Artikel Versorgung

Odyssee bei schwerem Leiden

20.06.2024 Beate Ebbers 10 Min. Lesedauer

Chronische Erschöpfung, starke Schmerzen und andere schwere Beschwerden: Die Corona-Pandemie hat die Multisystem-Erkrankung ME/CFS ins Blickfeld gerückt. Die Medizin weiß noch nicht viel über diese Krankheit, die die Betroffenen aus dem Leben reißt. Um die Patienten adäquat zu versorgen, sind Aufklärung und Forschung vonnöten.

Foto einer jungen Frau, die völlig erschöpft im Bett liegt mit einer Schlafbrille in der einen und Kopfhörern in der anderen Hand
Keine Kraft: Schwerst an ME/CFS Erkrankte können ihr Bett kaum noch verlassen.

Angefangen hat ­alles wenige Wochen nach einer Corona­-Infektion. Die 25-jährige Sara bekommt Kopfschmerzen. Eigentlich kein Grund, sich Sorgen zu machen. Doch kurze Zeit ­später gesellen sich Fieberschübe, Schmerzen und schwere Erschöpfung hinzu. Nach einem kräftezehrenden Ärztemarathon bekommt sie schließlich die Diagnose Myalgische ­Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue-Syndrom, kurz ME/CFS. Heute, ein Jahr nach den ersten Symptomen, verbringt die einst lebensfrohe Studentin die Tage in ihrem Bett. „Sie kann vielleicht noch zwei Prozent ihrer Kraft nutzen und ist rund um die Uhr auf Pflege angewiesen“, sagt ihr Vater. „Das Problem ist, dass die Ärzte einfach nicht mehr weiterwissen.“

Dabei ist die Erkrankung nicht neu. Bereits 1969 nahm die Weltgesundheitsorganisation ME/CFS in die Internationale Klassifikation der Krankheiten auf (ICD-10 G 93.3). Nach Schätzungen des 2023 erschienenen Sachstandsbericht des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheits­wesen (IQWiG) sind 140.000 bis 310.000 Menschen davon betroffen, darunter 70.000 bis 90.000 schulpflichtige Kinder und Jugendliche (siehe weiterführende Links). Pandemiebedingt geht das IQWiG heute von höheren Fallzahlen aus.

Viele erkranken jung und aus voller Gesundheit heraus, werden aus ihrem Alltag gerissen und sind dauerhaft nicht mehr belastbar. Sie sind an Rollstuhl, Haus oder Bett gebunden, benötigen Unterstützung oder Pflege, können nicht mehr zur Schule, zur Ausbildung oder zur Arbeit gehen. Auch bei den Leichterkrankten ist die Lebensqualität erheblich reduziert. Nur mit Einschränkung gelingt es ihnen, ihren Alltag zu meistern.
 
Warum es zu ME/CFS kommt, ist noch nicht geklärt. Professorin Carmen Scheibenbogen, Leiterin des Charité Fatigue Cen­trums, forscht seit langem zu ME/CFS, betreut Betroffene und berät Politik und Behörden. „Erst in den vergangenen Jahren konnten wir ein Grundverständnis entwickeln“, erläuterte sie 2023 auf einer Fachtagung des Fatigatio – Bundesverband ME/CFS, einer Selbsthilfe-Organisation von Betroffenen und ihrer Angehörigen. „Mittlerweile wissen wir, dass ME/CFS häufig durch eine Infektion ausgelöst wird, zum Beispiel durch das Eppstein-Barr-, das Grippe- oder das Sars-CoV-2-Virus.“ ME/CFS gilt als schwerste Form von Long Covid. Bei ME/CFS werden Störungen im Immun- und Nervensystem sowie Stoffwechsel beobachtet. Bis heute gibt es keine kurativen, sondern nur symptomlindernde Therapien, zum Beispiel die individuelle Belastungssteuerung (Pacing).

Versorgung unzureichend

Post-Exertionelle Malaise, kurz PEM, ist das Leitsymptom für ME/CFS. Es kann für mehrere Tage oder Wochen anhalten oder chronisch werden. Schon kleine Aktivitäten wie Zähneputzen, Duschen, Kochen oder wenige Schritte Gehen können zur Tortur werden oder Besorgungen im Supermarkt anschließend zu tagelanger Bettruhe zwingen. Für Schwerstbetroffene kann PEM bereits durch das Umdrehen im Bett oder die Anwesenheit einer weiteren Person im Raum ausgelöst werden.
Quelle: Deutsche Gesellschaft für ME/CFS

Der IQWiG-Sachstandsbericht bewertet einen weiteren Umstand als problematisch: die medizinische Versorgung. Das sieht auch Torben Elbers von der Deutschen Gesellschaft für ME/CFS so. Keine andere Erkrankung sei so schwerwiegend, weit verbreitet und dennoch so schlecht versorgt. „Wir beobachten, dass das Interesse an der Erkrankung gewachsen ist. Dennoch gibt es bis heute nur wenige Ärzte und Spezialambulanzen, die ME/CFS diagnostizieren und behandeln.“ Dazu zählen zum Beispiel die Spezialambulanzen an der Berliner Charité für Betroffene der Region und an der TU München für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene.

Elbers: „Das heißt, die Patienten bekommen keine Termine oder müssen lange darauf warten. Manche sind zudem gar nicht mehr in der Lage, weite Wege auf sich zu nehmen. Dadurch verschlechtert sich ihr Krankheitszustand enorm.“ Doch auch nach der Diagnose sei die Versorgung ­alles andere als zufriedenstellend. ­Elbers: „Wir bekommen regelmäßig Rückmeldungen von Erkrankten, dass Anträge auf einen Pflegegrad, einen Grad der Behinderung oder eine Erwerbsminderungs­rente nicht anerkannt werden.“ Der Grund sei fehlendes oder mangelndes Wissen über die Schwere der Erkrankung. „Die Patienten fühlen sich vom Gesundheits­system ausgeschlossen.“

Fehldiagnosen gestellt

Die Frage, warum dies so ist, lässt sich nicht einfach beantworten. „Es gibt wenig Forschung und wenig Evidenz zu Therapien aus klinischen Studien. Viele Ärzte kennen die Krankheit nicht und ordnen sie daher falsch zu“, so Professorin Scheibenbogen. In der Tat gehört laut IQWiG-Sachstands­bericht ME/CFS nicht explizit zum ärztlichen Lernzielkatalog. Obgleich die Krankheit mittlerweile in Leitlinien erwähnt wird, zum Beispiel in der S1-Leitlinie Long/Post-Covid, gibt es keine deutschsprachige Leitlinie speziell zu ME/CFS. „Statt der richtigen ­Diagnose werden dann fälschlicherweise neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen diagnostiziert“, sagt Scheibenbogen. Das belegt eine Public-Health-Studie (Habermann-Horstmeier, Horstmeier 2023, siehe weiterführende Links). Danach gaben etwas mehr als 63 Prozent der Probanden an, dass Ärzte ihre Beschwerden als Depression, Burnout oder Ähn­liches eingeordnet hätten. Doch Fehldiagnosen können mit Blick auf die Post-Exertionelle Malaise (siehe Kasten „Leitsymptom von ME/CFS“) schwere Verläufe zur Folge haben, wenn wohlgemeinte, aber kontraproduktive Aktivierungstherapien empfohlen werden. „Leider hört man immer wieder, dass ­Erkrankte in der Rehabilitation in Sportprogramme gedrängt werden und kränker nach Hause gehen, als sie in die Reha gekommen sind“, so Professorin Scheibenbogen auf der Pressekonferenz zum ersten Runden Tisch Long Covid im September 2023, zu dem Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach Vertreter aus Wissenschaft, Medizin und Versorgung eingeladen hatte.

Zur Unwissenheit tragen laut IQWiG-Sachstandsbericht zudem die vielschichtigen Symptome, fehlende Biomarker und verschiedene, rein symptombasierte diagnostische Kriterienkataloge bei.

Mehr Aufklärung der Ärzte

Foto einer jungen Frau, die im Liegen demonstiert mit einem Plakat in den Händen, auf dem "Postvirale Erkrankung ME/CFS steht"
Kämpfen im Liegen für mehr Aufmerksamkeit: Menschen mit ME/CFS.

Um die Situation zu verbessern, überreichten 2023 die Deutsche Gesellschaft für ME/CFS und die Patienteninitiative Long Covid der Regierung den „Leitfaden für Vorhaben zur Erforschung und Versorgung von ME/CFS und Post-Covid-Syndrom“ (siehe weiterführende Links). Sie fordern eine flächen­deckende Aufklärung in alle Versorgungsinstanzen hinein, eine gezielte Förderung der Forschung und den Aufbau von Ambulanzen, Kompetenzzentren und lokalen Versorgungsnetzwerken.

Richtlinie verabschiedet

Dass dringender ­Handlungs­bedarf besteht, hat die Politik erkannt. Im Koalitionsvertrag einigten sich die Ampelparteien darauf, Forschungsmittel zur Verfügung zu stellen und eine Versorgungs­infrastruktur aufzubauen. Ende 2023 hat der Gemeinsame Bundesausschuss (GBA) mit der Long-Covid-Richtlinie die Weichen dafür gestellt (siehe weiterführende Links). Diese schließt mit ME/CFS und Post Vac Erkrankungen mit einer ähnlichen Ursache oder Krankheitsausprägung ein. Vorgesehen ist eine berufsgruppenübergreifende, strukturierte Versorgung mit Haus- und Kinderärzten als erste Ansprechpartner und Koordinatoren sowie Fachärzten für die Unterstützung bei Diagnostik und Therapie. Für schwere Fälle und bei komplexem Versorgungsbedarf sollen Hochschulambulanzen und andere spezialisierte Einrichtungen zur Verfügung stehen. Die Aufgaben der Leistungserbringer werden detailliert beschrieben. „Wir wollen erreichen, dass die Odyssee der Patienten endlich ein Ende hat und sie eine fundierte, schnelle und wohnortnahe Hilfe erhalten“, erläutert ­Karin Maag, unparteiisches GBA-Mitglied. Mit Blick auf die aufwendige Diagnostik und Therapie hofft sie, dass auch die Vergütung an­gepasst wird, damit sich Ärzte Zeit für diese Patienten nehmen.

„Wir wollen erreichen, dass die Patienten eine fundierte, schnelle und wohnortnahe Hilfe erhalten.“

Porträt von Karin Maag, unparteiisches Mitglied des Gemeinsamen Bundesausschusses

Karin Maag

unparteiisches Mitglied des Gemeinsamen Bundesausschusses

Bundesmittel bereitgestellt

Auch die Forschung hat Fahrt aufgenommen. Als ein Meilenstein gilt die Förderrichtlinie des Bundesforschungsministeriums für die Finanzierung interdisziplinärer Verbundvorhaben zur Erforschung der Krankheitsmechanismen. Dafür stellte 2023 das Ministerium 15 Millionen Euro bereit. Und im März dieses Jahres gab das Bundesgesundheitsministerium die Förderung der „Erforschung und Stärkung einer bedarfsgerechten Versorgung rund um die Langzeitfolgen von Covid-19 (Long ­Covid)“ ab Herbst dieses Jahres bis Ende 2028 bekannt. 81 Millionen Euro sollen in die Forschung und in die Vernetzung von Best-Prac­tice-Modellen fließen. Mit weiteren 52 Millionen Euro soll die Versorgung von Kindern mit Long Covid gefördert werden. Die Projekte können auch Erkrankungen mit ähnlichen Symptomen wie ME/CFS und unabhängig von einer Covid-19-Erkrankung sowie Beschwerden im zeitlichen Zusammenhang mit einer Covid-19-Impfung zum Gegenstand haben oder diese mitberücksichtigen. Zudem fördert der Innovationsfonds die Forschung zu Long Covid und ME/CFS, zum Beispiel die „CFS_CARE: Versorgungs­studie für Patienten mit ME/CFS“ zur sektorenübergreifenden Versorgung. Die Auswertung wird ab September 2024 erwartet. Und im Mai gab der Innovationsfonds bekannt, acht weitere Forschungsprojekte zur Versorgung von postviralen Symptomkomplexen fördern zu wollen.

Doch es braucht mehr, meint Elbers von der Deutschen Gesellschaft für ME/CFS. Notwendig sei eine intensive Aufklärung der ­Ärzte, an der sich auch ärztliche Berufsverbände beteiligen sollten. Und es müssten Medikamente für den Off-Label-Use zugelassen werden. Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte arbeitet derzeit nach eigenem Bekunden an einer Medikamentenliste für den Off-Label-Use für alle ME/CFS-Patienten – damit Betroffenen wie Sara rasch ge­holfen werden kann.

Mitwirkende des Beitrags

9 Kommentare

Sehr guter Bericht. Ich hoffe, Sie als Krankenkasse nehmen hier auch etwas für die weitere Versorgung von ME/CFS-Erkrankten mit.

Vielen Dank für diesen gelungenen Artikel. 2018 erkrankt, hat mir eine Uni Leipzig mein Leben ruiniert, abgestempelt mit Depression und mit der Bemerkung: Alles auswendig gelernt, was ich an Symptomen berichte. Ich könnte ein Buch über Medical Gaslighting in Leipzig schreiben.

Wenn man keinen Arzt findet, der über seinen Tellerrand hinaussieht, ist man aufgeschmissen. Ich musste erst das Bundesland wechseln, bevor ich fähige Ärzte gefunden habe.

Vielen Dank für diesen Beitrag! Es muss sich endlich in dem Gesundheitssystem etwas ändern. Meine Hausarztpraxis kennt anscheinend immer noch nicht ME/CFS. Fatique ist zwar bekannt, aber erst neulich hat ein Arzt in Weiterbildung sich damit gerühmt, dass er seine Doktorarbeit über das Fatique Syndrom geschrieben habe, dass er aber ME/CFS noch nie gehört habe. Ich dachte, er wolle mich veräppeln. Das kann doch echt nicht wahr sein. Es muss dringendst mehr über ME/CFS gelehrt werden, damit es endlich zu mehr Verständnis und Therapiemaßnahmen kommen kann. Außerdem wird man immer in die "Psychoschublade" geschoben und es fehlt an Empathie seitens der Ärzte. Erst neulich war ich wieder in dieser Arztpraxis, um meine Reizblase und andere Symptome lindern zu lassen. Ich kam in einem körperlich sehr schlechtem Energiezustand und bat den Arzt, dass ich mich während des Termins hinlegen wolle. Dieser entgegnete mir: "Das können sie gerne machen, ich weiß allerdings nicht, ob wir uns dann gut unterhalten können. Und warum sind Sie überhaupt heute hier?" Das kam in einer derart genervten Tonart rüber, dass ich mich wirklich sehr schlecht fühlte. Anstatt zu fragen, ob er mir irgendwie helfen könne, geschweige denn irgendeine Untersuchung durchgeführt hätte, war er sichtlich bemüht, mich schnellstmöglich wieder los zu werden.

Es ist einfach nur traurig. Ich hoffe sehr, dass sich meine Krankenkasse, die AOK, sich für solche Patienten wie mich einsetzt. Es gibt über eine halbe Million Menschen in Deutschland, die an ME/CFS erkrankt sind (Dunkelziffer wahrscheinlich viel höher). Was das für ein großer wirtschaftlicher Schaden ist, da besonders auch sehr viele junge Menschen betroffen sind, liegt auf der Hand. Es wäre ein Anfang, wenn die Krankenkasse Hilfestellungen gibt, bezüglich Diagnostik, Ärztevermittlung, geeignete Therapien ... und insbesondere ortsnah. Denn was nützt es mir, wenn für Erwachsene die Charité Berlin zur Zeit die einzige Anlaufstelle ist, diese aber Aufgrund von zu hoher Nachfrage nur noch Berliner oder Brandenburger aufnehmen kann. Ich persönlich würde sehr gerne zur Sprechstunde in die Charité gehen.

Doch die Ärzte hier vor Ort hätten die Möglichkeit, sich über die Internetseite des Fatique Centrum der Charité weiterzubilden und auch direkt mit der Charité in Kontakt zu treten. Leider haben unsere Ärzte hier vor Ort wohl kein Interesse. Hier gilt Quantität vor Qualität.

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