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Ein Pflegebetrag unter Beobachtung

24.07.2024 Thorsten Severin 8 Min. Lesedauer

Am Entlastungsbetrag in der Pflegeversicherung scheiden sich die Geister. Dieser sei zu wenig bekannt, zu bürokratisch und zu gering, kritisieren Sozialverbände und Verbraucherschützer. Forderungen nach einer generellen Flexibilisierung des Leistungsrechts werden laut.

Foto einer alten Damen, der die Haare gebürstet werden
Alte Menschen mit Pflegegrad sind oft schon bei kleinen Dingen auf Hilfe angewiesen.

Alten Menschen bereiten oft schon kleine Dinge Probleme: Wäsche waschen, Fenster putzen, Essen kochen oder Arztbesuche. Menschen mit den Pflegegeraden eins bis fünf, die zu Hause leben, haben daher Anspruch auf den sogenannten Entlastungsbetrag in Höhe von monatlich 125 Euro – also 1.500 Euro im Jahr. Ungenutztes Budget darf aufgespart und bis zur Mitte des Folgejahres genutzt werden. Betroffene können damit Dienstleistungen finanzieren, die ihnen ein möglichst selbstbestimmtes und selbstständiges Leben ermöglichen oder ihre oft über Gebühr beanspruchten Pflegepersonen entlasten.
 
Konkret ist der Betrag aus der Pflegekasse einsetzbar für Angebote zur Unterstützung im Alltag – also Hilfe im Haushalt wie Kochen, Putzen oder Einkaufen. Auch die Begleitung und Unterstützung bei Aktivitäten außer Haus, wie Besuche von Verwandten, einer Alzheimer-Gruppe oder auf dem Friedhof, zählen dazu. Außerdem lassen sich mit den 1.500 Euro im Jahr die Tages-, Nacht- oder Kurzzeitpflege erweitern. Alltagshilfen müssen allerdings von einem für den Entlastungsbetrag zugelassenen Dienstleister oder Helfer angeboten werden. Das können Pflege- oder Betreuungsdienste, familienentlastende Dienste, Alltags- oder Pflegebegleiter und Serviceangebote für haushaltsnahe Dienstleistungen sein. Auch Wohlfahrtsverbände oder Vereine haben  oft Angebote im Portfolio.

Die Nachbarin als Helferin

In mehreren Bundesländern ist es möglich, den Betrag für Alltagshilfen zu benutzen, die von Privatpersonen erbracht werden. Die Ehrenamtlichen können etwa aus der Nachbarschaft  oder dem Freundeskreis stammen und dann mit der pflegebedürftigen Person zum Beispiel die Freizeit gestalten, sie bei Arzt- und Behördenbesuchen begleiten oder eben im Haushalt unterstützen. „Die Regelungen zu den Nachbarschaftshelfern unterscheiden sich je nach Bundesland“, erläutert Yvonne Ehmen, Pflegeexpertin des AOK-Bundesverbandes. „Die Anforderungen für eine Anerkennung durch die Behörden sind höchst unterschiedlich.“

In der Regel müssen die Helfer aus der Nachbarschaft einen Pflegekurs absolvieren oder pflegefachliche Kenntnisse nachweisen und sich offiziell registrieren. In manchen Bundesländern wird die Teilnahme an einem Erste-Hilfe-Kurs gefordert, der wie in Hessen nicht länger als drei Jahre zurückliegen darf. Ehrenamtliche Personen, die hauswirtschaftliche Dienstleistungen im Rahmen der Nachbarschaftshilfe anbieten möchten, dürfen darüber hinaus für gewöhnlich nicht mit der pflegebedürftigen Person bis zum zweiten Grad verwandt oder verschwägert sein und mit ihr nicht in häuslicher Gemeinschaft leben.

„Es ist schwer, einen nach Landesrecht anerkannten Dienst zu finden.“

Porträt von Thomas Moormann, Verbraucherzentrale Bundesverband (vzbv)

Thomas Moormann

Verbraucherzentrale Bundesverband (vzbv)

„Flickenteppich“

Nach Ansicht von Gesundheits- und Pflegeexperte Thomas Moormann vom Verbraucherzentrale Bundesverband (vzbv) sind diese Vorgaben kontraproduktiv. Wenn hilfsbereite Personen erführen, dass sie einen Erste-Hilfe-Kurs, einen ausreichenden Haftpflicht- und Unfallversicherungsschutz, ein Führungszeugnis sowie eine Registrierung bei der Aufsichtsbehörde nachweisen müssten, um als Helfer zugelassen zu werden, winkten sie „nur müde ab“. Nötig sei eine unbürokratische Anerkennung. Die Präsidentin des Sozialverbands VdK, Verena Bentele, kritisiert den „Flickenteppich“, den es bei den Nachbarschaftshilfen in den Bundesländern gebe. „Es ist offensichtlich, dass dies die Pflegebedürftigen überfordern muss.“

Vereinfachungen sind immer mal wieder im Gespräch. Nordrhein-Westfalen zum Beispiel hat zum 1. Januar 2024 neue Regeln eingeführt, wonach für die Nachbarschaftshelfer die Teilnahme an einem Qualifizierungskurs nicht mehr zwingend notwendig ist. Es reicht in dem Bundesland seitdem, eine Broschüre zur Nachbarschaftshilfe mit „Tipps und Informationen für Helfende“ zu lesen.

Mangel an Angeboten

Die Grafik zeigt, wie die Unterstützungs- und Entlastungsleistungen von Pflegegeldbeziehern und von Empfängern von Sach- oder Kombinationsleistungen mit den Pflegegraden 2–5 in Anspruch genommen werden. Bei der Inanspruchnahme des Entlastungsbetrages besteht noch deutlich Luft nach oben.
Quelle: Wissenschaftliches Institut der AOK (WIdO), AOK-Daten, standardisiert auf die gesetzlich Versicherten [Amtliche Statistik KM 6 2021]

Insgesamt existierten für den Entlastungsbetrag nur wenige Angebote zur Unterstützung im Alltag, beklagen Experten. „Gerade Pflegebedürftige, die mit dem Entlastungsbetrag Hilfen im Haushalt finanzieren möchten, haben es schwer, einen nach Landesrecht anerkannten Dienst zu finden“, sagt Moormann. Die zum Teil sehr engen Vorgaben auf Länderebene schränkten den Personenkreis und die Inanspruchnahme unnötig ein. VdK-Chefin Bentele beklagt: „Der Entlastungsbetrag wird seinem Anspruch in der Praxis nicht gerecht. Bedarfe können oft nicht gedeckt werden, weil passende Angebote fehlen.“ Gerade in ländlichen Gebieten gestalte sich die Suche schwierig. Finde sich doch ein Anbieter, müssten die Pflegebedürftigen finanziell in Vorleistung gehen, da erst im Nachgang erstattet werde. Das könnten sich nicht alle leisten und werde vom VdK abgelehnt, so Bentele. Insgesamt sei der Entlastungsbetrag „zu bürokratisch, zu kompliziert und zu gering bemessen“

2,95 Milliarden Euro in 2023

Nach Angaben des Bundesgesundheitsministeriums beliefen sich die Ausgaben für den Entlastungsbetrag im Jahr 2017 noch auf 1,6 Milliarden Euro, 2023 waren es bereits 2,95 Milliarden Euro. Rein rechnerisch nutzten damit rund 55 Prozent aller ambulant Pflegebedürftigen den Entlastungsbetrag, so Sprecher Hanno Kautz. Die steigende Inanspruchnahme sei angesichts der stetig wachsenden Zahl häuslich Pflegedürftiger nicht verwunderlich. Außerdem sei die Leistung vergleichsweise flexibel einsetzbar.

Der Wert von 55 Prozent bedeutet aber auch, dass mindestens 45 Prozent der Berechtigten von dem Entlastungsbetrag bislang nicht Gebrauch machen. Zahlen des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO) zeigen, dass im Jahr 2022 76,7 Prozent der Sach- oder Kombinationsleistungsempfänger und 38,4 Prozent der Pflegegeldbezieher von dem Betrag profitierten. Es gibt also noch reichlich Luft nach oben. Die Inanspruchnahme ist am höchsten bei den Sach- und Kombinationsleistungsempfängern mit Pflegegrad 3 (78,3 Prozent) und bei den Pflegegeldempfängern mit Pflegegrad 4 (42 Prozent).

„Betroffene sollten möglichst kurz, übersichtlich und vor allem verstehbar informiert werden.“

Porträt von Christine Vogler, Präsidentin des Deutschen Pflegerates

Christine Vogler

Präsidentin des Deutschen Pflegerates

Viele nutzen Leistung nicht

Für eine Nicht-Inanspruchnahme der Leistung gebe es vielfältige Gründe, erläutert Kautz. Vielleicht sei kein Bedarf da, Informationen über den Anspruch fehlten oder es existierten vor Ort keine für den Haushalt passenden Angebote. Der Sprecher von Minister Karl Lauterbach (SPD) verweist auf „vielfältige Beratungsansprüche“ für Pflegebedürftige und ihre Angehörigen, etwa durch Pflegekassen, Pflegestützpunkte oder in Form von Informationsbesuchen durch ambulante Pflegedienste. Nach Ansicht der Präsidentin des Deutschen Pflegerates, Christine Vogler, sollten die Pflegekassen ihre Versicherten „möglichst kurz, übersichtlich und vor allem verstehbar informieren“. Auch Pflegestützpunkte, Arztpraxen, Pflege- und Medizinische Dienste könnten ihre Kontakte zu Patienten nutzen, um Leistungen nahezubringen.  

Der VdK geht anhand einer eigenen Befragung davon aus, dass sogar knapp 80 Prozent der Anspruchsberechtigten den Entlastungsbetrag nicht nutzen. Nicht nur Antragstellung und Nutzung seien zu kompliziert, er sei auch zu wenig bekannt. Verbraucherschützer Moormann macht hier ein generelles Problem dieses Versicherungszweigs aus: „Die Regelungen der sozialen Pflegeversicherung mit ihrer Vielzahl teilweise kleiner, kombinierbarer oder sich gegenseitig ausschließender Pflege- und Betreuungsleistungsansprüche werden als zu komplex und aufwendig wahrgenommen.“ Der vzbv fordert daher eine Zusammenlegung aller Leistungen in zwei Budgets: „ein Pflegebudget zur selbstbestimmten Verwendung der Pflegebedürftigen und ein Entlastungsbudget zur Entlastung der pflegenden Angehörigen“.

Auch die AOK-Gemeinschaft macht sich seit längerem für eine Flexibilisierung des Leistungsrechts sowie für eine Stärkung der Personenzentrierung und Selbstbestimmung in der Pflegeversicherung stark.

„Der Entlastungsbetrag wird seinem Anspruch in der Praxis nicht gerecht.“

Porträt von Verena Bentele, Präsidentin des Soialverbands VdK

Verena Bentele

Präsidentin des Soialverbands VdK

Die Leistungen der Pflegeversicherung ...

... sollen die Körperpflege, die Ernährung, ein gewisses Maß an Mobilität sowie die hauswirtschaftliche Versorgung von Menschen sicherstellen, die das selbst nicht mehr schaffen. Unterstützung gibt es als Geld- oder Sachleistung. Dazu gehören auch Betreuungsangebote, Pflegeberatung und Leistungen zur Entlastung pflegender Angehöriger. Der Umfang richtet sich nach dem Pflegegrad. Innerhalb dieses Rahmens können Pflegebedürftige zahlreiche Einzelleistungen kombinieren. Grundsätzlich können sie selbst entscheiden, ob sie in Pflegeeinrichtungen (stationär) oder zuhause (ambulant) gepflegt werden möchten.

Beratung mit den Ländern

Nach Ansicht des Bundesgesundheitsministeriums besteht vor dem Hintergrund der Nutzungszahlen kein Anlass für den Eindruck, dass der Entlastungsbetrag weitgehend unbekannt ist. Auch sind laut Sprecher Kautz keine Hürden erkennbar. Die Regelungen zur Anerkennung von Angeboten zur Unterstützung im Alltag würden im Wesentlichen durch die Länder festgelegt. Die will sich die Regierung nun ansehen. „Wir prüfen derzeit, auch zusammen mit den Ländern, inwieweit hier Regelungen möglich und erforderlich sind, die den Zugang zu entsprechenden Angeboten erleichtern“, so Kautz.

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