Recht: Kliniken müssen Patienten vor Stürzen schützen
Krankenhäuser haben Vorkehrungen zu treffen, damit Patienten nicht stürzen. Tun sie das nicht, kann ein Anspruch auf Entschädigung bestehen.
Beschluss vom 14. November 2023
– VI ZR 244/21 –
Bundesgerichtshof
Wenn Patienten im Krankenhaus fallen und dadurch einen gesundheitlichen Schaden erleiden, ist oft umstritten, ob der Sturz auf Pflichtverletzungen der Klinik beruht und diese dafür haftet. So auch im Fall einer damals 66-jährigen Frau, die am 10. Dezember 2008 eine Knieendoprothese links erhielt. Nach der Operation litt sie an Verwirrtheit und Unruhe, sodass sie zur Sicherheit nachts auf die Intensivstation kam.
Am 13. Dezember morgens verlegte man sie mit „extrem hohen Sturzrisiko“ in ihr Stationszimmer zurück. Vormittags stürzte sie beim Transfer auf den Toilettenstuhl, verletzte sich dabei aber nicht. In der Pflegedokumentation war vermerkt, dass die Frau gegen 10.30 Uhr geistig aufklarte und Abläufe sowie Personen wieder richtig einordnete. Nachdem man ihr das Mittagessen neben das Bett auf den Nachttisch stellte, stürzte sie bei dem Versuch, an das Essen heranzukommen, von der Bettkante auf den Boden. Dabei erlitt sie am linken Unterschenkel mehrere Brüche, die operiert werden mussten. Wegen Komplikationen wurde im Jahr 2010 der linke Unterschenkel und nach einem weiteren Sturz der linke Oberschenkel amputiert. Schließlich verstarb sie.
Schadenersatz gefordert
Die Erben der Frau forderten von dem Krankenhausträger aus übergegangenem Recht Schadenersatz. Beim Mittagessen seien grob behandlungsfehlerhaft notwendige Schutz- und Obhutsmaßnahmen unterlassen worden. Auch sei die Patientin nicht darüber aufgeklärt worden, dass sie sich nicht allein mobilisieren dürfe.
Die Kläger unterlagen jedoch in erster und zweiter Instanz. Das Oberlandesgericht verneinte Ansprüche auf Schadenersatz. Ein haftungsbegründender Behandlungsfehler könne nicht festgestellt werden. Die Kläger hätten einen Pflegefehler nicht schlüssig dargelegt. Zwar sei grundsätzlich von einer Schutz- und Obhutspflicht des Krankenhausträgers zum Vermeiden von Stürzen auszugehen, wenn aufgrund der konkreten Situation eine Sturzgefahr bestehe. Allerdings seien die Schutz- und Obhutspflicht auf die in einer entsprechenden Situation üblichen Maßnahmen begrenzt und müssten mit einem vernünftigen finanziellen und personellen Aufwand realisierbar sein. Es könne nicht festgestellt werden, dass der Klinikträger die erforderlichen Maßnahmen pflichtwidrig unterlassen habe. Auch bestehe kein Anlass, ein internistisch/geriatrisches beziehungsweise pflegewissenschaftliches Sachverständigengutachten zu der Frage einzuholen, ob der Zustand der Patientin besondere Schutz- oder Pflegemaßnahmen erfordert hätte.
Tipp für Juristen
Neue Haftungsrisiken, Grundlagen der Haftung, Patientensicherheit und Schadenprophylaxe – diese und weitere Themen behandelt das Seminar Haftung und Versicherung von Ärzten, Zahnärzten und Krankenhäusern der Deutschen Anwaltakademie am 12. April in Düsseldorf.
Weitere Informationen über das Seminar
Pflegefehler dargelegt
Daraufhin legten die Kläger Nichtzulassungsbeschwerde beim Bundesgerichtshof ein und hatten Erfolg damit. Die obersten Zivilrichter hoben die Entscheidung des Berufungsgerichts auf und wiesen den Rechtsstreit an die Vorinstanz zurück. Zwar sei sie zutreffend davon ausgegangen, dass der Krankenhausträger zum Schutz der körperlichen Unversehrtheit von Patienten verpflichtet sei und die dafür notwendigen und zumutbaren Vorkehrungen treffen müsse, um einen Sturz zu verhindern. Der Bundesgerichtshof teilte jedoch nicht die Auffassung des Berufungsgerichts, die Kläger hätten einen Pflegefehler nicht schlüssig dargelegt und dass trotz des noch am Vormittag gegebenen Verwirrtheits- und Unruhezustands der Patientin keine besonderen Schutzmaßnahmen beim Mittagessen erforderlich gewesen wären. Die Kläger hätten dargelegt, dass das bloße Abstellen des Essens auf dem Nachttisch ohne jede Hilfestellung angesichts des Zustands der Frau ein grober Pflegefehler sei und dass die Patientin weder die Situation noch die Gefahren habe richtig erkennen können. Mittags sei mit kognitiven und körperlichen Defiziten zu rechnen gewesen. Dennoch habe die Pflegekraft das Mittagessen kommentarlos auf den Nachttisch gestellt, sich aus dem Zimmer entfernt und es der Patientin überlassen, die Mahlzeit irgendwie einzunehmen. Gerade dadurch habe ein besonderes Sturzrisiko bestanden. Dies habe das Oberlandesgericht nicht zur Kenntnis genommen.
„Das Oberlandesgericht durfte mangels eigener Sachkunde nicht selbst bewerten, ob und welche Vorkehrungen vor dem Sturz erforderlich waren. Es muss nun ein Expertengutachten einholen.“
Rechtsanwältin im Justiziariat des AOK-Bundesverbandes
Kein Gutachten eingeholt
Zudem sei es ohne eigene medizinische und pflegewissenschaftliche Sachkunde davon ausgegangen, dass das erhöhte Sturzrisiko zum Zeitpunkt des Sturzes nicht mehr bestanden habe. Ob im Hinblick auf das bestehende Gefährdungspotenzial zum Zeitpunkt des Sturzes zusätzliche Maßnahmen im Zusammenhang mit dem Mittagessen erforderlich gewesen seien – und wenn ja, welche – ließe sich ohne medizinische und pflegewissenschaftliche Sachkunde nicht beantworten. Es sei nicht auszuschließen, dass das Oberlandesgericht zu einer anderen Beurteilung gelangt wäre, wenn es das von den Klägern beantragte Sachverständigengutachten eingeholt hätte.
Mitwirkende des Beitrags
Autorin
Datenschutzhinweis
Ihr Beitrag wird vor der Veröffentlichung von der Redaktion auf anstößige Inhalte überprüft. Wir verarbeiten und nutzen Ihren Namen und Ihren Kommentar ausschließlich für die Anzeige Ihres Beitrags. Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht, sondern lediglich für eventuelle Rückfragen an Sie im Rahmen der Freischaltung Ihres Kommentars verwendet. Die E-Mail-Adresse wird nach 60 Tagen gelöscht und maximal vier Wochen später aus dem Backup entfernt.
Allgemeine Informationen zur Datenverarbeitung und zu Ihren Betroffenenrechten und Beschwerdemöglichkeiten finden Sie unter https://www.aok.de/pp/datenschutzrechte. Bei Fragen wenden Sie sich an den AOK-Bundesverband, Rosenthaler Str. 31, 10178 Berlin oder an unseren Datenschutzbeauftragten über das Kontaktformular.