„Bei Krisen können wir jetzt besser agieren“
Beim Aufbau einer Gesundheitsunion ist aus Sicht des Europaabgeordneten Tiemo Wölken noch Luft nach oben. Er vermisst in der EU-Gesundheitspolitik Transparenz und wünscht sich eine bessere Einbindung des Europaparlamentes.
Herr Wölken, was ist aus Ihrer Sicht in der Gesundheitspolitik auf EU-Ebene in den vergangenen fünf Jahren besonders gut gelungen?
Tiemo Wölken: Diese Legislaturperiode war insbesondere von der Covid-19-Pandemie geprägt. Wir sind als EU enger zusammengewachsen – in Richtung einer Gesundheitsunion. Dank der gemeinsamen Beschaffung von Covid-19-Impfstoffen und benötigter persönlicher Schutzausrüstung wie Masken konnten wir zum Beispiel erreichen, dass alle EU-Mitgliedsländer einen gleichberechtigten Zugang zu diesen Impfstoffen zu erschwinglichen Preisen erhalten. Darüber hinaus haben wir aus den Erfahrungen der Pandemie Konsequenzen gezogen und die Gesetzgebung entsprechend aktualisiert. Zu nennen sind hier unter anderem die Erweiterung des Mandats der Europäischen Arzneimittelagentur und die des Europäischen Zentrums für die Prävention und Kontrolle von Krankheiten, sodass wir bei künftigen Krisen besser agieren können.
Was hat Sie frustriert?
Wölken: Mich frustriert vor allen Dingen die fehlende Transparenz in der Gesundheitspolitik. Seit Beginn der Pandemie habe ich für mehr Transparenz im gesamten Verfahren geworben. Außerdem war das Parlament, obwohl es die einzige direkt gewählte EU-Institution ist, in keinem der Verhandlungsprozesse aktiv mit eingebunden. Ein großes Thema dieser Legislatur war natürlich auch die Überarbeitung der Pharma-Gesetzgebung. Die Kommission hat den entsprechenden Entwurf aber erst sehr spät veröffentlicht. Das Parlament musste deshalb unter massivem Zeitdruck arbeiten. Auch das war für mich und die anderen beteiligten Abgeordneten eine sehr frustrierende Erfahrung.
Sie waren Berichterstatter des Parlaments für Teile des EU-Pharmapakets. Wie lässt sich der Konflikt zwischen Innovationsförderung, Versorgungssicherheit und Bezahlbarkeit der Gesundheitssysteme lösen?
Wölken: Innovationsförderung, Versorgungssicherheit und Bezahlbarkeit sind keine Gegensätze. Es muss die richtige Balance gefunden werden: indem wir Innovationen fördern, wo es nötig ist, und zugleich dort die Marktmechanismen wirken lassen, die für die Patientinnen und Patienten von Vorteil sind. Mit der Arzneimittelreform haben wir genau das sichergestellt. Gemäß Artikel 168 der EU-Verträge ergänzt die EU die Gesundheitspolitik der Mitgliedsländer lediglich. Die Preisgestaltung liegt komplett in nationaler Hand. Mit der Revision der Pharmagesetzgebung fördern wir mit bestimmten Anreizen Unternehmen, die in die Erforschung innovativer Arzneimittel investieren. Im Bereich der seltenen Krankheiten gibt es beispielsweise immer noch keine Medikamente für 95 Prozent der über 6.000 bekannten, aber wenig verbreiteten Krankheiten. Hier ist eine Förderung dringend notwendig.
Wo sollten die Mitgliedsländer in der Gesundheitspolitik künftig noch enger zusammenarbeiten?
Wölken: Unser Ziel muss eine umfassende Gesundheitsunion sein. Wir müssen Lehren aus der Pandemie ziehen und beispielsweise bei der Beschaffung von Medikamenten enger zusammenarbeiten. Besonders im Bereich von Medikamenten für seltene Krankheiten kann eine Zusammenarbeit den Zugang für Patientinnen und Patienten erheblich verbessern. Natürlich muss nicht alles auf europäischer Ebene passieren. Aber wenn wir über grenzüberschreitende Gesundheitsbedrohungen sprechen, wie beispielsweise antimikrobielle Resistenzen, dann ist die Zusammenarbeit dringend notwendig. Außerdem müssen wir als EU unabhängiger von Drittländern wie China oder Indien werden, wenn es um die Produktion von lebenswichtigen Medikamenten geht.
Der EU-Etat für die Gesundheitspolitik wurde zu Jahresbeginn deutlich gekürzt. Was bedeutet das für die Handlungsfähigkeit in diesem Politikbereich?
Wölken: Die Covid-19-Pandemie hat uns gelehrt, dass wir mehr gemeinsame europäische Gesundheitspolitik brauchen – nicht weniger. Leider sehen wir, dass wir in alte Muster zurückfallen. Die Kürzung des Gesundheitsbudgets um über eine Milliarde Euro sendet hier das absolut falsche Signal. Wir haben noch viele Aufgaben vor uns: Vor allem für die schon genannten Themen im Arzneimittelbereich bis hin zur Finanzierung von nötigen lokalen Produktionskapazitäten braucht es Geld. Insbesondere in der Gesundheitspolitik ist langfristige Planung gefragt; mit kurzfristigen Reaktionen angesichts einer Krise ist es nicht getan. Hier müssen wir noch ein Umdenken seitens der Mitgliedsländer erreichen.
Was halten Sie von dem Vorschlag, im Parlament einen ausschließlich für Gesundheit zuständigen Ausschuss einzurichten, um der wachsenden Bedeutung des Themas gerecht zu werden?
Wölken: Diesen Ansatz halte ich für falsch. Im Parlament arbeiten wir mit dem sogenannten One-Health-Approach – also dem Verständnis, dass die Gesundheit von Mensch und Tier eng mit der Umwelt verknüpft ist. Wenn der Ausschuss für Umweltfragen, öffentliche Gesundheit und Lebensmittelsicherheit beispielsweise über neue Luftqualitätsrichtlinien entscheidet, so hat das einen direkten Einfluss auf die Gesundheit der Menschen, die diese Luft atmen. Gleiches gilt, wenn wir über Chemikalien sprechen und deren direkte Verbindung mit Arzneimittelinhalten oder auch Medizinprodukten. Eine Entkopplung halte ich für den falschen Weg.
In fast allen Ländern der Union sind rechtsgerichtete, EU-kritische Parteien stärker geworden. Wie ist ihre Stimmungslage mit Blick auf die Europawahl?
Wölken: Die Europäische Union ist unsere Zukunftsversicherung. Ein Einigeln im Nationalstaat hilft niemandem. Damit der Anteil der Nationalisten im Europäischen Parlament möglichst gering ausfällt, ist es umso wichtiger, dass die Bürgerinnen und Bürger Europas bei dieser Wahl ihre Stimme nutzen. Ich freue mich besonders, dass in Deutschland das Wahlalter auf 16 herabgestuft wurde und zum ersten Mal auch jüngere Menschen über die Zukunft der EU und somit auch ihre eigene Zukunft entscheiden können.
Zur Person
Der SPD-Politiker Tiemo Wölken vertritt seit November 2016 die Region Weser-Ems und Teile Nord-Niedersachsens in Brüssel. Der 38-jährige Jurist ist Sprecher der sozialdemokratischen Fraktion im Parlamentsausschuss für Umweltfragen, öffentliche Gesundheit und Lebensmittelsicherheit sowie Mitglied des Rechtsausschusses und Unterausschusses für öffentliche Gesundheit. Für die Europawahl am 9. Juni nominierte ihn seine Partei auf Platz 12 der Bundesliste.
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