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Recht: Kein Pflegegeld für Behinderte in besonderer Wohnform

19.02.2025 Kathleen Neumann 4 Min. Lesedauer

Pflegebedürftige, die in einer vollstationären Einrichtung der Behindertenhilfe leben, haben keinen Anspruch auf Pflegegeld, sondern nur auf eine Pauschale.

Symbolbild eines Paragraphenzeichen, das auf einem geöffneten Buch steht

Menschen mit einer Behinderung haben nach Artikel 19 der UN-Behindertenrechtskonvention das Recht zu entscheiden, wo und wie sie leben möchten. Viele wohnen in einer besonderen Wohnform der Behindertenhilfe. Dort werden sie in ihrem Alltag unterstützt, oft auch gepflegt. Diese besonderen Wohnformen sind keine vollstationären Pflegeeinrichtungen im Sinne der Pflegeversicherung. Deshalb haben pflegebedürftige Menschen mit Behinderung nach Paragraf 43a SGB XI zur Abgeltung von Pflegeaufwendungen nur einen Anspruch auf 15 Prozent des vereinbarten Heimentgelts, maximal 266 Euro monatlich (bis 31.Dezember 2024; ab 2025: 278 Euro). Voraussetzung für diese Leistung der Pflegekasse sind die Pflegegrade 2 bis 5. Die Pauschale zahlt die Pflegekasse zumeist direkt an die Einrichtung. Aber haben Pflegebedürftige mit Behinderung, die in einer besonderen Wohnform leben, anstelle der Pauschale einen Anspruch auf reguläres Pflegegeld nach Paragraf 37 SGB XI? Diese Frage lag dem Bundessozialgericht (BSG) zur Entscheidung vor. 

Urteil vom 5. September 2024

- B 3 P 9/22 R - 
Bundessozialgericht

Kosten selbst gezahlt

Geklagt hatte ein von Geburt an geistig behinderter Mann. Er ist bei der beklagten Pflegekasse versichert und zur Hälfte beihilfeberechtigt. Er wohnt in einer Lebensgemeinschaft, die Menschen mit Behinderungen Wohnraum über lässt und Leistungen der Eingliederungshilfe erbringt. Der 1951 geborene Mann, der in Pflegegrad 3 eingestuft ist, hat bei der Lebensgemeinschaft ein Einzelzimmer gemietet und nimmt Leistungen der Pflege und Betreuung in Anspruch. Seinen Antrag auf Kostenübernahme hatte der Träger der Eingliederungshilfe aufgrund des Einkommens und Vermögens abgelehnt. Er habe zwar grundsätzlich Anspruch auf Leistungen der Eingliederungshilfe. Bevor er diese in Anspruch nehmen könne, müsse er aber zunächst sein eigenes Vermögen einsetzen. Deshalb trägt er die Kosten selbst. Er beantragte bei seiner Kasse Pflegegeld nach dem Pflegegrad 3 anstelle der ihm bislang gezahlten geringeren hälftigen Pauschalleistung für die Pflege von Menschen mit Behinderungen nach Paragraf 43a SGB XI. Die Lebens-gemeinschaft stelle für ihn die Häuslichkeit dar.

Grafik: In Deutschland leben 7,9 Millionen Menschen mit schwerer Behinderung. Das macht einen Anteil an der Gesamtbevölkerung von 9,3% aus. Die meisten Schwerbehinderten sind 65 und älter. In dieser Altersgruppe ist der Anteil an Männern 57,2% und der Frauenanteil 60,3%. Unter 25 belaufen sich die Schwerbehinderungen auf männlich: 5,3% und weiblich: 3,4%. 64,1% der geistig Behinderten leben in einer besonderen Wohnform, 29,9% seelisch behinderte und 6,0% körperlich Behinderte. Außerhalb einer speziellen Wohnform leben 23,3% geistig Behinderte, 71,0% seelische Behinderte und 5,7% mit einer körperlichen Behinderung.

Kasse lehnt Antrag ab

Die Pflegekasse lehnte den Antrag jedoch ab. Er lebe in einer Räumlichkeit nach Paragraf 71 Absatz 4 SGB XI, also in einer „besonderen Wohnform“ mit überwiegend Leistungen der Eingliederungs-hilfe. Deshalb liege keine häusliche Pflege vor. Diesem Bescheid widersprach er erfolglos. Nachdem er mit seinen Klagen vor dem Sozial- und dem Landesozialgericht gescheitert war, legte er Revision beim BSG ein. Doch es wies die Klage ab.

Pflegegeld könne zwar auch bezogen werden, wenn Pflege-bedürftige nicht in ihrem eigenen Haushalt gepflegt werden. Es sei aber nicht zulässig, wenn Pflegebedürftige in einer stationären Pflegeeinrichtung oder in einer Einrichtung oder in Räumlichkeiten im Sinne des Paragrafen 71 Absatz 4 SGB XI gepflegt würden. Dies sehe das Gesetz so vor (Paragraf 36 Absatz 4 SGB XI). Der Kläger lebe in einer solchen besonderen Wohnform, in welcher der Zweck des Wohnens von Menschen mit Behinderungen und der Erbringung von Leistungen der Eingliederungshilfe für diese im Vordergrund steht und der Umfang der Gesamtversorgung regelmäßig weitgehend der Versorgung in einer vollstationären Einrichtung entspricht. Daher sei mangels häuslicher Pflege ein Anspruch auf Pflegegeld ausgeschlossen. Dem stünde nicht entgegen, dass der Betroffene die Leistungen der Eingliederungshilfe selbst zahle. Denn der Begriff der Räumlichkeiten knüpfe allein an den Ort an, an dem gepflegt werde, nicht aber daran, wer die Kosten der Eingliederungshilfeleistungen trage. Auch seien Vermögende wie der Kläger nicht vom Erhalt der Eingliederungshilfeleistungen ausgeschlossen, sondern wegen des eigenen Vermögens nur von der Kostenübernahme.

„Der Pauschalbetrag ist auch für Selbstzahler nicht verfassungswidrig. Das Bundessozialgericht verweist auf die Regelungskompetenz des Gesetzgebers. Er könnte höhere Leistungen für Menschen mit Behinderung vorsehen.“

Kathleen Neumann

Justiziarin im AOK-Bundesverband

Dies verstoße nicht gegen Artikel 2 oder 3 des Grundgesetzes beziehungsweise Artikel 5 der UN-Behindertenrechtskonvention. Insbesondere verbiete der Gleichheitssatz nur eine Verteilung von Leistungen nach unsachlichen Gesichtspunkten. Vor dem Hintergrund der unterschiedlichen Strukturen an den möglichen Orten sei eine Differenzierung nach dem Ort der Pflegeleistungen kein unsachlicher Gesichtspunkt. Hieran ändere auch die neue Struktur der Eingliederungshilfe nach dem Bundesteilhabegesetz nichts. Die Abgrenzungsregelungen zwischen Pflegeversicherung und Eingliederungshilfe knüpften an die unterschiedliche Leistungs- und Finanzierungverantwortung an und gerade nicht benachteiligend an eine Behinderung. Nichtsdestotrotz bliebe es dem Gesetzgeber unbenommen, für Selbstzahler höhere Leistungen der Pflegeversicherung vorzusehen.

Tipp für Juristen

Krankenhausreform, stationäre Langzeitpflege – diese und weitere Themen behandelt der 21. Kölner Sozialrechtstag – Stationäre Versorgung am 25. März. Veranstalterin ist das Institut für Deutsches und Europäisches Arbeits- und Sozialrecht der Universität Köln.

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