbar die Menschen betrifft. Der Satz „Schuldenbremse einhalten und auf keinen Fall die Steuern erhöhen“ hat dagegen einen viel zu hohen Stellenwert. Die Regierung und insbesondere die FDP müssen sich stärker darauf besinnen, warum die Menschen so unzufrieden sind, warum sie so viele Ängste haben. Die Sorge vor einem Verlust der Gesundheitsversorgung ist meiner Meinung nach gerade in den ostdeutschen Flächenländern wirklich ein Thema.
„Starke Schultern sollten finanziell stärker zur Lösung gesellschaftlicher Probleme herangezogen werden.“
Senatorin für Wissenschaft, Gesundheit und Pflege in Berlin
Für Berlin wird ein Anstieg der Zahl der Pflegebedürftigen bis 2030 um zehn Prozent auf 205.000 vorhergesagt. Was ist bei der Pflege zu tun?
Czyborra: Eine Rolle spielt hierbei, wann, wie schwer und wie lange wir pflegebedürftig werden. Deswegen stellt die Prävention eine wichtige Stellschraube dar. Wir sehen, dass die Menschen immer später in stationäre Einrichtungen gehen und dort immer kürzer verweilen, auch weil die häusliche Pflege bevorzugt wird. Es stellt sich natürlich das Personalproblem. Wir haben die Pflegelaufbahnen ausdifferenziert. Jetzt bekommen wir mit dem Pflegekompetenzgesetz hoffentlich eine bessere Grundlage, um den Einsatz der Pflegekräfte zu optimieren. Wir arbeiten zudem daran, für die Pflegeausbildung zu werben, die Anerkennung ausländischer Abschlüsse zu verbessern und Menschen in den Pflegeberuf zurückzuholen.
Durch das 2023er Pflegegesetz (PUEG) treten schrittweise Verbesserungen bei Pflegegeld und Sachleistungen in Kraft. Reicht das erstmal?
Czyborra: Nein, denn die laut WIdO auf knapp 2.300 Euro massiv gestiegenen Eigenanteile für Pflegeheimbewohner sind ein Problem, das uns nicht ruhen lassen darf. Hier brauchen wir höhere Zuschüsse. Auf der anderen Seite haben wir das Problem, dass stationäre Pflegeeinrichtungen, vor allem wenn sie mit Gewinnsabsicht betrieben werden, unter Druck kommen. Ich mache mir Sorgen, dass viele vom Netz gehen, weil andere Geschäftsmodelle lukrativer sind. Ich habe daher die Hoffnung auf mehr Geld für die Pflegekassen vom Bund noch nicht aufgegeben. Langfristig trete ich für eine Pflegevollversicherung ein.
Minister Lauterbach hat eine Pharmastrategie vorgestellt. Kann Deutschland noch zum führenden Standort für Entwicklung und Produktion von Arzneien werden?
Czyborra: Die Frage ist, ob wir bereit sind, höhere Kosten zu tragen. Die Pharmaindustrie sagt uns, sie würde durchaus hierzulande produzieren. Aber wenn als nächstes wieder die billigen Produkte aus dem Ausland favorisiert würden, dann könne sie das nicht. Die Firmen wollen langfristige Sicherheit. Das ist etwas, was der Bundesgesundheitsminister zu klären hat. Und wir haben zu wenig klinische Studien. Die Gründe hierfür liegen unter anderem im strengen Datenschutz. Nicht zuletzt müssen wir am regulatorischen Rahmen arbeiten, damit Zulassungen für Medikamente schneller gehen, ohne dass wir die Standards massiv absenken.
Zur Person
Dr. Ina Czyborra ist seit April 2023 Senatorin für Wissenschaft, Gesundheit und Pflege in Berlin, wo sie geboren und aufgewachsen ist. In Berlin sowie in Bonn hat sie Prähistorische Archäologie und Geschichte studiert, Jahre später an der Freien Universität promoviert. Sie war unter anderen in Projekten zur Bodendenkmalpflege wie auch im IT-Bereich tätig. In dieser Branche besitzt die 57-Jährige seit 2003 selbst eine Firma. Dem Berliner Abgeordnetenhaus gehört die Mutter von drei Kindern seit 2011 an. Zudem ist sie stellvertretende SPD-Landesvorsitzende.
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