„Ich liebe meinen Job als Pflegewissenschaftler“
Als Krankenpfleger hat Peter Nydahl drei Jahrzehnte auf Intensivstationen gearbeitet. Nach seinem Studium erforscht er heute im Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, wie sich die Pflege verbessern lässt.
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Herr Dr. Nydahl, was hat Sie in Ihrem beruflichen Werdegang beeinflusst und motiviert?
Peter Nydahl: Am meisten motiviert haben mich positive Erfahrungen mit Patientinnen und Patienten, mit Familien, mit Kolleginnen und Kollegen. Ich empfinde die Pflege als eine ungemein sinnvolle Tätigkeit. Im Austausch mit Kollegen kam dann ein Schritt nach dem anderen. Jetzt stehe ich als Pflegewissenschaftler am Uniklinikum in Kiel meinen Kolleginnen und Kollegen beratend zur Seite, recherchiere bei offenen Fragen in Datenbanken oder entwickele daraus Forschungsprojekte. Ich liebe meinen Job als Pflegewissenschaftler.
Sehen Sie sich als Pionier, der aus der Praxis heraus einen akademischen Weg eingeschlagen hat?
Nydahl: Ich bin eher ein Spätzünder. Ich wollte lange nicht studieren, weil ich dachte, das ist so weit weg von der Praxis. Dann haben wir 2008 angefangen, selbst Patienten zu befragen, wie sie ihren Klinikaufenthalt erlebt haben. Dadurch habe ich meine Tätigkeit mit ganz anderen Augen gesehen. Dieses systematische Herangehen hat mir Spaß gemacht. Wir haben eine wissenschaftliche Feedback-Schleife initiiert: Was machen wir und welche Qualität hat das? Wie können wir das noch besser machen? Das hat gut funktioniert, und deshalb habe ich mit dem Studium angefangen.
Braucht die Pflege mehr akademisch gebildete Menschen?
Nydahl: Ich glaube, ja, weil sich die Gesundheitslandschaft grundlegend verändert. Der Pflegepersonalmangel wird sich verschärfen, weil die Babyboomer in den Ruhestand gehen. Ein Großteil der stationären Behandlungen wird sich in den ambulanten Bereich verlagern. Die leichteren Fälle werden in Gesundheitszentren oder zu Hause versorgt. In den Krankenhäusern werden wir die Patientinnen und Patienten mit komplexen Krankheiten behandeln. Dafür ist eine hohe Expertise erforderlich. Wir brauchen neben den jetzt zunehmend ausgebildeten Pflegeassistentinnen und -assistenten auch Kolleginnen und Kollegen, die die Pflege planen und evaluieren. Sie müssen wissenschaftlich auf einem hohen Stand sein und den Pflegeassistentinnen und -assistenten sagen können, was in speziellen Fällen zu beachten ist.
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Sind akademisch gebildete Pflegefachpersonen auch am Patientenbett gefragt?
Nydahl: Ja, wir favorisieren gesplittete Arbeitsmodelle, wo die Kolleginnen und Kollegen 51 Prozent am Bett arbeiten, auch im Schichtdienst, und die anderen 49 Prozent mit erweiterten akademischen Aufgaben betraut sind, wie Recherche oder Beratung und Evaluation. Auch im Pflegemanagement werden immer mehr akademisierte Kräfte gebraucht.
Was steht dem vermehrten Einsatz von akademisch qualifizierten Pflegefachpersonen im Weg?
Nydahl: Das Geld. Es ist eine Herausforderung für das Gesundheitssystem, akademisch qualifizierte Pflegefachpersonen zu finanzieren. Der Wissenschaftsrat fordert eine Rate von 20 Prozent akademisierter Pflegefachpersonen. Wir liegen aktuell bei zwei bis drei Prozent. Deutschland gehört bei der Akademisierung in der Pflege mit zu den Schlusslichtern.
Lässt sich mit einem höheren Akademikeranteil die Pflege besser organisieren und so die Effizienz steigern?
Nydahl: In Australien beispielsweise hat sich gezeigt: Je mehr Pflegepersonen mit Bachelor-Grad in einem Krankenhaus arbeiten, desto geringer ist die Mortalität, desto kürzer ist die Verweildauer der Patienten. Auch Daten aus dem Vereinigten Königreich und den USA haben gezeigt: Je mehr Akademisierung, desto besser ist das Outcome für Patientinnen und Patienten. Aber das ist nur eingeschränkt auf Deutschland übertragbar, weil wir eben anders finanziert werden.
„Deutschland gehört bei der Akademisierung der Pflege mit zu den Schlusslichtern.“
Pflegewissenschaftler
Wie weit sind die Gesundheitsberufe in Deutschland in der interprofessionellen Zusammenarbeit?
Nydahl: Mein Eindruck ist, dass die Zusammenarbeit sehr gut geworden ist. Das hierarchische, patriarchalische System mit dem Chefarzt, häufig einem Mann, der gesagt hat, wo es langgeht, löst sich langsam auf. Die Medizin wird weiblicher. Frauen kommunizieren anders und arbeiten besser zusammen. Ich persönlich habe das Gefühl, seitdem ich einen Doktortitel habe und Privatdozent bin, werde ich eher wahrgenommen. In vielen Projekten arbeite ich mit Ärztinnen und Ärzten auf Augenhöhe zusammen und habe die Projektleitung. Das finde ich wunderbar. Die Kooperation ist gleichberechtigter, offener, zuhörender und respektvoller geworden.
Der Entwurf des Pflegekompetenzgesetzes sah vor, dass die Pflege eigenverantwortlich weitergehende Leistungen als bisher erbringen darf. Ist das der richtige Weg, um die Arbeit aufzuwerten und für mehr Anerkennung zu sorgen?
Nydahl: Für mich ist es der erste Schritt auf einem langen Weg, aber ein guter und richtiger Schritt. Pflegende haben in Bereichen wie dem Wundmanagement und der Diabetes-Behandlung sowieso eine hohe Kompetenz. Gerade in der ambulanten Versorgung können akademisch qualifizierte Pflegekräfte den Hausarztmangel ausgleichen und sich selbstständig machen. Die Frage ist, ob Pflegende das wirklich wollen. Pflege ist historisch gesehen ein eher unselbstständiger Beruf. Mit diesen erweiterten Kompetenzen komme ich in einen Bereich, wo ich mehr Verantwortung tragen muss, wo ich eventuell sogar in Regress genommen werden kann, wenn ich Fehler mache. Dann brauche ich vielleicht auch einen anderen Versicherungsschutz.
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Wie lässt sich dem Mangel an personellen Ressourcen in der Pflege entgegenwirken?
Nydahl: Die Krankenhausreform ist genau der richtige Weg. Patientinnen und Patienten mit komplexen Erkrankungen werden in Hochleistungszentren behandelt. Die kleinen Krankenhäuser werden nicht mehr im bisherigen Umfang gebraucht. Stattdessen Gesundheitszentren zu etablieren, um mehr bisher stationär aufgenommen Patienten ambulant zu versorgen, ist der richtige Weg. Auch darüber hinaus lässt sich einiges gegen den Pflegenotstand tun. Ich bin der Bundesregierung beispielsweise sehr dankbar für ihre Kampagnen zur Erhöhung der Attraktivität des Pflegeberufs.
Was sagen Sie jungen Menschen, um sie für den Pflegeberuf zu begeistern?
Nydahl: Ich finde, es ist einer der besten Berufe. Es ist wunderbar, anderen Menschen zu helfen. Ich merke, dass meine Pflege wirkt und bin meistens mit einem guten Gefühl nach Hause gegangen. Diese Selbstwirksamkeit ist, glaube ich, ganz wichtig: Dass man etwas für andere tun kann, das ihnen nützt und das sie voranbringt – das finde ich sinnstiftend. Und man wird dafür auch noch bezahlt.
Woran liegt es, dass einige Pflegekräfte ausgelaugt wirken und dass sie die Begeisterung für ihren Beruf nicht mehr so rüberbringen können, wie Sie das gerade machen?
Nydahl: Ich hatte immer das Glück, mit guten Teams zusammenzuarbeiten und auch relativ gute Arbeitsbedingungen zu haben. Hier im Uniklinikum Schleswig-Holstein im Intensivbereich haben wir in der Regel einen Pflegeschlüssel von eins zu zwei. Das heißt, ich betreue als Einzelperson zwei Patientinnen und Patienten. In anderen Häusern ist der Schlüssel eins zu drei oder eins zu vier, und dann kommt man wirklich an Grenzen. Wenn man das über eine Woche, über einen Monat, über mehrere Jahre macht, fragt man sich: Was soll das Ganze hier? Weil man nur noch am Hinterherrennen ist und nicht mehr so viel bewirken kann. Dann läuft man in Gefahr, auszubrennen und sich etwas anderes zu suchen. Das sind schon wichtige Punkte: dass die Teams gut miteinander umgehen und dass die Arbeitgeber für halbwegs akzeptable Bedingungen sorgen.
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Welche Bedingungen tragen dazu bei, Pflegekräfte langfristig gesund und im Beruf zu halten?
Nydahl: Das fängt mit gutem Management an, guter Teamleitung. Für Pflegende ist ein zuverlässiger Dienstplan wichtig, also ein gutes Ausfallmanagement. Auch das Konfliktmanagement und die Wertschätzung sind von großer Bedeutung: dass man einander guten Morgen sagt, schön, dass du da bist, ich freue mich, mit dir zu arbeiten. Das ist wichtig für das Wohlbefinden im Team. Auch eine Abschlussrunde: Wie war euer Tag heute? Was nehmt ihr mit? Was lasst ihr hier? In meinem Traum-Team haben wir einmal Fotostories gemacht. Diese Stories haben wir genutzt, uns zu fachlichen Themen, Einarbeitung neuer Mitarbeiter, Konfliktmanagement oder der Zusammenarbeit auszutauschen. Das hat den Kollegen geholfen, darüber nachzudenken: Was machen wir hier eigentlich?
Sie haben sich insbesondere mit der Arbeit auf Intensivstationen beschäftigt. Welche Herausforderungen bestehen dort für die Pflege?
Nydahl: Es gibt ein schönes Buch, das trägt den Titel: High Tech und High Touch. Das bringt es gut auf den Punkt. Wir haben immer mehr Technik auf den Stationen. Wir fangen jetzt an mit Künstlicher Intelligenz. Wir haben verschiedene Organersatzverfahren, also die Dialyse als künstliche Niere, die Beatmung als künstliche Lunge, es gibt künstliche Lebern und so weiter. Diese Geräte sind technisch sehr anspruchsvoll, und man muss wirklich fit sein, um sie gut bedienen zu können.
Das ist High Tech. Und was ist High Touch?
Nydahl: Die Patientinnen und die Familien zu betreuen. Ein Patient sagte mal: Wenn man kritisch krank ist, dann weiß man nicht, ob man morgen noch lebt. In so einem emotionalen Zustand sind die Menschen – und die Familien auch, weil sie nicht wissen, wie es ausgeht. Sie darin zu begleiten, ist nicht einfach. Viele Menschen bekommen Schlafmittel, bekommen alles nur so ein bisschen mit. Man muss aufpassen, was man sagt, weil sie vieles missverstehen. Viele Menschen haben Albträume, sind im Delir, in dieser Verwirrtheit, und denken, wir wären Außerirdische oder Räuber, Entführer, Terroristen. Diese Menschen muss man behutsam wieder in die Realität zurückführen können. Das ist anspruchsvoll, und deswegen ist der Personalschlüssel von eins zu zwei angemessen.
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Wie lässt sich die Situation auf den Intensivstationen verbessern? Was macht eine gute, vielleicht sogar eine angehörigenfreundliche Intensivstation aus?
Die angehörigenfreundliche Intensivstation ist ein Projekt der Deutschen Fachgesellschaft für Intensivpflege. Wir zertifizieren Intensivstationen, die bestimmte Kriterien erfüllen. Dazu gehören flexible Besuchszeiten über mindestens zwölf Stunden. Besuche sind darüber hinaus in Absprache immer möglich. Voraussetzung ist außerdem ein Wartebereich, damit Angehörige nicht auf dem Flur stehen, sondern einen geschützten Raum haben. Hinzu kommen Bildungsmöglichkeiten für die Teams, damit sie in der Begleitung von Angehörigen geschult sind. Wir haben einen langen Kriterienkatalog und sind froh, dass sich in Deutschland von rund 1.600 Intensivstationen schon 280 haben zertifizieren lassen.
Welche Vorteile sind damit für die Patienten verbunden?
Einige Studien zeigen, dass die Patientinnen und Patienten seltener und wenn, dann ein kürzeres Delir haben. Delir kann zu Demenz führen, zu kognitiven Einschränkungen, zu Pflegebedürftigkeit. Wenn ich das durch erweiterte Besuchszeiten vermeiden kann, weil da eine vertraute Person beim Patienten ist, deren Stimme er kennt, dann ist das Gold wert. Patienten sind zufriedener, sie wachen mit weniger Komplikationen wieder auf, sie haben weniger Angst und Depressionen, weniger Kreislaufprobleme.
„Bei den Familien merken wir, dass es zu einer messbaren Entlastung führt.“
Pflegewissenschaftler
Was können die von Ihnen empfohlenen Intensivtagebücher leisten?
Bei den Patienten, die länger als 24 oder 48 Stunden auf der Station sind, wird den Familien angeboten, dass sie in ein Intensivtagebuch kurze Erklärungen schreiben. Bei den Familien merken wir, dass es zu einer messbaren Entlastung führt. Gerade bei Angehörigen von Intensivpatienten sind die Gefühle häufig durcheinander. Wenn sie aufschreiben können, was sie bewegt und dass sie Angst haben, weil sie nicht wissen, was morgen ist, entlastet das. Gleichzeitig sagen viele Partner und Partnerinnen, dass die Intensivtagebücher helfen, in Kontakt zu bleiben. Viele Intensivpatienten haben Bewusstseinsstörungen oder liegen sogar im Koma. Wenn man dann schreiben kann: Schatz, ich vermisse dich so, dann weiß ich, der oder die wird das später irgendwann lesen.
Sie haben auch schon wissenschaftliche Erkenntnisse, dass das bestimmte Folgen, wie beispielsweise Traumatisierung, verhindern kann?
Ja, genau, weniger Angst, Depression, posttraumatische Belastungsstörungen. Bei Angehörigen weniger komplizierte Trauer. Intensivpatienten wissen oft nicht genau, was tatsächlich stattgefunden hat und was nur ein Traum war. Dann denken sie, sie wären tatsächlich von Außerirdischen entführt worden – das fühlt sich für sie echt an. Wenn sie dann im Tagebuch nachlesen können, dass sie eine Infektion hatten und das Personal musste deswegen eine grüne Schutzausrüstung und Mundschutz tragen, erkennen sie: Das waren die grünen Männchen, die sie gesehen haben. Das hilft ihnen, ihre Erfahrungen sinnvoll einzusortieren, und das entlastet sie.
Zur Person
PD Dr. Peter Nydahl hat 30 Jahre lang als Krankenpfleger gearbeitet, meist auf Intensivstationen. Er qualifizierte sich 2016 zum Master of Science in Nursing. Die Promotion folgte 2020, die Habilition 2023. Seit 2021 arbeitet Nydahl am Uniklinikum Schleswig-Holstein in Kiel in der Pflegewissenschaft und -entwicklung. Peter Nydahl erhielt den Deutschen Pflegepreis 2024, verliehen vom Deutschen Pflegerat e. V.
Mitwirkende des Beitrags
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