Neuer Anlauf bei der Organspende?
Seit März ist das Organspenderegister online, und es haben sich bereits über 100.000 Menschen registriert. Sollte die Einführung zum Anlass genommen werden, um einen neuen Anlauf für die Widerspruchsregelung zu starten?
Entscheidung ist Angehörigen nicht zuzumuten
Ich weiß nicht, wer sich zu Beginn registriert hat. Ich kann mir aber gut vorstellen, dass es zunächst zum einen diejenigen waren, die ohnehin einen Spenderausweis haben, zum anderen jene, die bezeugen möchten, dass sie gegen eine Organspende sind. Ich bin mir auch nicht sicher, ob die Widerspruchslösung wirklich die Zahl der Spender erhöht.
Ich finde einen anderen Aspekt viel wichtiger: Bisher müssen oft die nächsten Angehörigen über eine Organspende entscheiden. Und das in einer Situation, die furchtbar ist: am Sterbebett des Kranken. Der Grund ist, dass der Betroffene selbst zu Lebzeiten nicht darüber entschieden hat. Das ist eigentlich nicht zumutbar. Diese Verschiebung der Verantwortung würde die Einführung der Widerspruchslösung beenden und so die Angehörigen entlasten.
Wenn es wirklich einen neuen politischen Anlauf geben sollte, sehe ich uns Intensivmediziner in der Pflicht: Wir können und wir sollten die Parlamentarier wirklich umfassend informieren.
Viele Instrumente notwendig, um erfolgreich zu sein
Die 100.000 Registrierungen seit dem Start des Registers haben mich ehrlich gesagt positiv überrascht. Allerdings muss man auch berücksichtigen, dass dies nur etwa 0,1 Prozent der deutschen Bevölkerung entspricht, was definitiv nicht ausreichend und wiederum enttäuschend ist. Es zeigt, dass trotz des positiven Trends noch viel Arbeit ist, um mehr Menschen zu einer Entscheidung zu bewegen. Hierzu gibt es kein Patentrezept.
Wir brauchen viele Instrumente, um erfolgreich zu sein. Eine kontinuierliche Aufklärung, die Einführung einer Widerspruchsregelung, aber auch eine stärkere Anerkennung und Betreuung der Hinterbliebenen von Organspenderinnen und -spendern. Zusätzlich sollten wir Maßnahmen ergreifen, um die gesellschaftliche Akzeptanz und das Bewusstsein für die Bedeutung der Organspende zu erhöhen. Beispielsweise die Integration des Themas in den Schulunterricht. Durch einen ganzheitlichen Ansatz können Menschen dazu bewegt werden, sich bewusst für eine Organspende zu entscheiden.
Verfahren viel zu kompliziert
Das Verfahren ist viel zu kompliziert: Benötigt werden Personalausweis mit elD-Funktion, zugehörige Pin, Ausweis-App auf PC und NFC-Smartphone, E-Mail-Adresse und Krankenversicherungsnummer. Dazu kommen Misstrauen hinsichtlich Datensicherheit und Furcht vor Hackern. Menschen mit schwachen Lese- und Schreibfähigkeiten, geringen Deutschkenntnissen, und solche ohne digitale Medien haben keinen Zugang.
In den ersten vier Wochen haben sich trotz starker Medienbegleitung gerade einmal 0,14 Prozent registriert. In Großbritannien, Dänemark, den Niederlanden und der Schweiz wurden ähnliche Register zwischen 1994 und 2018 eingeführt – immer mit niedriger Resonanz. Die Angehörigen der vielen potenziellen Spender, die nicht registriert waren, gingen häufig davon aus, dass sich der Verstorbene nicht registrieren ließ, weil er gegen die Spende war. Dadurch kam es zu den europaweit höchsten Ablehnungsraten. Das Resultat wird eine weitere Abnahme der Organspenden bei uns sein.
Maßnahmen zur Vertrauensförderung in Entscheidungsfindung ergreifen
Deutschland gehört in Europa zu den wenigen Ländern ohne Widerspruchslösung und hat vergleichsweise wenige Organspender pro Einwohner. Organtransplantationen sind für Patientinnen und Patienten, die ein Organ erhalten, oftmals überlebenswichtig. Statistiken aus verschiedenen Ländern in Europa zeigen allerdings, dass eine Widerspruchslösung kein Garant für eine hohe Rate von Organspenden ist.
Hinzu kommt, dass aus ethischer Perspektive das Wohl potenzieller Organempfänger gegenüber anderen Gütern – beispielsweise Respekt vor selbstbestimmten gesundheitsbezogenen Entscheidungen und Vertrauen in das Gesundheitssystem – abgewogen werden muss. Die Einführung des Registers sollte zum Anlass genommen werden, selbstbestimmte Entscheidungen in Bezug auf die Organspende zu unterstützen. Angesichts empirisch belegter Ängste von Bürgerinnen und Bürgern sollten weiterhin Maßnahmen zur Förderung des Vertrauens in die Entscheidungsfindung ergriffen werden.
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