„Vorhaltung für den Ernstfall kostet Geld“
Dr. Kristina Böhm bearbeitet als oberste Amtsärztin Deutschlands ein breites Themenfeld. Sie will die Fahne des Öffentlichen Gesundheitsdienstes (ÖGD) hochhalten und warnt davor, auf eine Aufarbeitung der Corona-Krise zu verzichten.
Frau Dr. Böhm, auf den ÖGD waren während der Corona-Pandemie alle Augen gerichtet. Flaut die Aufmerksamkeit nun wieder ab?
Kristina Böhm: Ja, das tut sie. Die Pandemie ist de facto vorbei und Themen wie Long Covid liegen eher bei der versorgenden Medizin, sodass wir Mühe haben, den Drive aufrechtzuerhalten. Es kommen zwar neue Themen für uns dazu, wie etwa der Hitzeschutz, aber trotzdem hat die Wahrnehmung deutlich nachgelassen. Das bedauere ich, weil der ÖGD immer ein Nischendasein geführt hat, das er aufgrund der Vielfalt seiner Aufgaben nicht verdient. Allerdings war während der Pandemie auf einzelne Personen, Amtsleitungen zum Beispiel, sehr stark der Fokus gerichtet. Manchmal wurde es gegenüber diesen Menschen sehr unangenehm und sie waren in ihrer Freiheit eingeschränkt. Das vermisse ich nicht.
Wie läuft die Umsetzung des Pakts für den ÖGD, der ja vier Milliarden Euro vom Bund umfasst?
Böhm: Es sind mehr als 5.000 Stellen geschaffen worden über das gesamte Spektrum an Qualifikationen hinweg. Der Prozess ist noch nicht abgeschlossen. Die Stellen sind durch diese Finanzierung bis Ende 2026 sichergestellt.
Und dann?
Böhm: Die Stellen sind leider zum Teil nur befristet besetzt oder können wieder abgeschafft werden. Die Haushaltsplanungen in den Kommunen laufen auf Hochtouren, doch die Kassen sind leer. Da muss jedes Gesundheitsamt sehr kämpfen, um das Erreichte zu verstetigen. Daher ist die Hoffnung, dass sich der Bund weiter an der Finanzierung beteiligt. Aber zur Wahrheit gehört auch, dass die Länder und Kommunen ebenfalls Verantwortung tragen. In der Vergangenheit haben sie die Gesundheitsämter teils auf ein Minimum heruntergespart. Jetzt zu sagen, der Bund soll die Kosten weiter übernehmen, ist zu einfach. Alle drei Ebenen müssen unbedingt gemeinsam den ÖGD unterstützen.
Wie stellt sich das Aufgabenspektrum des ÖGD aktuell dar?
Böhm: Unsere Spannbreite reicht von der Wiege bis zur Bahre, von der Schwangerschaftskonfliktberatung bis zur zweiten Leichenschau vor der Einäscherung.
Schuleingangsuntersuchungen und zahnärztliche Prophylaxe sind den meisten bekannt ...
Böhm: Ja, und dann ist da die immer wichtiger werdende Überwachung der Trinkwasserhygiene und der Badegewässer. Der ÖGD kümmert sich auch um den Infektionsschutz und kontrolliert in diesem Zusammenhang Einrichtungen wie Friseurgeschäfte, Tattoo-Studios, Kosmetiksalons und Fitnessstudios. Weiter geht es darum, Menschen mit Beeinträchtigungen zu unterstützen und Frühförderung für Kinder anzubieten. Auch ist Tuberkulose durch die Flüchtlingsbewegung ein großes Thema. Sexuell übertragbare Krankheiten haben durch eine neue Risikobereitschaft zugenommen und wir sind wieder mit Syphilis oder Gonorrhö konfrontiert. Auch beim Thema Masern gibt es keine Entspannung. Nicht zuletzt das Impfen ist ein Thema in den Gesundheitsämtern. Die Impfsprechstunden sind wichtig, gerade für junge Menschen, die eher wenig zum Arzt gehen. Ein wichtiges Feld ist auch die angeschlagene psychische Gesundheit von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen. Hier sehen wir erst die Spitze des Eisbergs.
Sie erwähnten es: Hinzu kommt der Hitzeschutz …
Böhm: Es ist dringend notwendig, dass wir uns dieses Themas annehmen. Die langen Hitzeperioden im Zuge des Klimawandels haben ja nicht nur unmittelbare Auswirkungen auf die Gesundheit. Wir reden inzwischen auch über Infektionskrankheiten wie Denguefieber oder das West-Nil-Fieber. Als Überträger treten neuerdings Mücken auf, mit denen wir hier nie gerechnet hätten.
„Wir müssen die Corona-Krise kritisch auswerten, sonst fangen wir beim nächsten Mal bei Null an.“
oberste Amtsärztin Deutschlands
Wie ist der ÖGD im Moment personell aufgestellt?
Böhm: Durch die neuen Herausforderungen werden Professionen benötigt, die viele Ämter noch gar nicht haben, etwa wenn es um Ingenieure beim Thema Trinkwasser geht oder um Fachleute für technische Krankenhaushygiene. Wir leiden auch unter dem Fachkräftemangel. Insbesondere die Besetzung der Stellen für Ärztinnen und Ärzte und medizinische Fachassistentinnen und -assistenten ist schwierig, weil auch der ambulante Sektor hier seine Fühler ausstreckt. In Potsdam als städtisches Gesundheitsamt sind alle Stellen besetzt. Ämter in der Fläche sind dagegen nicht so gut dran.
Ist der ÖGD attraktiv genug, wenn es etwa um die Bezahlung im Vergleich zu Kliniken und Arztpraxen geht?
Böhm: Wir haben ja nicht nur Ärzte in den Gesundheitsämtern, sondern viele andere Berufsgruppen. Bei ihnen ist die Bezahlung nicht schlechter als anderswo und geschieht nach Tarif. Bei medizinischen Fachassistenten gibt es hingegen schon einen Unterschied zur Entlohnung in einer Arztpraxis oder im Krankenhaus. Allein die Bezahlung kann und wird für die Zukunft aber kein Argument sein. Wir bieten eine gute Vereinbarkeit von Familie und Beruf sowie mobiles Arbeiten. Rufbereitschaften und Bereitschaftsdienste halten sich in Grenzen. Diese Vorteile haben wir bislang nicht gut genug kommuniziert. Auch bei Aus- und Weiterbildung oder Praktika für Medizinstudenten bleibt noch einiges zu tun.
Was sind für Sie die Lehren aus der Corona-Krise?
Böhm: Was wir auf jeden Fall gelernt haben: Wir brauchen eine Vorhaltestrategie, damit wir im Ernstfall – sei es nun eine Pandemie oder eine Flut – schnell reagieren können. Vorhaltung kostet aber Geld. Und das Zweite ist: Wir müssen üben. Denn in der Krise müssen wir als Verwaltung umschalten auf einen Modus, der ein anderes Arbeiten möglich macht. Das bedeutet, dass jemand vielleicht nicht an seinem originären Platz tätig ist oder eine andere Aufgabe umsetzen muss. Auch Stabsarbeit muss zwischen Kommune, Land und Bund mehr trainiert werden.
Gibt es durch Corona für künftige Krisen eine Basis?
Böhm: Ja, es existiert eine Basis, aber bis heute wurde keine richtige Evaluation betrieben. Wir müssen die Krise auswerten und kritisch beleuchten. Da geht es nicht um Schuldzuweisungen, sondern darum: Was ist gut gelaufen? Was ist nicht gut gelaufen? Was lohnt sich zu verstetigen? Meine Befürchtung ist, dass allmählich das Vergessen einsetzt und wir bei Null anfangen müssen.
Wie steht es um die gesundheitliche Chancengleichheit? Hinlänglich bekannt ist ja der Satz: Armut macht krank.
Böhm: Dieses Gap ist unbestritten. Bei Zahngesundheit, Ernährungsverhalten und Bewegung hapert es in bestimmten sozialen Schichten sehr stark. In der Corona-Pandemie sind vulnerable und benachteiligte Gruppen noch mehr in die Dunkelheit abgerutscht. Viele Menschen sind nicht in der Lage, sich im Gesundheitswesen so zu bewegen, dass sie das in Anspruch nehmen können, was ihnen zusteht. Da sind wir gefordert, Andock-Punkte zu liefern – zum Beispiel über die sozialpsychiatrischen Dienste, sozialkompensatorische Sprechstunden und andere Beratungsangebote. Wir müssen als Gesundheitsdienst zudem für das Thema sensibilisieren und den Finger in die Wunde legen.
Das Versorgungsstärkungsgesetz sollte niedrigschwellige Beratungsangebote aufbauen, gerade für vulnerable Gruppen. Gesundheitskioske oder Primärversorgungszentrum sind aber aus dem Entwurf verschwunden. Hoffen Sie hier auf das Parlament?
Böhm: Wir müssen uns der Wahrheit stellen, dass in der Peripherie die Versorgung mit ambulant tätigen Kollegen schlechter wird und zudem die Zeit für Beratung immer weniger vorhanden ist. Daher finde ich es enorm wichtig, andere Zugangswege zu finden, um Menschen in Richtung Gesundheitsförderung und Prävention zu lenken. Die Beratung durch Gesundheitskioske hätte einen enormen Mehrwert für die Versorgungsqualität. Deswegen hoffen wir sehr, dass da nachgearbeitet wird. Es darf aber nicht nur um einen Auslegeplatz für Infomaterial gehen, sondern Beratung und Steuerung müssen im Vordergrund stehen. Als ÖGD können wir allerdings keine medizinische Versorgung im eigentlichen Sinne übernehmen. Gesundheitskioske sollten dem ÖGD auch nicht einfach übergestülpt werden, ohne sich vorher die Region genau anzusehen. Gut versorgte Ballungszentren etwa brauchen keinen solchen Kiosk.
Was erwarten Sie vom geplanten Bundesinstitut für Prävention und Aufklärung in der Medizin, das für nicht-übertragbare Krankheiten zuständig sein soll?
Böhm: Wenn wir wollen, dass Informationen so aufbereitet werden, dass sie bei den verschiedenen Gruppen vernünftig ankommen, dann brauchen wir eine Bündelung. Wir erheben unglaublich viel Wissen auf kommunaler Ebene und sitzen als Gesundheitsämter auf einem riesengroßen Datenschatz, den wir für Gesundheitsprävention und -förderung nicht vernünftig nutzen. Ich hoffe sehr, dass wir solche Daten mit dem BIPAM anders zusammenführen und sie wissenschaftlich unter Public-Health-Aspekten verarbeiten.
Zur Person
Dr. Kristina Böhm ist seit Ende 2023 Vorsitzende des Bundesverbandes der Ärztinnen und Ärzte des Öffentlichen Gesundheitsdienstes (BVÖGD), vorher war sie die Vizechefin. Böhm leitet zudem seit 2015 das Gesundheitsamt in Potsdam. Von 1995 bis 2015 war sie als Sanitätsoffizierin bei der Bundeswehr tätig.
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