G+G Wissenschaft: Drehen an der Reformschraube
In den ersten Monaten des Jahres 2025 war oft von zusätzlichem Geld die Rede, um Deutschland in vielerlei Hinsicht fitter zu machen. Vier Analysen in der G+G Wissenschaft zeigen: Im Gesundheitswesen sind in der 21. Legislaturperiode auch Strukturreformen dringend geboten.

„Wenn die künftigen Koalitionäre glauben, mit der Geldbeschaffung und vollen Kassen sei ihr Job getan, dann irren sie gewaltig … Mit der Reform der Schuldenbremse und dem Milliarden-Sondervermögen sichert sich die künftige Regierung einen gigantischen Geldtopf, doch ohne entschlossene und grundsätzliche Reformen drohen diese Milliarden zu versickern, ohne das Land und die Wirtschaft nach vorne zu bringen.“ Diese Äußerung stammt aus dem März 2025 und zwar vom Präsidenten des Zentralverbandes des Deutschen Handwerks, Jörg Dittrich.
Mit seiner Sicht auf die Dinge ist er nicht allein. Anfang April mahnten gleich 100 Wirtschaftsverbände in einem Offenen Brief, ohne tiefgreifende Reformen werde es keinen Aufschwung geben. Noch einen Schritt weiter gingen 205 Professorinnen und Professoren der Volkswirtschaft bei einer Befragung des Ifo-Instituts Ende Februar und Anfang März. Ihre Einschätzung: Neue Schulden für Infrastruktur sind nicht vordringlich, wichtiger sind Reformen in verschiedenen Bereichen, insbesondere müsse Bürokratie abgebaut werden.
Handlungsbedarf im ambulanten Sektor
Was passiert nun in der Sozialpolitik nach der Bundestagswahl: Werden Reformen eingeleitet? Notwendig sind sie. Entsprechend äußerte sich Anfang April Carola Reimann, Vorstandsvorsitzende des AOK-Bundesverbands. Sie führte aus, dass zu viel Geld in alten und unkoordinierten Strukturen versickere, tiefgreifende Strukturreformen seien alternativlos.
Auch die vier Analysen in der neuen G+G Wissenschaft zeigen den Reformbedarf im Gesundheitswesen auf. Beispiel Gesundheitsversorgung: Zwar hat der bisherige Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach seine Krankenhausreform noch kurz vor Ende der 20. Legislaturperiode über die Ziellinie gebracht, doch weiterer Verbesserungsbedarf im stationären Sektor zeichnet sich ab. Und im ambulanten Bereich ist während der Ampel-Regierung außer der Abschaffung der Honorarobergrenzen für Hausärzte (mit von den Krankenkassen prognostizierten jährlichen Mehrkosten von 400 bis 500 Millionen Euro) nicht sehr viel passiert, schon gar nichts, was man als wesentliche Strukturverbesserung bezeichnen könnte. Jonas Schreyögg, stellvertretender Vorsitzender des Sachverständigenrats zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen, hat sich deswegen gemeinsam mit Robert Messerle, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Hamburg, für G+G Wissenschaft den ambulanten Bereich vorgenommen. Die beiden zeigen in ihrer Analyse detailliert auf, an welchen Schrauben man drehen müsste, um für durchlässigere Sektorengrenzen und bessere Patientensteuerung zu sorgen.
Großbaustelle Pflege
Eine trotz aller Horrormeldungen bisher politisch eher ignorierte Großbaustelle ist die Pflegeversicherung. Hier geht es nicht nur um den in den Medien immer wieder und inzwischen sogar in einem aktuellen und beklemmenden Kinofilm namens „Heldin“ thematisierten Fachkräftemangel. Auch die Finanzierung muss grundlegend überarbeitet werden, denn die Eigenanteile der Pflegebedürftigen steigen in jüngster Zeit exorbitant, und auch der Pflegevorsorgefonds ist in einer Weise ausgestaltet, die weit unter dem liegt, was er leisten könnte. Sehr unterschiedliche Vorschläge, wie man die Finanzierung sichern könnte, liefern in der aktuellen Ausgabe Friedrich Breyer und Heinz Rothgang. Breyer war Ordinarius für Volkswirtschaftslehre an der Universität Konstanz und Rothgang ist Professor für Gesundheitsökonomie an der Universität Bremen. Beide rechnen vor: Die Pflegeversicherung käme heraus aus den roten Zahlen, aus der Überforderung der Pflegebedürftigen sowie aus allzu unkalkulierbaren Risiken für jüngere und künftige Beitragszahler, wenn man den jeweiligen Lösungsansatz des Autors konsequent verfolgen würde.
Solide Finanzgrundlage
Auf die Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung, ihre systembedingten Grenzen und aktuellen Knackpunkte schaut Stefan Sell. Er ist Professor für Volkswirtschaftslehre, Sozialpolitik und Sozialwissenschaften an der Hochschule Koblenz und analysiert für die G+G Wissenschaft steigende Beitragssätze, schwankende Bundeszuschüsse, Verschiebebahnhöfe, versicherungsfremde Leistungen und die finanziellen Forderungen diverser Akteure – all dies anhand des Fallbildes einer Medizinischen Fachangestellten. Sell plädiert unter anderem für eine nachhaltige Regelbindung des Steuerzuschusses zum Gesundheitsfonds. Und er mahnt, das Gesundheitswesen nicht nur als Kostenfaktor zu sehen. Schließlich arbeiteten 2023 in Deutschland 6,1 Millionen Menschen in diesem Sektor. Sie erbrachten im selben Jahr eine Wertschöpfung von 435,5 Milliarden Euro, was 11,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts entsprach. Zudem gilt: Weil all diese Menschen ihre Arbeit – oft mit großem Engagement – machen, können viele Beschäftigte in anderen Branchen ihrer eigenen Erwerbstätigkeit überhaupt erst nachgehen.
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