„Wir brauchen mehr Offenheit in Fragen sexueller Gesundheit“
Die Allgemeinbevölkerung weiß zu wenig über sexuell übertragbare Krankheiten, sagt Tessa Winkel. Die Fachärztin fordert, den Fokus in der Prävention zu erweitern.


Wie hat sich die Situation rund um sexuell übertragbare Infektionen (STI) in den vergangenen Jahren verändert?
Dr. Tessa Winkel: Früher war meist nur ein HIV-Test gefragt, heute sind es vermehrt auch Tests auf andere STI. Der Fokus liegt dabei nicht mehr nur auf klassischen Risikogruppen, wie Männern, die Sex mit Männern (MSM) haben, oder Sexarbeitenden. Auch die Allgemeinbevölkerung achtet zunehmend auf sexuelle Gesundheit. Während die sexuelle Offenheit zu wachsen scheint, bleibt das Wissen über Infektionsschutz oft lückenhaft und auch das Versorgungsangebot hinkt hinterher.
Welche Rolle spielt die gesellschaftliche Wahrnehmung?
Winkel: HIV und andere STI werden oft in einen Topf geworfen, betreffen aber teilweise unterschiedliche Gruppen. Denn während HIV und Syphilis vor allem bei MSM auftreten, sind Chlamydien die häufigste Infektion bei Unter- 30-Jährigen – unabhängig von Gender oder sexueller Orientierung. Eine individuelle Risikobewertung ist daher entscheidend.
Welche Hürden gibt es bei der STI-Testung?
Winkel: Menschen ohne Krankenversicherung können Tests und Behandlungen nur schwer erhalten. Für sie braucht es bessere Zugänge zur medizinischen Grundversorgung. Aber auch Versicherte haben Hürden: Das einzige kostenlose Screening betrifft Chlamydien bei Frauen unter 25. Viele von ihnen kennen ihren Anspruch nicht. Wer weitere Tests braucht, hat oft Schwierigkeiten, etwa weil Ärztinnen und Ärzte diese nicht für nötig halten oder sie nur als Selbstzahler-Leistungen anbieten.
Welche innovativen Ansätze gibt es bei der STI-Prävention und -Testung?
Ein Wendepunkt war die Prä-Expositions-Prophylaxe, besser bekannt als HIV-PREP. Diese Vorsorgehilft, HIV-Neuinfektionen zu senken. Für Menschen außerhalb von Großstädten sind außerdem Heimtests eine gute Alternative: Abstriche, Urinproben oder Bluttests können selbst entnommen und ins Labor geschickt werden. Auch HIV-Tests sind inzwischen ohne Arztvorbehalt möglich, was niedrigschwellige Testangebote, etwa durch Peer-Projekte, erleichtert.
„STI-Prävention darf nicht in Schubladen denken.“
betreut im Zentrum für sexuelle Gesundheit und Familienplanung in Berlin Charlottenburg-Wilmersdorf die HIV- und STI-Sprechstunde
Wie können Politik und Gesundheitsinstitutionen dazu beitragen, STI einzudämmen?
Die Datenlage in Deutschland muss verbessert werden. Denn derzeit sind nur HIV, Hepatitis und Syphilis anonym meldepflichtig, Gonorrhoe nur in Sachsen. Andere STI, wie Chlamydien oder Trichomonaden, werden kaum erfasst. Dazu wäre mehr Forschung nötig, etwa wie beim Robert-Koch-Institut zu HIV und Syphilis. Zudem sollte es in der Facharztausbildung mehr Schulungsangebote geben – sowohl zu Infektionen als auch zu den verschiedenen sexuellen Lebenswelten. Dafür ist es wichtig, HIV und STI zu entstigmatisieren. Und wir müssen mehr Wissen in der Allgemeinbevölkerung vermitteln, beginnend in Schulen. Insgesamt benötigen wir mehr finanzielle Mittel, etwa für kostenlose Verhütungsmittel, Personal oder flächendeckende Testangebote.
Geht es bei der Prävention vor allem um spezifische Communities in Großstädten?
STI-Prävention darf nicht in Schubladen denken – auch Frauen in festen Beziehungen können betroffen sein. Wir brauchen mehr gesellschaftliche Akzeptanz für unterschiedliche Lebensmodelle und mehr Offenheit in Fragen sexueller Gesundheit.
Zur Person
Dr. Tessa Winkel ist Fachärztin für Gynäkologie und Geburtshilfe. Seit fast zehn Jahren betreut sie im Zentrum für sexuelle Gesundheit und Familienplanung in Berlin Charlottenburg-Wilmersdorf die HIV- und STI-Sprechstunde. Hier berät, untersucht und therapiert sie Menschen aller Geschlechter und verschiedenster Risikolagen im Themenfeld der sexuellen Gesundheit. Tessa Winkel ist außerdem in verschiedenen Arbeitsgruppen vernetzt und unter anderem Mitglied der Deutschen STI-Gesellschaft (DSTIG).
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