
Indien will poliofrei bleiben
Seit 2014 gilt Indien als frei von Kinderlähmung. Um den Status zu erhalten, setzt das Land auf niedrigschwellige Aufklärung zum Impfschutz und auf engmaschige Surveillance. Denn das Virus könnte aus Afghanistan und Pakistan wieder eingeschleppt werden.
Puneet Jaitley ist ein erfahrener Mann. Der Inder kämpft seit 25 Jahren gegen die Kinderlähmung. Poliomyelitis (Polio) ist eine hochansteckende Infektionskrankheit. Sie kann das zentrale Nervensystem angreifen und zu schweren Behinderungen oder zum Tod führen. Bevor die Impfkampagnen gewirkt haben, infizierten sich allein in Indien pro Tag 200.000 Kinder mit dem Polio-Virus. Indien verzeichnete laut Weltgesundheitsorganisation 60 Prozent der Fälle weltweit.
Alle Bevölkerungsgruppen erreichen
Jaitley, der am indischen Ministerium für Familie und Sozialhilfe in Delhi als „State Immunisation Officer“ arbeitet, hat anstrengende, bunte Jahre miterlebt: Mehrfach pro Jahr fanden im Zuge des 1995 initiierten „Polio Pulse“-Immunisierung-Programmes der indischen Regierung Durchimpfungsrunden auf Ebene des Staates und der Bundesstaaten statt. In der Regel wird der erste Impfschutz gegen Kinderlähmung im Säuglingsalter aufgebaut. 170 Millionen Kinder im Alter bis zu fünf Jahren erhielten während der nationalen Impftage in Indien einen Tropfen des Schluckimpfstoffs gegen Polio in den Mund. Tausende Impfhelferinnen und -helfer erreichten weitere 77 Millionen Kinder während der jeweils fünftägigen Impfrunden in den Bundesstaaten. Das alles war Teil der „Global Polio Eradication Initiative“ (GPEI) – einer 1988 begonnenen Initiative der Weltgesundheitsorganisation (WHO), des Kinderhilfswerks der Vereinten Nationen, von Rotary International und dem US-Zentrum für Krankheitskontrolle und Prävention. Jaitley berichtet, dass sich in Indien zuletzt im Jahr 2011 ein Mädchen aus West-Bengal mit dem Virus infizierte. 2014 folgte die von der WHO vergebene Auszeichnung als „poliofrei“. Von den anfangs 125 polio-endemischen Ländern sind nur zwei übriggeblieben: Indiens Nachbarländer Pakistan und Afghanistan (siehe Kasten „Weiter wachsam gegen Polio“).
„Wenn wir diese Gruppe nicht ernst nehmen, kann das schon bald ein Aufflackern der Kinderlähmung bedeuten.“
„State Immunisation Officer" am indischen Ministerium für Familie und Sozialhilfe in Delhi
Ganz zufrieden ist Puneet Jaitley trotz dieser Erfolge nicht. Denn noch immer lauere in seinem Land eine Gefahr, und das „sind die Lodors“, betont der Arzt mit ernster Miene. „Wenn wir diese Gruppe an Menschen nicht ernst nehmen, dann kann das schon bald ein Aufflackern der Kinderlähmung bedeuten.“ „Lodor“ ist eine Abkürzung für „left out“, „drop out“, und „refusers“ – also diejenigen, die man nicht finden könne, die sich von der Impfung abkehrten oder diese gar ganz verweigerten.
Kindertagesstätten als Treffpunkt nutzen
Delhi, die Hauptstadt Indiens mit mehr als 32 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern, ist ein Ort der Durchreise. Die Gefahr, dass das Polio-Virus von Menschen eingeschleppt wird, die aus Afghanistan oder Pakistan nach Indien einreisen, ist Jaitley zufolge nicht klein. „30 Prozent aller Menschen in Delhi haben einen Migrationshintergrund“, erklärt der Impfoffizier. Auch Tagelöhner gelte es von der Impfung zu überzeugen. Um die Menschen der Lodor-Gruppe zu erreichen, haben sich die GPEI-Akteure Indiens einiges überlegt. Ein Ansatzpunkt: die Einbindung der Anganwadis und der ASHAS (Accredited Social Health Activists).
Was nach etwas Großem klingt, ist in der Realität eher klein. In einer staubigen Ecke inmitten einer ärmeren Wohngegend Delhis liegt eine dieser Anganwadis. Das sind meist nur aus einem Raum bestehende Kindertagesstätten. Die nicht einmal zehn Quadratmeter großen Räume sind mit kaum mehr als einigen Holzstühlen ausgestattet. An den Wänden hängen Zeichnungen mit Gesundheitsinformationen. Hier versammeln sich die ASHAS. Diese Frauen aus der Gemeinde fungieren im Auftrag der indischen Regierung als Arzthelferinnen des ersten Kontakts. Nach kurzer Schulung sind sie primäre Anlaufstelle für diejenigen Bevölkerungsgruppen, insbesondere Frauen und Kinder, die nur schwer Zugang zu Gesundheitsdiensten haben. ASHAS bringen Mütter mit ihren kleinen Kindern in die Anganwadis. Hier wird ihnen für einige Stunden ein sicherer Raum geboten. In dieser Zeit weisen die ASHAS die Mütter auf notwendige Impfungen hin, klären über Schwangerschaft auf und prüfen, ob das Gewicht der Kinder internationalen Vorgaben entspricht. „In dieser Gegend hier ist die Ausbruchsgefahr höher, denn hierher kommen Menschen von überall – aus den Nachbarstaaten Bihar, West-Bengal, Haryana und Uttar Pradesh“, erklärt Dr. Quaiser Nezami vom National Polio Surveillance Projekt (NPSP) der WHO.
Kooperation zwischen mehreren Ebenen
Nur wenige Gehminuten von der Kindertagesstätte entfernt liegt das „Vikas Health Center“. Das Gesundheitszentrum versorgt rund 1.800 Menschen in seinem Einzugsbereich. Hierher kommen Patientinnen und Patienten mit kleineren gesundheitlichen Anliegen. Es ist für die Mütter eine Anlaufstelle auf der nächsten Ebene nach den Anganwadis. Im Gesundheitszentrum sind jeweils zwei ASHAS tätig, daneben „Integrated Child Development Scheme Worker“ (ICDS) – Arbeitskräfte, die wie Anganwadi-Mitarbeiterinnen für Indiens Wohlfahrtsprogramm zur Bekämpfung von Unterernährung und anderen Gesundheitsproblemen im Einsatz sind.
Ernährung und Impfung sind eng miteinander verbunden. Impfstoffe lösen bei unterernährten Kindern möglicherweise keine starke Immunität aus. Dabei sind es gerade diese Kinder, die am anfälligsten für Infektionserkrankungen wie Polio sind. Die diagnostischen Möglichkeiten am Vikas Health Center sind gering. Patientenakten werden noch immer händisch geführt. Doch die ASHAS, die ICDS-Kräfte und die Anganwadi-Mitarbeiterinnen wirken gut zusammen. Gemeinsam schaffen sie es, auch an die Bevölkerungsgruppen heranzukommen, die ansonsten medizinisch durchs Netz fallen würden.
Schwerpunkt liegt auf der Surveillance
Personell und infrastrukturell stärker aufgestellt ist das „Urban Primary Health Centre“ in Daryaganj, einem Teil Neu-Delhis, zuständig für 3.000 bis 4.000 Einwohnerinnen und Einwohner. Hier werden die Impfstoffe kühl gelagert, es finden regelmäßige Impfrunden für Menschen aus dem Einzugsgebiet statt. Lokale Hilfskrankenschwestern, die Auxiliary Nurse Midwifes, werden mit hier gelagerten Impfstoffen ausgestattet. Zwar finden, seitdem Indien als poliofrei gilt, kaum noch zusätzliche Durchimpfungstage statt. Doch die Surveillance – also die Überwachung hinsichtlich möglicher Polio-Viren – spiele weiterhin eine große Rolle, sagt Quaiser Nezami. „Wir testen jeden Fall einer akuten schlaffen Lähmung“, so der Surveillance-Officer der WHO.
„Es gibt den Irrglauben, Indien sei vor erneuten Polio-Ausbrüchen sicher – das sind wir aber nicht.“
Vorsitzende des „Rotary International India Polio Plus Committees"
Die landesweite Überwachung der Acute Flaccid Paralysis (AFP) ist laut GPEI der Goldstandard für die Erkennung von Polio-Fällen. Die vier Schritte der Überwachung sind: Suche und Meldung von Kindern mit akuter schlaffer Lähmung, Transport von Stuhlproben zur Analyse, Isolierung und Identifizierung des Polio-Virus im Labor, Kartierung des Virus, um den Ursprung des Virusstamms zu bestimmen. Die „Non-Polio-AFP-Rate“ entspricht der Zahl der jährlich festgestellten Fälle schlaffer Lähmung auf 100.000 Menschen unter 15 Jahren, die nicht auf Polio zurückzuführen sind. Gebe es viele solcher Non-AFP-Fälle, sei die Gefahr neuer Polio-Ausbrüche gering, erläutert WHO-Mitarbeiter Quaiser Nezami.
Neue Ausbrüche sind möglich
Das Netz aus aufeinander abgestimmten Gesundheitszentren in Kombination mit engmaschiger Surveillance scheint Deepak Kapur nur bedingt zu beruhigen. Wie Puneet Jaitley macht sich der langjährige Vorsitzende des „Rotary International India Polio Plus Committees" Sorgen um die schwer erreichbaren Lodors.
Mehr noch beunruhigt Kapur aber die „Fatigue“, die Ermüdung, die sich bei den Menschen in Indien beim Thema Polio eingeschlichen habe. „Es gibt den Irrglauben, Indien sei vor erneuten Polio-Ausbrüchen sicher – das sind wir aber nicht“, unterstreicht er. Solange es weitere Poliofälle, derzeit sogar steigende Zahlen, in Pakistan und Afghanistan gebe und solange die Menschen weiter nach Indien einreisten und überhaupt reisten, sei niemand sicher – auch der Westen nicht.
Weiter wachsam gegen Polio
Polio bleibt eine Gefahr: Nach Angaben der „Global Polio Eradication Initiative" wurden im Jahr 2024 in Afghanistan 25 und in Pakistan 74 Fälle gemeldet – Länder, in denen das Wild-Poliovirus endemisch vorkommt. Europa ist seit 2002 offiziell poliofrei, Afrika seit 2020. Das Robert-Koch-Institut meldete allerdings Ende 2024 einen Anstieg impfstoffabgeleiteter Polioviren im Abwasser an mehreren deutschen Standorten.
1985 rief Rotary International die „Polio-Plus-Initiative" ins Leben. Sie hat zum Ziel, Polio weltweit auszurotten. Rotarier begaben sich 1988 gemeinsam mit der WHO zur Weltgesundheitsversammlung der Vereinten Nationen, um sie von dem Gedanken zu überzeugen, dass die Ausrottung gelingen könnte. Daraus erwuchs eine Partnerschaft zwischen WHO, Rotary, CDC und Unicef. 1988 war der Startschuss für die „Global Polio Eradication Initiative“ durch die Weltgesundheitsversammlung der Vereinten Nationen. Die „Bill and Melinda Gates Foundation“ und die Impfallianz GAVI traten der Initiative später bei. Der Welt-Polio-Tag erinnert jährlich daran, dass die Ausrottung der Krankheit nur möglich ist, wenn weiterhin konsequent gegen Polio geimpft wird.
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