„Zerfall der EU wäre eine Katastrophe“
Der europäische Gesundheitsdatenraum bietet nach Ansicht des Europaabgeordneten Dr. Peter Liese große Chancen für Patienten und Forschung. Nachlegen muss die Union aus seiner Sicht bei der sicheren Versorgung mit Medikamenten und Medizinprodukten.
Herr Dr. Liese, was ist in der EU-Gesundheitspolitik in den vergangenen fünf Jahren gelungen, was war weniger gut?
Dr. Peter Liese: Besonders wichtig finde ich, dass die Gesundheitspolitik ins Zentrum der EU-Politik gerückt ist. Wichtige Initiativen gab es sogar schon vor der Pandemie, zum Beispiel den Aktionsplan Krebs, den Ursula von der Leyen, mein Fraktionsvorsitzender Manfred Weber und ich vorangebracht haben. Die Bekämpfung von Arzneimittelknappheit und die Beseitigung der Probleme bei Medizinprodukten sind wichtige Aufgaben, die aus meiner Sicht noch nicht zufriedenstellend gelöst sind. Hier müssen wir so schnell wie möglich handeln.
Die Pandemie hat die Anfälligkeit globaler Versorgungsketten offengelegt. Was ist auf EU-Ebene beim Thema „sichere Arzneimittelversorgung“ schon handfest angelaufen?
Liese: Schon vor Beginn der Pandemie hatte ich 2019 im Namen meiner Fraktion gefordert, dass sich das Europäische Parlament systematisch mit dem Thema Versorgungssicherheit bei Arzneimitteln beschäftigt. Damals hat eine Mehrheit von Sozialdemokraten, Liberalen, Grünen und Linken gesagt: „Dafür haben wir keine Zeit, wir haben ja den Green Deal.“ Darüber habe ich mich sehr geärgert, und es gab deshalb auch Verzögerungen bei der Positionierung des Parlaments. Auch in der Kommission lief es schleppend. Jetzt hat sich Ursula von der Leyen persönlich der Sache angenommen; die Kommission und die belgische Ratspräsidentschaft haben gerade eine „Critical Medicines Alliance“ gestartet. Es wird auch Leitlinien geben, die vorsehen, dass bei der Ausschreibung nicht nur der Preis, sondern auch die Versorgungssicherheit und Umweltkriterien eine Rolle spielen.
Wo sollten die Mitgliedsländer in der Gesundheitspolitik künftig noch enger zusammenarbeiten?
Liese: Die Frage, wie genau das Gesundheitswesen organisiert wird und welche Leistungen vom nationalen Gesundheitswesen finanziert werden, sollte nicht in Europa, sondern in den Mitgliedstaaten geregelt werden. Wer die Musik bestellt, muss auch bezahlen. Aber wir brauchen mehr grenzüberschreitende Zusammenarbeit, da wo nationale Lösungen alleine nicht funktionieren. Die Pandemie hat klar gezeigt, dass Viren nicht an der Grenze haltmachen. Das gilt auch für antibiotikaresistente Keime. Hier haben wir im Parlament wichtige Beschlüsse gefasst. Die Mitgliedstaaten müssen diesen aber noch zustimmen und sie umsetzen.
Welchen realistischen Zeithorizont sehen Sie für die Einführung eines europäischen Gesundheitsdatenraumes (EHDC)?
Liese: Der EHDC ist im Parlament beschlossen. Wir warten jetzt dringlich auf eine Beschlussfassung im Rat der Gesundheitsminister. Sowohl für uns als Patientinnen und Patienten, für Ärztinnen und Ärzte als auch für die Forschung bietet der europäische Gesundheitsdatenraum große Chancen. Wenn wir das wollen, können wir unsere medizinischen Daten in Zukunft in allen Mitgliedstaaten und auch in verschiedenen Sprachen teilen. Dadurch können Missverständnisse vermieden und in der Konsequenz Menschenleben gerettet werden. Für Forscherinnen und Forscher sind gleiche Datenschutzstandards extrem wichtig, das gilt insbesondere für relativ seltene Erkrankungen wie den Krebs bei Kindern. Ein Beispiel: Professorin Angelika Eggert, die Leiterin der Kinderonkologie an der Berliner Charité, sagt, dass es zehn Jahre dauert, wenn sie eine neue Therapie alleine in Deutschland testet. Wenn sie das in Europa mit anderen Staaten gemeinsam macht, geht es in einem Jahr. Zuletzt brauchte sie aber zwei Jahre, um die unterschiedlichen Datenschutzregeln in Frankreich und Deutschland in Übereinstimmung zu bringen. Falls der EHDC beschlossen ist, gibt es eine Umsetzungsfrist von zwei bis zehn Jahren – je nach Anwendungsgebiet. Es wäre aber wichtig, dass die Mitgliedstaaten nicht bis zum letzten Moment warten, sondern schneller als vorgeschrieben die Beschlüsse umsetzen.
Der EU-Etat für die Gesundheitspolitik wurde zu Jahresbeginn deutlich gekürzt. Was bedeutet das für die Handlungsfähigkeit in diesem Politikbereich?
Liese: Die Kürzung ist extrem ärgerlich. Leider versuchen die Finanzminister, die Mittel, die den Mitgliedstaaten direkt zur Verfügung stehen – zum Beispiel in der Agrar- und Strukturpolitik – zu schonen und Programme mit europäischem Mehrwert zu kürzen. Wir müssen uns allerdings trotzdem klarmachen, dass in der jetzigen Periode zehnmal so viele Mittel für das Gesundheitsprogramm „EU4Health“ zur Verfügung stehen wie für ein vergleichbares Programm in der vergangenen Periode.
Was halten Sie davon, in der nächsten Legislaturperiode einen ausschließlich für Gesundheit zuständigen Parlamentsausschuss zu installieren, um der Bedeutung des Themas gerecht zu werden?
Liese: Ich wäre sehr dafür, dass das Europäische Parlament einen eigenen Ausschuss für Gesundheit und Nahrungsmittelsicherheit erhält. Tatsächlich gibt es viele Bezüge zwischen Umwelt und Gesundheit, aber letztlich gibt es nur wenige Abgeordnete, die sich um beide Bereiche intensiv kümmern. Für mein Team und mich war das angesichts der vielen Vorschläge im Umweltbereich ein absoluter Stresstest. Leider gibt es bei der Mehrheit im Parlament keinen politischen Willen für eine entsprechende Änderung.
In den meisten Mitgliedsländern sind EU-kritische Parteien stärker geworden. Wie ist ihre Stimmungslage mit Blick auf die Europawahl?
Liese: Ich habe sehr großen Respekt vor den Wählerinnen und Wählern, und man sollte niemals vor dem Wahltag Schlussfolgerungen ziehen. Wir müssen kämpfen, um die Anti-Europäer in ihre Schranken zu weisen. Die vielen Demonstrationen und Statements von Multiplikatoren, zum Beispiel Unternehmern, Gewerkschaften, Kirchen und aus der Ärzteschaft, haben schon dazu beigetragen, dass die Umfragezahlen für die AfD zurückgehen. Wenn die Anti-Europäer zulegen, kann man für nichts garantieren. Es besteht die wirkliche Gefahr, dass nach dem Wahlsieg des Rechtspopulisten Geert Wilders in den Niederlanden in den nächsten Jahren auch in Frankreich eine Mehrheit für den rechtsradikalen Rassemblement National entsteht. Die EU nervt manchmal und muss besser werden, aber ein Zerfall wäre eine Katastrophe. Für Deutschland würde das nicht nur einen wirtschaftlichen Verlust von rund 84 Milliarden Euro pro Jahr – mindestens 1.000 Euro für jeden von uns – bedeuten, sondern dauerhaft auch eine Gefahr für Frieden und Freiheit in Europa.
Zur Person
Der Arzt Dr. Peter Liese (CDU) vertritt seit 1994 die NRW-Region Südwestfalen im Europaparlament. Der 58-Jährige ist gesundheits- und umweltpolitischer Sprecher der EVP-Fraktion (Christdemokraten). Für die Europawahl am 9. Juni hat ihn die NRW-CDU erneut als Spitzenkandidaten nominiert.
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