Warten auf Strukturreformen
Ob nachhaltige Finanzierung, Klinik- oder Pflegereform – auf den gesundheitspolitischen Großbaustellen der Ampel-Koalition ist bisher kaum etwas vorangekommen. Schafft die Regierung es nicht, das Gesundheitswesen effizienter zu machen, scheitert sie am eigenen Anspruch.
Als im November 2021 die Ampel-Koalition ihren Koalitionsvertrag präsentierte, geschah dies vor dem Hintergrund wichtiger Zukunftsfragen. Wie kann die digitale und nachhaltige Transformation der Wirtschaft gelingen? Wie lässt sich der Wirtschaftsstandort stärken, und wie kann Deutschland seine Spitzenposition als Exportnation in einer globalen Wirtschaft weiterhin behaupten?
Die selbsternannte Fortschrittskoalition wollte bei ihrem Regierungsantritt die Modernisierung in allen Bereichen der Gesellschaft durch mutige Reformen vorantreiben – auch im Gesundheitssektor. Hatte doch die Corona-Pandemie offengelegt, dass das Gesundheitswesen im internationalen Vergleich zwar herausragende Stärken hat, aber auch viele Schwachstellen, die nicht nur mit Blick auf zukünftige Pandemien dringend behoben werden müssen.
Das deutsche Gesundheitswesen atmet in vielen Bereichen den Geist des 20. Jahrhunderts und ist nicht mehr zeitgemäß, sondern reformbedürftig. Dabei geht es aber nicht in erster Linie um noch mehr finanzielle oder personelle Ressourcen, auch wenn schrille Kampagnen zum angeblichen Praxiskollaps und Kliniksterben suggerieren, dies sei das notwendige Allheilmittel. Vielmehr müssen die Ergebnisse verbessert werden. Dies zeigen zum Beispiel regelmäßig die Veröffentlichungen der OECD. Das hiesige Gesundheitswesen hat ein Problem mit seiner Performance und Effizienz.
Anfänglich hoffte die Ampel-Koalition noch darauf, dass die notwendige Modernisierung nach Überwindung der Pandemie wieder auf einer prosperierenden Wirtschaft aufsetzen würde. Doch spätestens nach dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine zeigte sich, dass diese Hoffnung trügerisch war.
Transformationsdruck gestiegen
Die von Bundeskanzler Olaf Scholz ausgerufene Zeitenwende umfasst nicht nur die Außen- und Verteidigungspolitik. Vielmehr ist sie der Startpunkt für einen permanenten Wandel in allen Politikfeldern und den damit verbundenen Herausforderungen für Politik und Gesellschaft. Die geopolitischen Herausforderungen haben sich durch den „Wettstreit“ zwischen freiheitlich-demokratischen Gesellschaftsordnungen und autoritären Systemen verschärft. Die inneren Spannungen in der Gesellschaft nehmen infolge von Migration, Klimawandel und Defiziten in der öffentlichen Daseinsvorsorge zu. Gleichzeitig steigt der Transformationsdruck auf das immer noch erfolgreiche Wirtschafts- und Sozialmodell Deutschlands. Die neuen Rahmenbedingungen verändern die politische Prioritätenliste insbesondere in monetärer Hinsicht vollständig.
Deutschland muss resilienter werden – nicht nur gegen weltweite pandemische Ereignisse. Um dies zu erreichen, muss massiv investiert werden. Sollte an der haushaltspolitischen Selbstkasteiung des Bundes – Schuldenbremse und zugleich Verzicht auf Steuermehreinnahmen – festgehalten werden, müssen die vorhandenen Ressourcen zwischen und innerhalb der Politikbereiche anders verteilt werden. Spätestens seit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Nachtragshaushalt 2021 ist klar: Künftig verschärft sich der Verteilungskampf um die Mittel des Bundeshaushalts.
Strukturelles Defizit erhöht Reformdruck
Dies hat auch Folgen für die Gesundheitspolitik. Die ursprünglich zugesagten Maßnahmen zur sachgerechten Ausstattung der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) mit Steuermitteln werden bis zum Ende dieser Wahlperiode – und wahrscheinlich darüber hinaus – nicht eingehalten. Gleichzeitig nimmt der Reformdruck durch das bestehende strukturelle Defizit zwischen Einnahmen und Ausgaben in der GKV und wegen steigender GKV-Beiträge weiter zu.
Um die GKV-Ausgabenlast zu begrenzen, müssen daher Lösungen gefunden werden, um die Effektivität und die Effizienz des Gesundheitswesens zu erhöhen. Ein „Weiter so“ darf es nicht geben. Statt systemische Probleme, schlechte Performance und Unzufriedenheit mit dem Gesundheitswesen einfach – wie in der vergangenen Dekade ständig geschehen – mit zusätzlichen Finanzmitteln beziehungsweise auf Kosten der Beitragszahler zu kaschieren, bedarf es grundlegender Strukturreformen, die einen spürbaren Mehrwert für Versicherte, Beitragszahler, Patienten und Mitarbeitende schaffen. „Sozialpolitik ist Demokratiepolitik“, wie Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier treffend feststellte. Denn gute Gesundheitspolitik und mutige Strukturreformen im Gesundheitswesen stärken das Vertrauen in die Zukunftsfähigkeit des Gemeinwesens.
Die Gesundheitspolitik steht angesichts der vielen, zum Teil viel zu lange verschlafenen Probleme des gesamten Gesundheitswesens vor einer Herkulesaufgabe. Die Herausforderungen sind groß, das Reformzeitfenster ist klein. Ein Blick in die Vergangenheit zeigt, dass die politische Gestaltungskraft auf Bundesebene in der Regel für nur ein großes Strukturvorhaben in der jeweiligen Wahlperiode ausreicht.
Gestaltungskompetenzen beschnitten
Rückblickend ist festzuhalten, dass die letzte Strukturreform, die konsequent bei der Wirtschaftlichkeit und Effizienz der Versorgung angesetzt hat, das Ende 2010 verabschiedete Arzneimittelmarkt-Neuordnungsgesetz war. Die damalige Reform des Arzneimittelmarktes hätte zur Blaupause für andere qualitätsorientierte Reformen beispielsweise im Krankenhausbereich oder in der ambulanten Versorgung werden können. Doch aufgrund des Lobbydrucks der Pharmaindustrie hat die Politik patentgeschützte Arzneimittel des Bestandsmarktes nachträglich von der Nutzenbewertung ausgenommen.
Wegen der guten volkswirtschaftlichen Entwicklung und sprudelnder Einnahmen in der GKV nahm der Handlungsdruck in allen Sektoren des Gesundheitswesens ab. Weitere Schritte zur Verbesserung der Effizienz und Effektivität sind deshalb unterlassen oder bereits eingeführte Regelungen wieder zurückgedreht worden. Anstatt die solidarische Wettbewerbsordnung weiterzuentwickeln und mehr Handlungsspielräume zu ermöglichen, hat die Gesundheitspolitik die Gestaltungskompetenzen der Krankenkassen und der Gemeinsamen Selbstverwaltung in den vergangenen zehn Jahren sukzessive zurückgebaut.
Kaum Reformfortschritte
Nach mehr als zwei Jahren Gesundheitspolitik der Ampel-Koalition ist die Reformbilanz immer noch ernüchternd. Sieht man von den gesetzgeberischen Maßnahmen bei der Digitalisierung des Gesundheitswesens, der Einführung der elektronischen Patientenakte sowie den verbesserten Rahmenbedingungen für die Nutzung von Gesundheitsdaten in der medizinischen Forschung und bei Versorgungsangeboten der Krankenkassen ab – allesamt wichtige und richtige Nachbesserungen –, sind bislang keine strukturellen Reformfortschritte erzielt. Vielmehr scheinen die geplanten Reformen wie zum Beispiel der aktuelle Entwurf des Gesundheitsversorgungsstärkungsgesetzes primär dem Muster „Einfach mehr Geld ins System“ zu folgen.
Finanzierungskonzepte fehlen
Für die nachhaltige finanzielle Stabilisierung der GKV und des Gesundheitswesens liegen bis dato keine Konzepte oder Lösungen vor – außer „mystische“ Finanzierungsvorschläge des Bundesgesundheitsministeriums (BMG), aus denen nicht hervorgeht, wie und auf welchem Weg schnell greifende und dauerhaft wirkende Finanzierungspotenziale gehoben und Beitragszahlende entlastet werden sollen. Für die Finanzen der sozialen Pflegeversicherung sind Vorschläge des Bundesgesundheitsministers für den Mai angekündigt. Doch es ist kaum zu erwarten, dass noch in dieser Wahlperiode wirksame und dauerhaft tragfähige Finanzierungslösungen vorgelegt werden.
Weitere Reformansätze, die in allen Sektoren die Gesundheitsversorgung patientenorientiert, effektiv und effizient ausgestalten, sind bislang über den Status von Ankündigungen, Eckpunkten oder Referentenentwürfen nicht hinausgekommen. Stattdessen wurden unter dem von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach gewählten Leit-Narrativ „Entökonomisierung“ teils systemfremde, den wirtschaftlichen Einsatz von Beitragsgeldern konterkarierende Maßnahmen umgesetzt. Exemplarisch dafür steht die geplante Einführung geheimer Erstattungsbeträge für patentgeschützte Arzneimittel im Medizinforschungsgesetz. Obwohl dafür kein Bedarf besteht – der Pharmastandort Deutschland ist nach wie vor attraktiv –, wird stattdessen ein bürokratisches Monstrum geschaffen, das zusätzliche Mehrausgaben verursachen wird.
Ausgang der Krankenhausreform ungewiss
Ungewiss ist auch der Ausgang der Krankenhausreform, des zentralen gesundheitspolitischen Vorhabens in dieser Wahlperiode. Das durch Partikularinteressen und parteipolitische Taktik zerrüttete Verhältnis von Bund und Ländern lässt befürchten, dass die Neuausrichtung der Krankenhausvergütung ein zahnloser Papiertiger bleibt. Ergebnis der als Revolution angekündigten großen Reform ist dann weder eine nachhaltige Konsolidierung der Krankenhauslandschaft noch eine qualitätsbasierte Konzen-tration stationärer Leistungsangebote und eine effiziente Verteilung kostbarer Fachkräfteressourcen. Was bleibt, sind erhebliche Mehrkosten für die GKV.
Scheitert die Krankenhausreform, steht die Ampel gesundheitspolitisch mit nahezu leeren Händen da. Es ist unwahrscheinlich, dass sie dann bis zum Ende dieser Wahlperiode noch die Kraft und innere Geschlossenheit für eine große Strukturreform hat. Insofern ist es angebracht, schon jetzt den Blick auf die kommende Wahlperiode zu richten und was dann zu tun ist, um den Reformstau aufzulösen.
Soviel steht fest: Der Bedarf an grundlegenden Strukturreformen wird nicht zuletzt durch den Stillstand der vergangenen Jahre weiter steigen. Bereits jetzt nimmt die Diskussion über die Entwicklung der Sozialausgaben an Fahrt auf, wie die Forderungen des Bundesfinanzministers nach einem Moratorium für die Sozialausgaben oder die gesundheitspolitischen Überlegungen im Entwurf des Grundsatzprogramms der CDU verdeutlichen. Bevor jedoch alte Forderungen nach Leistungskürzungen oder Rationierungen im Gesundheitswesen aus der Mottenkiste geholt werden, muss sich die nächste Bundesregierung zwingend der zentralen Frage annehmen, wie sich die medizinische und pflegerische Versorgung in Deutschland mit den systemintern zur Verfügung stehenden finanziellen und personellen Ressourcen sicherstellen lässt.
„Mutige Strukturreformen stärken das Vertrauen in die Zukunftsfähigkeit des Gemeinwesens.“
Dr. Michael Neumann leitet die Abteilung Politik im Geschäftsbereich Politik. Kai Senf ist Geschäftsführer Politik im AOK-Bundesverband.
Versorgungsqualität verbessern
Internationale Vergleiche zeigen: Deutschland lässt sich das Gesundheitswesen einiges kosten. So ist der Anteil der Gesundheitsausgaben am Bruttoinlandsprodukt in den vergangenen Jahren weiter gestiegen. Laut OECD betrug er zuletzt 12,7 Prozent (2022). Damit belegt Deutschland hinter den USA (16,6 Prozent) Platz zwei. Die Schallmauer von 300 Milliarden Euro bei den GKV-Gesamtausgaben wurde im Jahr 2023 erstmals überschritten.
Gleichzeitig verdeutlichen regelmäßige Veröffentlichungen der OECD, dass Deutschland im internationalen Vergleich nur im Mittelfeld liegt und die Effektivität und Effizienz verbesserungsbedürftig sind. Insbesondere bei der Versorgungsqualität gibt es deutliches Steigerungspotenzial. Diese zu verbessern, liegt im Interesse der Versicherten, Beitragszahlenden und der Leistungserbringenden. Auch wenn diverse Akteure es immer wieder behaupten – das Gesundheitssystem steht nicht vor dem Kollaps, es ist aber reformbedürftig.
Ein wichtiger Schlüssel wird hierbei der zielgenauere, qualitätsorientierte und wirksamere Einsatz der Ressourcen sein. So zeigt sich beispielsweise im internationalen Vergleich, dass das Pflegepersonal im stationären Sektor überdurchschnittlich viele Fälle versorgt. Dies dürfte eine Ursache für die hohe Arbeitsbelastung der Pflegefachkräfte sein. Eine nachhaltige Klinik-Strukturreform und eine stärkere Ambulantisierung könnten diese Situation verbessern und sich positiv auf die Effizienz und Effektivität der Versorgung auswirken.
Zugleich müssen die Ergebnisqualität der Versorgung und eine Evidenzbasierung aller Versorgungsangebote stärker als bisher in den Blick genommen werden. Neue Behandlungsmethoden und Arzneimittel müssen ihren innovativen Charakter belegen. Insbesondere sind die Rahmenbedingungen für neue Arzneimittel intensiv zu prüfen. Die Preise für neue Markteinführungen sind in den vergangenen Jahren deutlich gestiegen. Laut Arzneimittelkompass 2022 kostete ein Medikament, das in den vergangenen 36 Monaten auf den Markt gekommen ist, im Durchschnitt 53.172 Euro je Packung. Anfang 2011 lag der Preis noch bei 902 Euro.
Auch bei neuen Behandlungsmethoden und insbesondere bei digitalen Gesundheitsanwendungen sind Nutzen, Mehrwert und Preis stärker in den Fokus zu nehmen. Grundsätzlich ist zu überlegen, ob künftig nur noch die Kosten für jene neuen Methoden und Leistungen erstattet werden, deren Nutzen nachgewiesen worden ist.
Um eine zweckmäßige und qualitativ hochwertige Versorgung zu gewährleisten, muss die Gesundheitspolitik umdenken. Zentralistische Blaupausen schaffen keine Lösungen, die bei allen Versicherten und Patienten ankommen. Für mehr Effektivität und Effizienz sollte die Versorgung – sektorenunabhängig –regional gestaltet und gesteuert werden. Wie Anfang der 2000er-Jahre bereits schon einmal erprobt, sollten die Krankenkassen wieder eine stärkere Steuerungs- und Gestaltungsfunktion bei der Sicherstellung der Versorgung erhalten. Dafür müssen sie die notwendigen Handlungsfreiräume erhalten.
Am Geld darf es nicht scheitern
Auch die dauerhafte Finanzierung des Gesundheitswesens gehört ganz oben auf die Reformagenda der kommenden Wahlperiode. Für eine nachhaltige finanzielle Stabilisierung sind Strukturreformen nötig. Bis diese eine Kostenwirkung entfalten, braucht es Zeit. Als Übergangslösung sollte deshalb die Ausgabenentwicklung wieder an die Einnahmenentwicklung gekoppelt werden. Darüber hinaus müssen Bund und Länder ihrer Finanzverantwortung bei den versicherungsfremden Leistungen, Investitionen im Gesundheitswesen und bei der Kranken- und Pflegeversicherung für Bürgergeldempfängerinnen und -empfänger nachkommen.
Ferner sollte die Politik die Stellschrauben auf der Einnahmenseite der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung nachziehen. Hierzu bedarf es weniger der Entwicklung neuer Ideen als den politischen Mut, bestehende Vorschläge aufzugreifen und umzusetzen. Dabei sollten insbesondere die Beitragsbemessungsgrenzen und -grundlagen überprüft werden, um die finanziellen Lasten auf mehr Schultern zu verteilen.
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