Artikel Versorgung

Das Leiden nach dem Leiden

18.04.2024 Thorsten Severin 8 Min. Lesedauer

Nach einer Behandlung auf der Intensivstation und einer Reha gilt das Schlimmste als überstanden. Doch bei vielen Patientinnen und Patienten geht das Leiden mit teils völlig neuen Beschwerden weiter.

Foto von Apparaten einer Intensivstation
Auf einer Intensivstation werden Patienten an unzählige Apparate angeschlossen.

Mehr als zwei Millionen Menschen werden pro Jahr in Deutschland intensivmedizinisch behandelt. Im Anschluss daran ist oft nichts mehr, wie es war. „Der längerfristige Aufenthalt auf der Intensivstation kann dazu führen, dass kognitive, psychische und körperliche Defizite neu entstehen oder sich bestehende Beeinträchtigungen verschlechtern“, erläutert Dr. Claudia Denke, die bei der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) die Sektion zum Post Intensive Care Syndrom (PICS) leitet. Zugleich arbeitet die promovierte Naturwissenschaftlerin als psychologische Psychotherapeutin in der Klinik für Anästhesiologie der Berliner Charité. In der zugehörigen PICS-Ambulanz begegnen Denke ständig komplizierte Fälle.

Körperliche, kognitive und psychische Beschwerden

Die betroffenen Menschen leiden auf körperlicher Ebene unter einer verminderten Belastbarkeit, starker Erschöpfung, Muskelschwäche, Nervenschmerzen und in seltenen Fällen unter einer Abhängigkeit vom Beatmungsgerät. Außerdem können Hör-, Seh- und Schluckstörungen auftreten. Kognitiv werden Konzentrations-, Aufmerksamkeits- und Merkstörungen beobachtet. Auf psychischer Ebene sind Depressionen, Ängste bis hin zu Posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS) zu finden. Die genannten Ängste können laut Denke unterschiedlicher Art sein und völlig situationsungebunden verlaufen. Werden schlimme Situationen auf der Intensivstation, wie die Angst vor dem Ersticken, im Nachhinein immer und immer wieder durchlebt – zum Beispiel ausgelöst durch Gerüche, Geräusche oder Bilder –, falle das unter den Symptomkomplex einer PTBS.

Das Post Intensive Care Syndrom kann einen, zwei oder alle drei Komplexe betreffen. Studien haben gezeigt, dass drei Monate nach intensivstationärer Behandlung bis zu zwei Drittel der Patientinnen und Patienten in mindestens einer der PICS-Dimensionen beeinträchtigt sind. Sechs Monate später weist noch über die Hälfte in mindestens einem der Bereiche Probleme auf.
 
Durch die unterschiedlichen Ausprägungen wird der Symptomkomplex durch verschiedene Codes im internationalen Klassifikationssystem ICD-10 abgebildet, je nachdem, welche der genannten Beschwerden im Vordergrund steht. Meistens sind mehrere ICD-10-Diagnosen parallel vorhanden. Die jeweilige Kodierung bestimmt sehr wesentlich die Vergütung einer Leistung.

Noch junges Beschwerdebild

Blick auf intensivmedizinische Geräte
Nach der Zeit auf der Intensivstation finden viele Menschen nicht ins normale Leben zurück.

Das Beschwerdebild ist erst in jüngster Zeit zunehmend in den Fokus der Wissenschaft gerückt. „Durch die verbesserten intensivmedizinischen Möglichkeiten überleben heute viele Patientinnen und Patienten, die früher gestorben wären“, so Denke. „Wir haben somit seit zehn bis 15 Jahren eine neue Kohorte von Menschen, die es in den Blick zu nehmen gilt.“ Verbessert hat sich nicht nur das technische Equipment, sondern auch bei den Beatmungstechniken und der medikamentösen Behandlung gab es erhebliche Fortschritte.
 
Das Alter der betroffenen Personen geht quer durch die Bank, auch Kinder können laut Denke PICS entwickeln. Ein Durchschnittsalter lasse sich wegen unterschiedlicher Studien und Messinstrumente nicht nennen. „Klar ist aber, dass ältere Menschen häufiger Beeinträchtigungen nach einer Intensivzeit haben, weil oft schon Gesundheitsprobleme vorhanden waren, die sich verschlechtern.“

Die künstliche Beatmung so kurz wie möglich halten

Ob es zu dem Syndrom kommt, hängt nicht unbedingt von der Dauer des Aufenthalts auf der Intensivstation ab. „Auch kurze Aufenthalte können zu PICS führen. Doch lange Intensivbehandlungen gehören ganz klar zu den Hauptrisikofaktoren“, erläutert Denke. Eine lange Beatmungszeit, vorbestehende kognitive und psychische Beeinträchtigungen oder ein Delir vergrößern ebenfalls das Risiko für Beschwerden im Nachgang. Die moderne Medizin ist daher bemüht, die Gefahr zu begrenzen. „Es wird versucht, die Atemtherapie so kurz wie möglich zu halten.“ Atmungstherapeuten helfen bei der Entwöhnung vom Sauerstoffgerät. Außerdem würden die Patienten nicht mehr so stark und so lang sediert wie früher, wodurch die nachfolgende Muskelschwäche meist weniger stark ausgeprägt sei. Patienten bekämen zudem möglichst früh Physiotherapie, um körperlichen Beeinträchtigungen entgegenzuwirken. „Man versucht, deutlich früher zu aktivieren.“ Nicht zuletzt würden die Angehörigen eines Kranken schon während der Phase auf der Intensivstation einbezogen, denn sie seien für den Genesungsverlauf enorm wichtig.

Doch bei allen Bemühungen lässt sich PICS in vielen Fällen nicht verhindern. An der Charité gibt es daher seit 2020 eine Ambulanz für Betroffene. Nur wenige andere Kliniken in Deutschland, darunter Münster und Frankfurt, bieten eine solche multiprofessionelle Anlaufstelle zur Nachsorge an. „Es geht um Untersuchung, Diagnostik und vor allem um die Koordination der therapeutischen Leistungen“, sagt Denke. Gegebenenfalls werde an weitere Fachärzte überwiesen, etwa Pulmologen, Gastroenterologen, Neurologen oder Psychologen. Auch sozialmedizinische Beratung sei wichtig und bei vielen Menschen zudem eine berufliche Rehabilitation.

Ängste, verminderte Belastbarkeit, Muskelschwäche: Viele Kinder sind nach dem Aufenthalt auf der Intensivstation von hartnäckigen körperlichen, kognitiven und psychischen Beschwerden betroffen. Experten sprechen vom „Post Intensive Care Syndrom" (PICS). Die Forschung richtet ihr Augenmerk dabei jedoch meist auf erwachsene Patienten. Wissenschaftler…
19.04.2024Thorsten Severin4 Min

„Durch die bessere Behandlung auf Intensivstationen überleben heute viele Patienten, die früher gestorben wären.“

Porträt von Dr. Claudia Denke, PICS-Expertin an der Berliner Charité

Dr. Claudia Denke

PICS-Expertin an der Berliner Charité

Ambulanz hat Ursprung in Innovationsfondsprojekt

Hervorgegangen ist die Charité-Ambulanz aus dem Innovationsfonds-Projekt ERIC (Enhanced Recovery after Intensive Care). Sein Ziel war, Qualitätsindikatoren in die intensivstationäre Versorgung unter Nutzung eines E-Health-Systems einzuführen und somit das Wissen zur Vermeidung von Langzeitfolgen einer intensivmedizinischen Behandlung zu verbreiten.

Dabei ist ein Screening entstanden, um auf möglichst einfache Weise herauszufinden, wer unter PICS leidet und wer nicht. Im Januar 2022 sprach sich der Innovationsausschuss beim Gemeinsamen Bundesausschuss auf Basis der Ergebnisse für eine Überführung in die Regelversorgung aus. Die Erkenntnisse wurden dazu unter anderem an die Gesundheitsminister der Länder weitergeleitet.

Spezialsprechstunden sind in Deutschland selten

Mediziner sedieren am Intensivbett einen Patienten
Ärztinnen und Ärzte versuchen heute, Patienten kürzer zu sedieren.

Vorläufige Daten der Ambulanz deuten darauf hin, dass ein Viertel der Patienten nur einmal vorstellig wird. Bei ihnen geht es häufig um eine Klärung der aktuellen Beschwerden, und nicht selten reicht es ihnen, dass sie diese einordnen können und sie erfahren, in welche Richtung die Behandlung gehen kann. Sie machen dann in der Regel mit ihrer Hausärztin oder ihrem Hausarzt weiter. Bei ähnlich vielen Patientinnen und Patienten sind zwei bis drei Kontakte notwendig. Dies kann der Fall sein, weil vielleicht neue Untersuchungen notwendig werden. Und dann gibt es Patienten, die in ihrem Genesungsprozess bis zu zwei Jahre vom Ambulanz-Team begleitet werden. Laut Denke macht diese Gruppe etwa ein Fünftel aus.

Da es Spezialsprechstunden wie an der Charité selten gibt, sind in der Regel die Hausärzte Hauptansprechpartner für ehemalige Intensivpatienten. Den niedergelassenen Medizinern obliegt es dann, PICS zu diagnostizieren und den Behandlungsprozess unter Einbindung von Fachärzten zu strukturieren. In der Regel hätten die Mediziner viel Erfahrung in der Begleitung chronischer Erkrankungen, sagt Denke. Allerdings sei das von Hausarzt zu Hausarzt unterschiedlich. „Die Folge ist, dass die komplexen Beschwerden nicht immer evidenzbasiert behandelt werden und zum Teil nur mit begrenzter Wirksamkeit.“

Als Leiterin der DIVI-Expertengruppe zu dem Thema will Denke zusammen mit den anderen Mitgliedern den Umgang mit PICS verbessern, indem sie „zur Entwicklung diagnostisch und therapeutisch standardisierter Prozesse und daraus resultierend zur Schärfung der Diagnose-Kriterien“ beitragen, wie es im Internet heißt. Dabei helfen unter anderem interdisziplinäre Studien, wie beispielsweise die Befragung von Betroffenen und ihren Angehörigen. Die Ergebnisse sollen an die Ärzte weitergegeben werden. Möglicherweise werden die Erkenntnisse und Erfahrungen auch schon bald in einer neuen Behandlungsleitlinie münden.

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