Foto einer sich windenden Landstraße
Vormittag am Heuberg: So blickt Patientenlotsin Veronika Hermle-Wehl von ihrem Wagen aus auf die Region.
Reportage Versorgung

Die Pioniere vom Heuberg

19.02.2025 Frank Brunner 7 Min. Lesedauer

Ein Gesundheitsnetz auf der Schwäbischen Alb kämpft gegen Medizinermangel auf dem Land. Teil der Therapie: ein Netzwerk aus Kommune, Pflegekräften und Freiwilligen, das Ärzte entlastet und Patienten einen sicheren Übergang von stationärer zu ambulanter Versorgung ermöglicht.

Am Ende dieses Tages treffen sich die Pioniere im modernsten Gebäude der Gemeinde. Marianne Thoma hatte die weiteste An­reise. Die Mitarbeiterin des Landratsamts Tuttlingen benötigte mit dem Auto eine halbe Stunde nach Bubsheim. Vom Büro des Bubsheimer Bürgermeisters Thomas Leibinger sind es wenige Geh­minuten bis zum Medizinischen Versorgungszentrum (MVZ) der Gemeinde am Heuberg, rund 100 Kilometer südlich von Stuttgart. Gekommen sind außerdem André Saliger, Geschäftsführer der gemeinnützigen Genossenschaft „Gesundheitsnetz Heuberg“, dem Träger des MVZ, der Internist Dr. Hans-Ulrich Olpp aus seiner Praxis im benachbarten Kolbingen, Vera Felisoni vom Nachbarschaftsverein MiKaDo und Pflege­dienstchef Johann Stehle. Kurz vor Beginn der Konferenz parkt Patientenlotsin Veronika Hermle-Wehl ihren Kombi vor dem MVZ, eilt durch die Glastür, vorbei am Empfangstresen, der auch in eine Hotellobby passen würde, durchquert helle Flure, bis sie den Tagungsraum erreicht.

Hilfe aus Hannover

Die Patientenlotsin war an diesem Dienstag bereits mehrere Stunden auf Achse. In den kommenden anderthalb Stunden wird sie mit ihren Kollegen eine erste Bilanz ziehen. Im Januar 2024 hatte das Bubsheimer MVZ eröffnet. Rund 3,3 Millionen Euro für den Bau und 450.000 Euro für die Ausstattung investierte die kleine Gemeinde. Dazu kamen öffentliche Zuschüsse von 200.000 Euro, erzählt Bürgermeister Leibinger. Mittlerweile praktizieren hier zwei Allgemeinärzte und ein Kinderarzt. Keinesfalls selbstverständlich.

Haus der kurzen Wege

Rückblick: 2020 waren auf dem Heuberg nur 70 Prozent aller Hausarztstellen besetzt. Ein Wert unterhalb von 75 Prozent gilt als Unterversorgung. Hinzu kam: Die Hälfte der praktizierenden Ärzte hatte das 60. Lebensjahr überschritten, Nachfolger waren nicht in Sicht. Gleichzeitig wächst die ­Gemeinde. Derzeit leben 1.400 Menschen hier, in fünf Jahren könnten es 1.600 Einwohner sein, schätzt der Bürgermeister. Vor allem Familien ziehen in die Gegend. Schon jetzt gehört Bubsheim mit einem Durchschnittsalter von 38 Jahren zu den jüngsten Gemeinden Baden-Württembergs. Wie in vielen Regionen im Ländle sitzt auch in Bubsheim ein „Hidden Champion“, der Fachkräfte und kleine bis mittelständische Firmen anzieht. Nur das medizinische Angebot entsprach nicht dem Bedarf. Zuständig dafür ist die Kassenärztliche Vereinigung (KV). Doch diese hat Schwierigkeiten, Ärzte für die freien Sitze zu finden.
 
Thomas Leibinger startete deshalb eine bundesweite Werbekampagne mit YouTube-Videos. „Die Bürger von Bubsheim suchen einen Landarzt“, lautete der Titel eines Clips, in dem Einwohner von ihrer Heimat schwärmten. Mit Erfolg. Ein Pädiater aus Hannover ließ sich auf dem Heuberg nieder, die Allgemeinmedizinerin Inna Zubova zog es ebenfalls in diesen Winkel des Landes und ihr Kollege Dr. Olpp schloss sich mit seiner bestehenden Praxis dem MVZ an. Damit ist das Optimum medizinischer Versorgung sicher noch nicht erreicht, aber eine erste Verbesserung für die Menschen. Vorteil für die Ärzte: Das Gesundheitsnetz entlastet sie von administrativen und anderen nicht-ärztlichen Aufgaben durch ein Netzwerk aus Medizinischen Fachassistenten, Pflegefachkräften und Patientenbetreuern. Zudem übernimmt das Netz finanzielle Risiken.
 
Für den wirtschaftlichen Betrieb des MVZ ist André Saliger zuständig. Früher war er kaufmännischer Leiter mehrerer Kliniken, half später, als Projektberater andere genossenschaftliche MVZ aufzubauen. Aus seiner Sicht wird es abseits der Städte auch in den kommenden Jahren an Ärzten fehlen. „Etwas auffangen lässt sich dieser Mangel mit sektorenübergreifender und multiprofessioneller Zusammenarbeit.“ Ein Bindeglied zwischen den Sektoren ist Patientenlotsin Veronika Hermle-Wehl.

Ohr nah am Patienten

Wie jeden Morgen sitzt sie in ihrem Büro im MVZ. Bevor sie Patientenlotsin wurde, leitete die Krankenschwester jahrelang ein Altenpflegeheim. Vor ihrer Tour rund um den Heuberg will sie noch schnell Inna Zubova treffen. Bei der Ärztin herrscht an diesem Morgen Hochbetrieb. Während Hermle-Wehl vor dem Sprechzimmer wartet, schaut Zubova hinter der Tür mit einem Otoskop ins Ohr von Herbert ­Hafen. Der Klavierschreiner aus dem Nachbarort Spaichingen fühlt sich seit dem Wochenende an­geschlagen. „Erkältung“, sagt der Handwerker. „Akute Angina“, sagt die Ärztin. „Sie bleiben erst einmal zu Hause.“ Kurz drauf betritt der nächste Patient das Sprechzimmer. Patientenlotsin Hermle-Wehl muss das Gespräch vertagen, ihre ersten Klienten warten.
 
Minuten später steuert sie ihren Wagen über schmale Landstraßen, die sich durch die hügeligen Hochflächen der Schwäbischen Alb schlängeln. Gegen halb zehn erreicht sie ihr Ziel. Hier, in Bärenthal, der mit knapp 500 Einwohnern kleinsten Gemeinde im Landkreis, wohnen Alois und ­Josefine Greiner. Beide sind jenseits der 80 und sichtlich erfreut, als Hermle-Wehl vor der Tür steht. „Sie ist unsere Rettung gewesen“, sagt Josefine Greiner.
 
Vor einem halben Jahr war sie im Garten gestürzt, hatte sich die Hüfte gebrochen. 14 Tage verbrachte sie in der Tuttlinger Klinik. Ihr Ehemann musste sich in dieser Zeit allein um den Sohn kümmern, der seit 50 Jahren mit Trisomie 21 lebt. Alois Greiner wusste nicht, wie er die kommenden Monate bewältigen sollte. „Die vielen Anträge, die vielen Entscheidungen – furchtbar“, erzählt er. Über einen Bekannten erfuhr er von Veronika Hermle-Wehl. Die Patientenlotsin korrespondierte mit der AOK, beantragte Kurzzeitpflege, Verhinderungspflege und Pflegegrad. Sie organisierte Reha und Physiotherapie, außerdem zusätzliche Hilfe für den Sohn. Für Patienten ist diese Unterstützung kostenlos, finanziert wird das Angebot vom Gesundheitsnetz.

„Wir haben einen Hausärztemangel, und die Hälfte der praktizierenden Mediziner ist um die 60.“

Foto von Thomas Leibinger, Bürgermeister Bubsheim

Thomas Leibinger

Bürgermeister Bubsheim

Professionelle Planung

An diesem Dienstag hat Hermle-Wehl neue Verordnungen für Lymphdrainage und Gymnastik dabei. Sie erkundigt sich, wie der Alltag funktioniert, fragt, wo noch Hilfe nötig ist. Vor allem aber muss die Zukunft des erwachsenen Sohnes geplant werden. Ein heikles Thema. Jürgen Greiner will im Elternhaus bleiben. „Hier ist meine Heimat“, sagt er. Auch seinen Eltern fällt es schwer, ihn ziehen zu lassen. „Ich verstehe Sie“, sagt Hermle-Wehl, „aber was ist, wenn Sie sich nicht mehr um ihn kümmern können?“ Es gebe eine Wohnung mit Betreuung bei der Lebenshilfe, sie habe schon einen Besichtigungstermin vereinbart. Nach einer Stunde verlässt sie das Haus in Bärenthal. Ihre nächste Station: Dr. Olpps Praxis in Kolbingen.

Bis vor einem Jahr war der hausärztliche Internist noch Einzelkämpfer. Nun ist seine Praxis eine Außenstelle des MVZ. Jedenfalls bis Ende 2026. Dann erreicht Dr. Olpp das Rentenalter. Einen Nachfolger hat er bislang nicht. „Das Gesundheitsnetz ist die einzige Möglichkeit, dass meine Patienten nach meinem Ausscheiden weiterversorgt werden und der südliche Teil der Region abgedeckt ist“, erzählt er.

AOK als Partner

Auch an diesem Tag herrscht großer Andrang in seiner Praxis. Hermle-Wehl will aber nicht zu ihm, sondern zu Margit Probst. Sie ist medizinische Fachangestellte bei Dr. Olpp und Praxismanagerin des MVZ, verantwortlich für das Qualitätsmanagement. Hermle-Wehl und Probst wollen zwei neue Fälle besprechen. Erneut dreht sich alles um den Übergang von stationärer zu ambulanter Versorgung. „Vor allem bei alleinlebenden Patienten sind Krankenhausentlassungen häufig problematisch“, erzählt Praxismanagerin Probst. Früher haben sie und ihre Kollegen sich darum gekümmert, zusätzlich zum normalen Praxisalltag. „Wir haben Kliniken kontaktiert, uns mit Pflegediensten in Verbindung gesetzt, viel herumtelefoniert, sind zu Betroffenen nach Hause gefahren.“ Mit steigenden Patientenzahlen war das irgendwann kaum noch machbar. „Frau Hermle-Wehl ist für uns eine große Hilfe“, betont Probst.

Zu diesem Zeitpunkt sitzt Marianne Thoma noch in ihrem Büro im Landratsamt Tuttlingen. Hier leitet sie die Fachstelle für Pflege und Selbsthilfe, berät unter anderem Kommunen beim Aufbau von Versorgungsstrukturen. Ihre Leitfrage: Was brauchen wir, um eine wohnortnahe Betreuung sicherzustellen? Seit 2023 hat sie bei der Planung eine besondere Helferin: SAHRA. Das Akronym steht für Smart Analysis Health Research Access – eine Datenplattform, die in Kooperation zwischen dem Softwareunternehmen „data experts“ und der AOK Nordost zunächst in Brandenburg startete. „Wir haben uns gefragt, wie wir unsere Abrechnungs- und Behandlungsdaten am besten nutzen können, um beispielsweise die Pflegeprävalenz beeinflussen zu können“, sagt Chris Behrens, Leiter des Fachbereichs Pflegeberatung und Pflegestützpunkte der AOK Nordost. Später beteiligt sich auch die AOK Baden-Württemberg an dem Projekt.

„Es ist möglich, die Versäulung zwischen SGB V und SGB XI aufzuheben.“

Foto von Marianne Thoma vom Landratsamt Tuttlingen

Marianne Thoma

Landratsamt Tuttlingen

Hilfreiche Prognosen

Im Landratsamt erscheint auf Marianne Thomas Monitor eine detaillierte Karte: 7.815 Pflegebedürf­tige leben derzeit im Landkreis Tuttlingen. Anschließend bewegt sie die Computermaus ins Jahr 2030: 8.400 Pflegebedürftige, lautet die Prognose. 38 Kennziffern lassen sich mit SAHRA abbilden, darunter Statistiken zu Pflege­bedürftigen in vollstationärer, teilstationärer und häuslicher Pflege; Menschen in Kurzzeitpflege und Verhinderungspflege. Dazu kommen Angaben zu Pflegeeintrittsalter und Versorgungsindex sowie Diagnosezahlen von elf pflegerelevanten Krankheitsbildern wie COPD, Demenz, Depression, Diabetes und Herzinsuffizienz. Alle Ergebnisse können gefiltert werden, etwa nach Alter, Pflegegrad und Geschlecht. Karin Gaiser, bei der AOK Baden-Württemberg für SAHRA zuständig, spricht von einem „Quantensprung in der Sozialraumplanung“.

Marianne Thoma verändert in SAHRA einige Filtereinstellungen und zeigt auf den Bildschirm: „Hier sieht man, dass in drei Gemeinden im Norden die Zahl an Menschen zwischen 30 und 60 Jahren mit diagnostizierten Herzinsuffizienzen auffallend hoch ist.“ Damit steige die Wahrscheinlichkeit, dass dort in den kommenden Jahren mehr Pflegebedürftige mit kardiovaskulären Einschränkungen leben als anderswo. „Deshalb müssen wir jetzt beginnen, dort passende Strukturen aufzubauen.“

„Wir wollen in den nächsten zwei Jahren die schwarze Null erreichen.“

Foto von André Saliger, Geschäftsführer Gesundheitsnetz Heuberg

André Saliger

Geschäftsführer Gesundheitsnetz Heuberg

Landarztsuche Teil zwei

Patientenlotsin Hermle-Wehl ist mittlerweile zurück in Bubsheim. Allmählich wird es Abend über den Dächern der Gemeinde, und im Konferenzraum des MVZ kommt die Runde zu ihrem letzten Tagesordnungspunkt: Ausblick. Pflegedienstchef Johann Stehle macht sich keine Sorgen um die Zukunft. Schon jetzt arbeiten zwei seiner Kinder im Unternehmen. Irgendwann werden sie den Pflegedienst mit 20 Mitarbeiter weiterführen. Vera Felisoni vom Nachbarschaftsverein MiKaDo sagt: „Wir suchen weiter ehrenamtliche Helfer, die uns ermöglichen, zu helfen, wo Hilfe gebraucht wird.“
Dr. Olpp will ein professionelles Video produzieren zu lassen, mit dem er in sozialen Medien nach möglichen Nachfolgern sucht. „Wir suchen Kollegen, die es schätzen, sich auf das Medizinische konzentrieren zu können“, wird er in dem Clip sagen.

Bürgermeister Leibinger sagt: „Wir brauchen hier einen weiteren Allgemeinmediziner, dazu einen Gynäkologen und einen Orthopäden – vor allem aber brauchen wir einen langen Atem.“ Am Ende soll aus dem MVZ ein Primärversorgungszentrum werden. Gesundheitsnetz-Chef André Saliger erklärt: „Es würde helfen, wenn die Stelle der Patientenlotsin in die Regelversorgung überführt würde. Bislang finanziert sie sich größtenteils aus Einnahmen des MVZ.“ Eine andere Etappe auf diesem Weg sei ein bundesweites Modellprojekt, für das sich der Landkreis Tuttlingen derzeit bewirbt. „Wir wollen das Prinzip Patientenlotsin im gesamten Landkreis umsetzen“, sagt Marianne Thoma. Sie ist überzeugt: „Es ist möglich, die Versäulung zwischen SGB V und SGB XI aufzuheben.“ Man warte nicht, „bis irgendjemand irgendwo irgendwelche Gesetze macht, wir schauen, was schon jetzt möglich ist“.

Quantensprung

Acht Wochen später: Anruf bei Veronika Hermle-Wehl. Was gibt es Neues auf dem Heuberg? „Vom geplanten Modellprojekt noch nichts.“ Deshalb sei bislang unklar, ob im Landkreis bald weitere Patentenlotsen unterwegs sind. Josefine und Alois Greiner, die beiden Senioren aus Bärenthal, leben weiterhin gut versorgt zu Hause. Sie halte Kontakt, der Pflegedienst schaue regelmäßig vorbei. Sohn Jürgen lebt nun im betreuten Wohnen in Tuttlingen. „Mittlerweile hat er Freunde gefunden“, erzählt Hermle-Wehl, „nur manchmal packt er noch seine Koffer und will zurück auf den Heuberg.“

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