Artikel Pflege

Recht: Schwerste Behinderung führt nicht immer zu Pflegegrad 5

24.07.2024 Kathleen Neumann 5 Min. Lesedauer

Schwerstpflegebedürftige Menschen, die ihre behinderungsbedingten Beeinträchtigungen mit Hilfsmitteln oder angeeigneten Fähigkeiten etwas ausgleichen können, haben keinen Anspruch auf Pflegegeld nach dem Pflegegrad 5.

Symbolbild eines Paragraphenzeichen, das auf einem geöffneten Buch steht

Urteil vom 22. Februar 2024

– B 3 P 1/22 R –
Bundessozialgericht

Die Leistungen der Pflegever­sicherung richten sich nach dem Pflegegrad, den Pflegebedürf­tige erhalten. Er wird durch eine Pflege­begutachtung bestimmt. Je höher der Pflegegrad ist, desto mehr Geld- oder Sachleistungen übernimmt die Pflegekasse. Ist ein Pflegebedürftiger seiner Ansicht nach nicht richtig vom Medizi­nischen Dienst eingestuft worden, kann er innerhalb eines Monats Widerspruch einlegen.
 
So geschehen im Fall eines 1962 geborenen Mannes. Er hat eine angeborene Verkürzung der Arme und Beine. Greifen und gehen kann er nicht. Der Medi­zinische Dienst hatte den Rollstuhlfahrer begutachtet. Zuletzt war er in den Pflegegrad 3 eingestuft und erhielt Pflegegeld in Höhe von 573 Euro monatlich. Er verlangte jedoch Pflegegeld nach dem Pflegegrad 5 in Höhe von 947 Euro monatlich. Dabei berief er sich auf Paragraf 15 Absatz 4 ­Sozialgesetzbuch (SGB) XI. Danach können Pflegebedürf­tige mit besonderen Bedarfs­konstellationen, die einen spezi­fischen, außergewöhnlich hohen Hilfebedarf mit besonderen Anforderungen an die ­pflegerische Versorgung aufweisen, dem Pflegegrad 5 zugeordnet werden. Näheres dazu regeln die Richtlinien des Medizinischen Dienstes Bund (MD) zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit nach SGB XI. Nach diesen Richtlinien liegt eine besondere Bedarfskonstellation bei Gebrauchsunfähigkeit beider Arme und beider ­Beine mit vollständigem Verlust der Greif-, Steh- und Gehfunktionen vor. Dies sei bei ihm der Fall. Waschen, Zähneputzen, Anziehen oder das Essen zubereiten seien nur mit der dreimal pro Woche erscheinenden Pflegeassistenz möglich.

„Wenig überraschend hat das Bundessozialgericht auch für die ab 2017 geltenden Begutachtungs-Richtlinien eine Bindungswirkung bestätigt.“

Kathleen Neumann

Justiziarin beim AOK-Bundesverband

Höchsten Pflegegrad verneint

Doch seine Pflegekasse lehnte einen Pflegegeldanspruch nach Pflegegrad 5 aufgrund einer besonderen Bedarfskonstellation ab. Daraufhin klagte der Mann – ohne Erfolg. Sowohl das Sozial- als auch das Landessozialgericht verneinten eine besondere Bedarfskonstellation. Nach dem eingeholten Pflegegutachten könne der Kläger seine erheblichen körperlichen Beeinträchtigungen durch das Nutzen geeigneter Hilfsmittel und erworbener Fähigkeiten ausgleichen und Alltagsaktivitäten selbstständig beziehungsweise teilselbstständig mit seinen Armen und Beinen ausführen.
 
Daraufhin legte der Mann Revision beim Bundessozialgericht (BSG) ein – hatte aber auch dort keinen Erfolg. Das BSG be­stätigte die vorinstanzlichen Entscheidungen. Der Kläger habe keinen Anspruch auf Pflegegeld nach Pflegegrad 5. Der Gesetzgeber habe keine allgemeine Härtefall-Öffnung gewollt. Wann eine beson­dere Bedarfskonstellation mit Pflegegrad 5 vorliege, solle laut Gesetz zunächst der GKV-Spitzenverband und seit 2020 der MD Bund bestimmen. Dieses Vorgehen sei verfassungsrechtlich zulässig – zumal die Richtlinien vom Bundesgesundheitsministerium genehmigt worden seien.

Wie viele Pflegebedürftige welche Pflegegrade haben

Wie viele Pflegebedürftige welche Pflegegrade haben Jüngste Zahlen des Statistischen Bundesamtes zeigen: Von den rund fünf Millionen pflegebedürftigen Menschen hat die Mehrheit Pflegegrad 2 und 3.
Quelle: Statistisches Bundesamt, Stand: 21. Dezember 2022

Jüngste Zahlen des Statistischen Bundesamtes zeigen: Von den rund fünf Millionen pflegebedürftigen Menschen hat die Mehrheit Pflegegrad 2 und 3.

Wie viele Pflegebedürftige welche Pflegegrade haben Jüngste Zahlen des Statistischen Bundesamtes zeigen: Von den rund fünf Millionen pflegebedürftigen Menschen hat die Mehrheit Pflegegrad 2 und 3.
Quelle: Statistisches Bundesamt, Stand: 21. Dezember 2022

Richtlinien rechtmäßig

Die Richtlinien seien, so die obersten Sozialrichter weiter, rechtmäßig und für die Medizinischen Dienste sowie die ­Pflegekassen verbindlich. Sie müssten als Konkretisierung des Gesetzes beachtet werden, um eine Ungleichbehandlung zu vermeiden. Die in den Begutachtungs-Richtlinien vorgenommene untergesetzliche Normkonkretisierung sei verfassungsmäßig zulässig. Die Richtlinien dienten dazu, dem Gleichbehandlungsgrundsatz des Grundgesetzes (Artikel 3, Gleichheit vor dem Gesetz) gerecht zu werden. Zudem wies das BSG darauf hin, dass die im vorliegenden Fall strittige „besondere Bedarfskonstellation“ bereits der Expertenbeirat zur konkreten Ausgestaltung des neuen Pflege­bedürftigkeitsbegriffs 2013 empfohlen und der GKV-Spitzenverband in einer Praktikabilitätsstudie überprüft hätten.

Vorrang der Rehabilitation

Im Falle des Klägers läge die in den Begutachtungs-Richtlinien formulierte besondere Bedarfskonstellation „Gebrauchsunfähigkeit beider Arme und Beine mit einem vollständigen Verlust der Greif-, Steh- und Gehfunktion“ nicht vor. Der Richtliniengeber sei schließlich berechtigt, als weitere Konkretisierung in die Richtlinien aufzunehmen, dass die Einschränkungen „nicht durch Einsatz von Hilfsmitteln kompensiert werden“. Hier-mit habe er dem Grundsatz des Vorrangs der Rehabilitation vor Pflege (Paragraf 31 SGB XI) Rechnung getragen, der auch in den Begriff der Pflegebedürftigkeit Eingang gefunden habe.

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