„Es fehlt an erweiterter Kompetenz der Pflege“
Die Qualität der medizinischen Versorgung in Pflegeheimen wird seit Jahrzehnten bemängelt, bemerkt Gabriele Meyer. Daraus resultierten beispielsweise viele vermeidbare Klinikeinweisungen. Die Pflegewissenschaftlerin fordert den Ausbau der medizinischen Kompetenzen bei Pflegefachpersonen.
Frau Professorin Meyer, woran krankt die gesundheitliche Versorgung der Bewohnerinnen und Bewohner von Pflegeheimen?
Gabriele Meyer: Es fehlt vor allem an einer erweiterten Kompetenz in der Pflege. Wenn eine Pflegefachperson einer Pflegeheimbewohnerin nicht einmal eine frei verkäufliche Salbe auf ein schmerzendes Knie aufträgt, wenn dies nicht ärztlich angeordnet ist, dürfen wir uns über die vielen vermeidbaren Krankenhauseinweisungen an Wochenenden, nach Stürzen oder im Sterbeprozess nicht wundern. Um Bewohnerinnen und Bewohner in akuten Krankheitsphasen vor Ort zu begleiten, brauchen Pflegefachpersonen bessere medizinische Kompetenzen im Umgang mit häufigen gesundheitlichen Problemen, wie beispielsweise chronische Wunden, Herzinsuffizienz, Diabetes und Demenz. Ein Fehlanreiz entsteht zudem durch die Trennung der beiden Sozialgesetzbücher (SGB) V und XI mit der Folge, dass stärkere Pflegebedürftigkeit zu höheren Erlösen führt.
Was bringt die gesetzliche Verpflichtung der Heime, Kooperationsverträge zur ambulanten ärztlichen Behandlung zu schließen?
Gabriele Meyer: Der Gesetzgeber versucht mit Paragraf 119b SGB V es für niedergelassene Ärztinnen und Ärzte attraktiver zu machen, Pflegeheimbewohnerinnen und -bewohner medizinisch zu begleiten. Es entspricht der Logik unseres gewinnorientierten Gesundheitssystems, zusätzliche monetäre Anreize zu schaffen, damit Aufgaben, die ethisch und fachlich geboten sind, tatsächlich ausgeführt werden.
Was wissen wir über Qualität und Angemessenheit der medizinischen Versorgung von Pflegeheimbewohnern?
Gabriele Meyer: Die Qualität der ärztlichen, insbesondere fachärztlichen Versorgung in den Pflegeheimen wird seit Jahrzehnten bemängelt. Die meisten Untersuchungen basieren auf Befragungen und Analysen von Routinedaten. Es gibt auch prospektive Untersuchungen, die Funktionsbeeinträchtigungen bei den Bewohnerinnen und Bewohnern standardisiert erhoben haben. Anhand der Befunde und des Abgleichs mit der Dokumentation der Routine lassen sich Schlussfolgerungen für die ärztliche Versorgung ziehen. Die Untersuchungen sind methodisch limitiert. Sie lassen zwar Aussagen über die Häufigkeit von Beeinträchtigungen und Symptomen zu, jedoch keine Aussagen dazu, ob eine Indikation zur Behandlung vorliegt, eine Behandlung gewünscht, prioritär oder als verhältnismäßig erachtet wird.
Selbstverständlich haben Pflegeheimbewohnerinnen und -bewohner ein Recht auf angemessene zahnmedizinische Versorgung und den Ausgleich von Hör- und Sehdefiziten, wenn sie dies wünschen und ihr Wohlbefinden dadurch gesteigert wird. Hier ist anzunehmen, dass die Bedarfe oft nicht gedeckt sind. Auf der anderen Seite gibt es klare Befunde der Überversorgung, zum Beispiel in der medikamentösen, meist fachärztlich angesetzten Verordnung von Antipsychotika oder der Dauerverordnung von risikoreichen Schlaf- und Beruhigungsmitteln. Befunde der Fehlversorgung leiten sich aus den potenziell vermeidbaren Krankenhauseinweisungen aufgrund von chronischen Erkrankungen ab. Anlass zu weiteren Untersuchungen sollten auch die jüngsten Ergebnisse zu ausgeprägten regionalen Unterschieden der Versorgungsqualität von Pflegeheimbewohnerinnen und -bewohnern geben.
Wie beurteilen Sie den Erkenntnisgewinn durch Innovationsfonds-Projekte zur medizinischen Versorgung in Pflegeheimen?
Gabriele Meyer: Der Erkenntnisgewinn aus den meisten dieser Projekte ist für die Versorgungspraxis der Pflegeheime marginal. In den bisher abgeschlossenen Projekten wurde versucht, die Inanspruchnahme von SGB V-Leistungen zu optimieren, Krankenhauseinweisungen zu reduzieren, bedarfsgerechte medizinische Versorgung anzubieten, durch einen Zusammenschluss von Pflegeheimen und niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten zu Versorgungsgemeinschaften eine optimierte Kooperation zur besseren Versorgung zu erwirken, die Arzneimitteltherapiesicherheit zu verbessern oder ein Case-Management zur Behandlung von Depressionen zu implementieren. In der Mehrzahl der Projekte spricht der Gemeinsame Bundesausschuss keine Empfehlung zur Implementierung aus, da keine positiven Ergebnisse erzielt wurden, die Studienziele nicht umgesetzt werden konnten, die komplexen Interventionen nicht akzeptiert wurden oder die Methoden sich als unzureichend erwiesen haben.
Welche Bedeutung hat das Recht auf freie Arztwahl für Bewohnerinnen und Bewohner in Pflegeheimen?
Gabriele Meyer: Das Recht auf freie Arztwahl ist aus meiner Sicht nachrangig. Einer verbindlichen, kenntnisreichen, geriatrisch ausgewiesenen Begleitung durch Heimärztinnen und -ärzte wäre der Vorzug zu geben. Durch die Vielzahl der Ärztinnen und Ärzte in den Einrichtungen entsteht auch Schaden, da die ärztlichen Routinen und Absprachen mit den Pflegenden und Angehörigen vollkommen unterschiedlich sind, die Qualität der Versorgung somit nur schwer gesteuert werden kann und Informationsverlust programmiert ist. Zum Beispiel hatten wir es in einer Studie mit dem Ziel der Verringerung der Antipsychotika-Verordnungen bei Menschen mit Demenz mit rund 450 unterschiedlichen Ärztinnen und Ärzten zu tun, die 1.000 Bewohnerinnen und Bewohner aus 37 stationären Pflegeeinrichtungen behandelten. Hier ein qualitätsgesichertes Programm zu implementieren, das insbesondere auf die Bereitschaft abzielt, das ärztliche Handeln auf Leitlinienniveau anzupassen, erwies sich als unmöglich. Ganz im Unterschied zu Großbritannien, wo es gelang, mit einer kleineren Anzahl von Ärztinnen und Ärzten, die in den Heimen tätig waren, eine klinisch überzeugende Reduktion der Antipsychotika zu erreichen. Was die Menschen in den Heimen brauchen, sind „Kümmerer“, sowohl pflegerisch als auch medizinisch und nicht zuletzt aus der Gesellschaft heraus.
Was kann Deutschland hinsichtlich der gesundheitlichen Versorgung in Pflegeheimen von seinen europäischen Nachbarn lernen?
Gabriele Meyer: Die Nachteile der Massenunterkünfte in der Langzeitpflege wurden nicht zuletzt in der SARS-CoV2-Pandemie überdeutlich. Es gibt eine ganze Reihe von Alternativen zum traditionellen Pflegeheim und es gibt Länder, die schon vor Jahrzehnten mit der Umgestaltung der Angebote zur Langzeitpflege begonnen haben. In Dänemark wurden die Pflegeheime massiv zurückgedrängt. An deren Stelle trat großzügig gestaltetes Betreutes Wohnen, das offen für das soziale Umfeld und die Gesellschaft ist. Aus den Niederlanden kommt das Modell Buurtzorg (Nachbarschaftshilfe), das auch in Deutschland an einigen Orten erprobt wird. Andere alternative Modelle werden hierzulande zumindest diskutiert oder vereinzelt umgesetzt wie Pflegehöfe, Demenzdörfer, Gastfamilien für Pflegebedürftige. Pflegewohngemeinschaften, die auch in Eigeninitiative gegründet werden können, finden sich sogar in relativer Häufigkeit. Die Weiterentwicklung von Wohn- und Versorgungskonzepten ist zweifelsohne ein wichtiges Element der Stärkung der Resilienz der Langzeitpflege und eine zeitgemäße Entwicklung, bei der die psychosozialen Bedürfnisse Pflegebedürftiger und nicht nur die medizinischen und physischen im Mittelpunkt stehen.
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