Interview Gesundheitssystem

„Lauterbach verweigert Diskussion auf Augenhöhe“

22.05.2024 Thorsten Severin 10 Min. Lesedauer

Bayerns Gesundheitsministerin Judith Gerlach (CSU) ist noch nicht lange im Amt, doch hindert sie das nicht, engagiert für ihre Positionen zu kämpfen. Reformen einseitig zulasten der Beitragszahler müssen aus ihrer Sicht ein Ende haben.

Porträt von Judith Gerlach, Bayerische Gesundheits-, Pflege- und Präventionsministerin, Juristin, Mutter und Digitalexpertin
Judith Gerlach: bayerische Gesundheits-, Pflege- und Präventionsministerin, Juristin und Digitalexpertin

Frau Ministerin Gerlach, die Krankenhausreform erhitzt weiter die Gemüter. Glauben Sie noch an eine Einigung?

Judith Gerlach: Bayern ist kompromissbereit – und allen Beteiligten ist klar, dass ein Umbau dringend benötigt wird. Aber bei den Ländern ist momentan die Enttäuschung sehr groß, dass Bundesgesundheitsminister Lauterbach so wenig – um nicht zu sagen: gar keine – Bereitschaft zeigt, mit uns auf Augenhöhe in inhaltliche Diskussionen über die Gestaltung der Reform zu gehen und sie so auf einen guten Weg zu führen. Wenn man Reformen umsetzen möchte, die einschneidende Veränderungen mit sich bringen, braucht man aber einen Schulterschluss.

Was sind für Sie die wichtigen Punkte bei der Reform?
 
Gerlach: Der Weg hin zu einer Reform muss anfangen mit einer klaren Vision. Aber dieses Zielbild zeichnet Lauterbach bis heute nicht vor. Inhaltlich fordern wir unter anderem, dass es Ausnahmemöglichkeiten für die Länder bei der Zuweisung der Leistungsgruppen gibt und Kooperationsmöglichkeiten zur Erfüllung dieser Vorgaben eröffnet werden. Zudem muss die Vorhaltevergütung die tatsächlichen Kosten finanzieren. Die Länder müssen an der Definition der Leistungsgruppen und vor allem deren Voraussetzungen mitwirken können. Außerdem brauchen wir eine Auswirkungsanalyse.

Steht es wirklich finanziell so schlecht um die Krankenhäuser?

Gerlach: Viele Kliniken stehen mit dem Rücken zur Wand. Bei allen Reformbestrebungen: Einige Krankenhäuser werden diese Reform vermutlich gar nicht mehr erleben, da aufgrund der hohen Defizite eine Pleitewelle ansteht. Deswegen muss der Bund seiner Verpflichtung einer auskömmlichen Krankenhausfinanzierung nachkommen und den Kliniken bei den Betriebskosten im Rahmen eines Soforthilfe-Pakets zur Seite stehen. Allein in Bayern summieren sich die Defizite nach Angaben der BKG auf rund 1,4 Milliarden Euro. Teilweise müssen die Kommunen das Minus ausbaden, die die akutstationäre Versorgung der Menschen gewährleisten müssen. Der Bund lässt hier einen ungesteuerten, kalten Strukturwandel zu.

Was halten Sie von der Ausgestaltung des geplanten Transformationsfonds?

Gerlach: Einen Transformationsfonds muss es geben, denn der Umbau wird viel Geld kosten. Da die Krankenhäuser jetzt schon umstrukturieren sollen und teils auch müssen, brauchen wir ihn auch früher als 2026. Lauterbach weigert sich aber, die Verantwortung des Bundes wahrzunehmen. Er stellt 50 Milliarden Euro ins Schaufenster – einseitig zulasten von Ländern und Beitragszahlern, ohne mit uns vorher gesprochen zu haben.

Foto der CSU-Politikerin Judith Gerlach im Gespräch mit G+G-Redakteur Thorsten Severin
Gerlach beim G+G-Interview in Nürnberg.

Außer beim Transformationsfonds sollen auf die Beitragszahler anstelle von Reformen auch an anderen Stellen Kosten zukommen, von der Entbudgetierung der Hausärzte über Vorhaltepauschalen bis hin zu vertraulichen Arznei-Erstattungspreisen...
 
Gerlach: Es werden immer mehr Lasten auf Versicherte und Kassen abgewälzt, was perspektivisch zu höheren Beiträgen führen muss. Dieser Weg ist auf Dauer nicht akzeptabel. Es gibt eine Grenze der Belastbarkeit. Der Bundesgesundheitsminister hat bisher keine Idee, die wirklich nachhaltig wäre. Statt auf nachhaltige Reformen setzt er auf höhere Zusatzbeiträge für die Versicherten oder das Abschmelzen der Finanzreserven der Krankenkassen.

Was könnte die Lösung gegen das GKV-Defizit sein?

Gerlach: Wir haben viel zu viele sachfremde Leistungen im Portfolio. Die Schätzung der Gesamtkosten der GKV für versicherungsfremde Leistung liegt ja bei rund 50 Milliarden Euro, was vom Bundeszuschuss in Höhe von 14,5 Milliarden Euro bei Weitem nicht abgedeckt wird. Es handelt sich hier unter anderem um Aufgaben der allgemeinen Daseinsfürsorge und damit um staatliche Aufgaben. Allein für die vom Bund geschuldeten Beiträge für Bürgergeldbezieher gibt es eine Unterfinanzierung von jährlich etwa zehn Milliarden Euro.

Wären für Sie mehr Eigenbeteiligung und Rationierung ein Weg zum Kostensparen?

Gerlach: Wir müssen diskutieren, wo das sinnvoll ist. Vor der Bundestagswahl werden da sicher noch Ideen kreiert werden. Pauschale neue Eigenbeteiligungen nach Schema F halte ich nicht für sinnvoll, denn Menschen, die chronisch krank sind, dürfen nicht so behandelt werden wie Menschen, die das nicht sind. Wir müssen uns nicht zuletzt die Selbstverwaltungsstrukturen anschauen. Dazu gehören auch die Verwaltungskosten der Krankenkassen.

Was halten Sie von höheren Beitragsbemessungsgrenzen oder neuen -grundlagen?
 
Gerlach: Nicht viel. Wir können nicht so weitermachen, dass alles immer teurer wird und die Belastungen der Menschen steigen. Da sehe ich große Probleme auch in der gesellschaftlichen Debatte. Die Sozialabgaben sind ohnehin schon sehr hoch. Daher müssen wir nach Änderungen im System suchen, statt allgemein die Belastungsgrenze nach oben zu setzen.

„Es werden immer mehr Lasten auf Versicherte und Kassen abgewälzt, was zu höheren Beiträgen führt.“

Judith Gerlach

bayerische Gesundheits-, Pflege- und Präventionsministerin, Juristin und Digitalexpertin

Lauterbach will die Lücke zwischen einer Betreuung zu Hause und im Heim durch eine neue „stambulante Versorgung“ füllen? Was halten Sie davon?

Gerlach: Ich sehe das Ziel positiv, denn wir wollen ja nicht mehr die starre Trennung zwischen ambulant und stationär. Wir müssen aber aufpassen, dass wir nicht einen dritten Sektor schaffen, der das System dann wieder verkompliziert. Im Übrigen finde ich es einen richtigen Schritt, Pflegekräften mehr heilberufliche Kompetenzen zu geben.

Was ist noch nötig, um den Beruf beliebter zu machen?
 
Gerlach: Die Einführung der generalistischen Pflegeausbildung war ein guter Schritt. Auch die Lohnentwicklung ist durchaus erfreulich. Es gibt aber noch viel Potenzial, beispielsweise bei der Eindämmung bürokratischer Vorgaben. Ziel muss es sein, Prozesse zu vereinfachen und zu digitalisieren. In Bayern sind wir intensiv dabei, einen Digitalpakt Pflege zu erarbeiten. Die Pflegekräfte brauchen zudem Planbarkeit und Verlässlichkeit. Sie müssen sich darauf verlassen können, in Randzeiten und an Wochenenden nicht kurzfristig einspringen zu müssen. Durch Springerkonzepte lässt sich die Attraktivität des Berufs erhöhen. Auch ist es wichtig, die Resilienz der Pflegekräfte zu stärken, um das eigene Wohlbefinden aufrechtzuerhalten – etwa durch Coachings. Es kann nicht nur darum gehen, Menschen in den Beruf zu bringen, sondern auch, sie dort zu halten.

Haben Sie ein Rezept gegen die hohen Eigenanteile in der stationären Pflege?
 
Gerlach: Die sind in der Tat ein großes Problem. Eine Maßnahme zur Entlastung wäre, die Ausbildungskosten aus den Eigenanteilen herauszunehmen und über Steuern zu finanzieren. Darüber hinaus wird kein Weg an einer umfassenden Finanz- und Strukturreform der Pflegeversicherung vorbeiführen. Allerdings erwarte ich da in dieser Legislaturperiode vom Bund nichts mehr.

Der Budgetdeckel bei den Hausärzten soll aufgehoben werden. Fürchten Sie nicht eine unbegrenzte Ausweitung der Leistungsmengen?

Gerlach: Wir müssen die flächendeckende medizinische Versorgung auch in Zukunft sicherstellen, und da kommt es vor allem auf die Hausärzte an. Deshalb ist es richtig, dass die Entbudgetierung jetzt in Angriff genommen wird – zumal ein Hausarzt immer auch als Lotse im System fungiert und so dazu beiträgt, Kosten zu sparen. Eine Ausweitung der Leistungsmenge ist nicht ausgeschlossen. Aber die Wirtschaftlichkeits- und Abrechnungsprüfungen bestehen ja weiter. Von daher werden die Kosten nicht völlig explodieren. Trotzdem bin ich gespannt, wie Lauterbach den Schritt finanzieren will.

Soll eine Entbudgetierung bei den Fachärzten folgen?

Gerlach: Ich halte das in nächster Zeit für nicht realistisch, glaube aber, dass wir das perspektivisch im Blick behalten müssen.

„In ländlichen Räumen wie Bayern gibt es keinen Bedarf an Gesundheitskiosken.“

Judith Gerlach

Bayerische Gesundheits-, Pflege- und Präventionsministerin, Juristin und Digitalexpertin

Lauterbach hat die Idee flächendeckender Gesundheitskioske aufgegeben. Ist das richtig oder soll die Idee im parlamentarischen Verfahren zum Versorgungsgesetz wieder auf den Tisch kommen?

Gerlach: Der Bundesminister hat sich bei der Idee sehr stark daran orientiert, was in Berlin oder in Hamburg in sozialen Brennpunkten Sinn machen könnte. In den ländlichen Räumen eines Flächenlandes wie Bayern gibt es keinen Bedarf an Gesundheitskiosken. Wir brauchen vor allem eine ordentliche Gesundheitsversorgung mit erreichbaren Ärzten.

Die Homöopathie soll vorerst Satzungsleistung der Kassen bleiben. Ist das richtig aus Ihrer Sicht?

Gerlach: Für uns ist für die Versorgung der Bürgerinnen und Bürger die evidenzbasierte Medizin der Maßstab. Aber in der Bevölkerung besteht durchaus der Wunsch nach ganzheitlichen und alternativen Behandlungsansätzen. Daher halte ich es für legitim, dass die Krankenkassen selbst entscheiden, ob sie Homöopathie anbieten oder nicht. Der Betrag, der eingespart werden könnte, ist ja eher marginal und nicht dazu geeignet, das Finanzdefizit der Kassen zu beheben.
 
Bei der Teillegalisierung von Cannabis hat Bayern angekündigt, das Gesetz restriktiv anzuwenden. Wie zeigt sich das?

Gerlach: Bei uns wird das Rauchen und Dampfen von Cannabisprodukten auf Volksfesten und in Biergärten aus Gründen des Nichtraucherschutzes komplett verboten. Dabei haben wir insbesondere auch den Schutz von Kindern und Jugendlichen im Blick. Wir sind außerdem gerade dabei, eine zentrale Kontrolleinheit aufzubauen, die für die Genehmigungsverfahren und für die Kontrolle der Anbauvereinigungen ab 1. Juli zuständig sein soll. Die Erlaubnisvoraussetzungen für die Vereinigungen werden wir streng überprüfen, und die Anbauvereinigungen dann auch einmal pro Quartal und darüber hinaus auch anlassbezogen kontrollieren. Schließlich haben wir einen Bußgeldkatalog entwickelt für Verstöße zum Beispiel gegen Besitzobergrenzen oder Konsumverbote.
 
Erwägen Sie weiter rechtliche Schritte gegen das Cannabis-Gesetz?

Gerlach: Wir sehen keine erfolgversprechenden Möglichkeiten, direkt beim Bundesverfassungsgericht gegen das Gesetz vorzugehen. Wir haben aber große Zweifel, dass Details zu den Anbauvereinigungen Europarecht entsprechen. Eine Klage vor dem Europäischen Gerichtshof können wir aber selbst leider nicht anstrengen.

Sehen Sie Chancen für die zweite Stufe, bei der es um Modellprojekte zum freien Verkauf geht?

Gerlach: Nicht in Bayern. Ich glaube auch nicht, dass die Ampelkoalition in Berlin das Projekt in dieser Legislaturperiode noch in Angriff nimmt. Bislang liegt ja noch nicht einmal ein Gesetzentwurf vor. Wir würden uns jedenfalls mit aller Kraft gegen dieses Vorhaben stemmen.

Foto der CSU-Politikerin Judith Gerlach im Gespräch mit G+G-Redakteur Thorsten Severin
Besondere Akzente will die CSU-Politikerin im Bereich Prävention setzen.

Wo wollen Sie in Ihrer noch jungen Amtszeit besondere Akzente setzen?
 
Gerlach: Ich will den Bereich Prävention stärker in den Blick nehmen. Mein Ressort heißt ja Staatsministerium für Gesundheit, Pflege und Prävention. Es geht darum, Krankheiten zu verhindern und Pflegebedürftigkeit möglichst weit nach hinten zu verlagern. Unser System legt den Schwerpunkt noch zu sehr allein auf das Kurieren von Krankheiten. Prävention spart am Ende auch erheblich Geld.

Ist das Verhältnis von Bund und Ländern in der Gesundheitspolitik nach den Querelen um die Klinikreform nachhaltig zerrüttet?

Gerlach: Ich hoffe nicht - denn in der Gesundheitspolitik empfiehlt es sich, zum Wohle der Menschen abseits von Parteipolitik an einem Strang zu ziehen. Ich sehe in den Bundesländern parteiübergreifend den Willen dazu. Es ist bedauerlich, dass der Bundesgesundheitsminister sich da sperrt. Reformen schnell und effektiv umzusetzen, hat auch etwas mit Vertrauen zu tun. Dieses Vertrauen ist im Moment aber wegen des Verhaltens von Lauterbach gründlich zerstört.

Zur Person

Judith Gerlach (CSU) ist seit November 2023 Gesundheitsministerin von Bayern. Zuvor war die 38-jährige Juristin fünf Jahre lange Staatsministerin für Digitales. Dem bayerischen Landtag gehört die Mutter von zwei Kindern seit 2013 an.

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