Odyssee bei schwerem Leiden
Chronische Erschöpfung, starke Schmerzen und andere schwere Beschwerden: Die Corona-Pandemie hat die Multisystem-Erkrankung ME/CFS ins Blickfeld gerückt. Die Medizin weiß noch nicht viel über diese Krankheit, die die Betroffenen aus dem Leben reißt. Um die Patienten adäquat zu versorgen, sind Aufklärung und Forschung vonnöten.
Angefangen hat alles wenige Wochen nach einer Corona-Infektion. Die 25-jährige Sara bekommt Kopfschmerzen. Eigentlich kein Grund, sich Sorgen zu machen. Doch kurze Zeit später gesellen sich Fieberschübe, Schmerzen und schwere Erschöpfung hinzu. Nach einem kräftezehrenden Ärztemarathon bekommt sie schließlich die Diagnose Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue-Syndrom, kurz ME/CFS. Heute, ein Jahr nach den ersten Symptomen, verbringt die einst lebensfrohe Studentin die Tage in ihrem Bett. „Sie kann vielleicht noch zwei Prozent ihrer Kraft nutzen und ist rund um die Uhr auf Pflege angewiesen“, sagt ihr Vater. „Das Problem ist, dass die Ärzte einfach nicht mehr weiterwissen.“
Dabei ist die Erkrankung nicht neu. Bereits 1969 nahm die Weltgesundheitsorganisation ME/CFS in die Internationale Klassifikation der Krankheiten auf (ICD-10 G 93.3). Nach Schätzungen des 2023 erschienenen Sachstandsbericht des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) sind 140.000 bis 310.000 Menschen davon betroffen, darunter 70.000 bis 90.000 schulpflichtige Kinder und Jugendliche (siehe weiterführende Links). Pandemiebedingt geht das IQWiG heute von höheren Fallzahlen aus.
Viele erkranken jung und aus voller Gesundheit heraus, werden aus ihrem Alltag gerissen und sind dauerhaft nicht mehr belastbar. Sie sind an Rollstuhl, Haus oder Bett gebunden, benötigen Unterstützung oder Pflege, können nicht mehr zur Schule, zur Ausbildung oder zur Arbeit gehen. Auch bei den Leichterkrankten ist die Lebensqualität erheblich reduziert. Nur mit Einschränkung gelingt es ihnen, ihren Alltag zu meistern.
Warum es zu ME/CFS kommt, ist noch nicht geklärt. Professorin Carmen Scheibenbogen, Leiterin des Charité Fatigue Centrums, forscht seit langem zu ME/CFS, betreut Betroffene und berät Politik und Behörden. „Erst in den vergangenen Jahren konnten wir ein Grundverständnis entwickeln“, erläuterte sie 2023 auf einer Fachtagung des Fatigatio – Bundesverband ME/CFS, einer Selbsthilfe-Organisation von Betroffenen und ihrer Angehörigen. „Mittlerweile wissen wir, dass ME/CFS häufig durch eine Infektion ausgelöst wird, zum Beispiel durch das Eppstein-Barr-, das Grippe- oder das Sars-CoV-2-Virus.“ ME/CFS gilt als schwerste Form von Long Covid. Bei ME/CFS werden Störungen im Immun- und Nervensystem sowie Stoffwechsel beobachtet. Bis heute gibt es keine kurativen, sondern nur symptomlindernde Therapien, zum Beispiel die individuelle Belastungssteuerung (Pacing).
Versorgung unzureichend
Der IQWiG-Sachstandsbericht bewertet einen weiteren Umstand als problematisch: die medizinische Versorgung. Das sieht auch Torben Elbers von der Deutschen Gesellschaft für ME/CFS so. Keine andere Erkrankung sei so schwerwiegend, weit verbreitet und dennoch so schlecht versorgt. „Wir beobachten, dass das Interesse an der Erkrankung gewachsen ist. Dennoch gibt es bis heute nur wenige Ärzte und Spezialambulanzen, die ME/CFS diagnostizieren und behandeln.“ Dazu zählen zum Beispiel die Spezialambulanzen an der Berliner Charité für Betroffene der Region und an der TU München für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene.
Elbers: „Das heißt, die Patienten bekommen keine Termine oder müssen lange darauf warten. Manche sind zudem gar nicht mehr in der Lage, weite Wege auf sich zu nehmen. Dadurch verschlechtert sich ihr Krankheitszustand enorm.“ Doch auch nach der Diagnose sei die Versorgung alles andere als zufriedenstellend. Elbers: „Wir bekommen regelmäßig Rückmeldungen von Erkrankten, dass Anträge auf einen Pflegegrad, einen Grad der Behinderung oder eine Erwerbsminderungsrente nicht anerkannt werden.“ Der Grund sei fehlendes oder mangelndes Wissen über die Schwere der Erkrankung. „Die Patienten fühlen sich vom Gesundheitssystem ausgeschlossen.“
Fehldiagnosen gestellt
Die Frage, warum dies so ist, lässt sich nicht einfach beantworten. „Es gibt wenig Forschung und wenig Evidenz zu Therapien aus klinischen Studien. Viele Ärzte kennen die Krankheit nicht und ordnen sie daher falsch zu“, so Professorin Scheibenbogen. In der Tat gehört laut IQWiG-Sachstandsbericht ME/CFS nicht explizit zum ärztlichen Lernzielkatalog. Obgleich die Krankheit mittlerweile in Leitlinien erwähnt wird, zum Beispiel in der S1-Leitlinie Long/Post-Covid, gibt es keine deutschsprachige Leitlinie speziell zu ME/CFS. „Statt der richtigen Diagnose werden dann fälschlicherweise neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen diagnostiziert“, sagt Scheibenbogen. Das belegt eine Public-Health-Studie (Habermann-Horstmeier, Horstmeier 2023, siehe weiterführende Links). Danach gaben etwas mehr als 63 Prozent der Probanden an, dass Ärzte ihre Beschwerden als Depression, Burnout oder Ähnliches eingeordnet hätten. Doch Fehldiagnosen können mit Blick auf die Post-Exertionelle Malaise (siehe Kasten „Leitsymptom von ME/CFS“) schwere Verläufe zur Folge haben, wenn wohlgemeinte, aber kontraproduktive Aktivierungstherapien empfohlen werden. „Leider hört man immer wieder, dass Erkrankte in der Rehabilitation in Sportprogramme gedrängt werden und kränker nach Hause gehen, als sie in die Reha gekommen sind“, so Professorin Scheibenbogen auf der Pressekonferenz zum ersten Runden Tisch Long Covid im September 2023, zu dem Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach Vertreter aus Wissenschaft, Medizin und Versorgung eingeladen hatte.
Zur Unwissenheit tragen laut IQWiG-Sachstandsbericht zudem die vielschichtigen Symptome, fehlende Biomarker und verschiedene, rein symptombasierte diagnostische Kriterienkataloge bei.
Mehr Aufklärung der Ärzte
Um die Situation zu verbessern, überreichten 2023 die Deutsche Gesellschaft für ME/CFS und die Patienteninitiative Long Covid der Regierung den „Leitfaden für Vorhaben zur Erforschung und Versorgung von ME/CFS und Post-Covid-Syndrom“ (siehe weiterführende Links). Sie fordern eine flächendeckende Aufklärung in alle Versorgungsinstanzen hinein, eine gezielte Förderung der Forschung und den Aufbau von Ambulanzen, Kompetenzzentren und lokalen Versorgungsnetzwerken.
Richtlinie verabschiedet
Dass dringender Handlungsbedarf besteht, hat die Politik erkannt. Im Koalitionsvertrag einigten sich die Ampelparteien darauf, Forschungsmittel zur Verfügung zu stellen und eine Versorgungsinfrastruktur aufzubauen. Ende 2023 hat der Gemeinsame Bundesausschuss (GBA) mit der Long-Covid-Richtlinie die Weichen dafür gestellt (siehe weiterführende Links). Diese schließt mit ME/CFS und Post Vac Erkrankungen mit einer ähnlichen Ursache oder Krankheitsausprägung ein. Vorgesehen ist eine berufsgruppenübergreifende, strukturierte Versorgung mit Haus- und Kinderärzten als erste Ansprechpartner und Koordinatoren sowie Fachärzten für die Unterstützung bei Diagnostik und Therapie. Für schwere Fälle und bei komplexem Versorgungsbedarf sollen Hochschulambulanzen und andere spezialisierte Einrichtungen zur Verfügung stehen. Die Aufgaben der Leistungserbringer werden detailliert beschrieben. „Wir wollen erreichen, dass die Odyssee der Patienten endlich ein Ende hat und sie eine fundierte, schnelle und wohnortnahe Hilfe erhalten“, erläutert Karin Maag, unparteiisches GBA-Mitglied. Mit Blick auf die aufwendige Diagnostik und Therapie hofft sie, dass auch die Vergütung angepasst wird, damit sich Ärzte Zeit für diese Patienten nehmen.
„Wir wollen erreichen, dass die Patienten eine fundierte, schnelle und wohnortnahe Hilfe erhalten.“
unparteiisches Mitglied des Gemeinsamen Bundesausschusses
Bundesmittel bereitgestellt
Auch die Forschung hat Fahrt aufgenommen. Als ein Meilenstein gilt die Förderrichtlinie des Bundesforschungsministeriums für die Finanzierung interdisziplinärer Verbundvorhaben zur Erforschung der Krankheitsmechanismen. Dafür stellte 2023 das Ministerium 15 Millionen Euro bereit. Und im März dieses Jahres gab das Bundesgesundheitsministerium die Förderung der „Erforschung und Stärkung einer bedarfsgerechten Versorgung rund um die Langzeitfolgen von Covid-19 (Long Covid)“ ab Herbst dieses Jahres bis Ende 2028 bekannt. 81 Millionen Euro sollen in die Forschung und in die Vernetzung von Best-Practice-Modellen fließen. Mit weiteren 52 Millionen Euro soll die Versorgung von Kindern mit Long Covid gefördert werden. Die Projekte können auch Erkrankungen mit ähnlichen Symptomen wie ME/CFS und unabhängig von einer Covid-19-Erkrankung sowie Beschwerden im zeitlichen Zusammenhang mit einer Covid-19-Impfung zum Gegenstand haben oder diese mitberücksichtigen. Zudem fördert der Innovationsfonds die Forschung zu Long Covid und ME/CFS, zum Beispiel die „CFS_CARE: Versorgungsstudie für Patienten mit ME/CFS“ zur sektorenübergreifenden Versorgung. Die Auswertung wird ab September 2024 erwartet. Und im Mai gab der Innovationsfonds bekannt, acht weitere Forschungsprojekte zur Versorgung von postviralen Symptomkomplexen fördern zu wollen.
Doch es braucht mehr, meint Elbers von der Deutschen Gesellschaft für ME/CFS. Notwendig sei eine intensive Aufklärung der Ärzte, an der sich auch ärztliche Berufsverbände beteiligen sollten. Und es müssten Medikamente für den Off-Label-Use zugelassen werden. Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte arbeitet derzeit nach eigenem Bekunden an einer Medikamentenliste für den Off-Label-Use für alle ME/CFS-Patienten – damit Betroffenen wie Sara rasch geholfen werden kann.
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12 Kommentare
BML
Herzlichen Dank für diesen so wichtigen und aufklärenden Artikel!
Für uns ME/CFS- Erkrankte ist Anerkennung, Verständnis und Unterstützung von Ärztinnen und Ärzten, Krankenkassen und Behörden so immens wichtig!
DANKE AOK!!
Susanne Schäfer
Vielen Dank für diesen interessanten Artikel. Ich leide seit meiner ersten Corona-Infektion unter den im Artikel beschriebenen Symptomen. Seit der 2. Covid-Erkrankung haben sich die Symptome noch mehr verschärft. Jeden Tag bleierne Müdigkeit, Gehirnnebel, Wortfindungsstörungen Konzentrationsschwäche, Schwankschwindel, Kopfschmerzen oder Druck und keine Kraft, die einfachsten Dinge des täglichen Lebens zu tun. Zum Glück habe ich manchmal morgens und abends noch klare Momente mit ein wenig Energie... aber je mehr ich tue (Stichwort: Aktivierung) umso stärker werden die Symptome. Auch bei mir wird alles unter der Diagnose Depression behandelt.
Silke Richter
Vielen Dank für den Betrag. Ich bin seit 12/22 stark betroffen und hausgebunden. Den Hausarzt habe ich 4/23 das letzte Mal gesehen, er kann nichts machen. Die Charité Berlin hat schon länger Aufnahmestopp, sie können die vielen Anfragen nicht mehr bewältigen. Selbst Ärzte sollen sich nur noch in dringenden Fällen dort melden. Es wird auf die Internetseiten verwiesen, das wars. Es ist eine Katastrophe für min. 500.000 teils schwer erkrankte Menschen und der Angehörigen. LG