Artikel Pflege

Brief und Siegel für gute Pflege

01.09.2023 Silke Heller-Jung 7 Min. Lesedauer

Auf der Suche nach einem Heim oder einem ambulanten Dienst sollten Pflegebedürftige und ihre Angehörigen Informationen zur Pflegequalität nutzen können. Wie sich diese gewinnen und vermitteln lassen, zeigt der neue Pflege-Report.

Foto einer alten Dame mit Rollator, die im Freien mit einer jungen Frau spricht
Eine Frage der Menschlichkeit: Pflege braucht Qualitätssicherung.

Um die Jahrtausendwende machten diverse Pflegeskandale Schlagzeilen. Auch der Medizinische Dienst der Spitzenverbände der Krankenversicherung kam in seinem 2004 veröffentlichten ersten Prüfbericht zur Qualität in der ambulanten und stationären Pflege zu alarmierenden Ergebnissen: Danach wiesen 17 Prozent der Pflegebedürftigen in stationären Pflegeeinrichtungen und neun Prozent der durch einen ambulanten Pflegedienst Versorgten einen unzureichenden Pflegezustand auf.
 
Seit damals hat die Qualitätssicherung in der Pflege große Fortschritte gemacht. Es sei bereits „viel Gutes passiert“, bestätigt auch Dr. Antje Schwinger, Leiterin des Forschungsbereiches Pflege am Wissenschaftlichen Institut der AOK (WIdO) und Mitherausgeberin des Pflege-Reports (siehe Kasten „Informationen zur Pflegequalität“). „Aber das reicht noch nicht.“

Routinedaten nutzen

Der aktuelle Report stellt darum die Frage nach der Versorgungsqualität und der Qualitätssicherung in der ambulanten und stationären Langzeitpflege in den Vordergrund. Dabei geht er auch auf die Qualitätssicherung in neuen Wohnformen jenseits der Versorgung in der eigenen Häuslichkeit oder in einer stationären Pflegeeinrichtung ein, formuliert Anforderungen an eine fachlich motivierte Weiterbildung von Pflegefachkräften in der Langzeitpflege und thematisiert die interprofessionelle Zusammenarbeit, die mit Blick auf die Steigerung der Versorgungsqualität in der Langzeitpflege immer wichtiger wird.Die Autorinnen und Autoren des Reports plädieren unter anderem für eine bessere Nutzung vorhandener Ressourcen. „In der Qualitätssicherung der Langzeitpflege wird das Potenzial von Routinedaten, also Daten aus den Abrechnungen der Leistungserbringer mit den Krankenkassen, bisher völlig übersehen“, kritisiert Antje Schwinger. „Wir wollen Aufmerksamkeit dafür schaffen, dass es Routinedaten gibt, die bürokratiearm für die Qualitätssicherung eingesetzt werden können.“

„4,6 Millionen Menschen in Deutschland waren im Jahr 2021 pflegebedürftig im Sinne der Pflegeversicherung.“

Für den Bereich der stationären Langzeitpflege gibt es dazu bereits Ansätze, nicht aber für die ambulante Pflege – und das, obwohl ein Großteil der Pflegebedürftigen in Deutschland zu Hause versorgt wird. Zwar spiegelt sich nur ein Teil der qualitätsrelevanten Aspekte der ambulanten pflegerischen Versorgung im Abrechnungs- und Vergütungssystem wider. Doch Daten zur medizinischen und therapeutischen Versorgung etwa wären schon jetzt grundsätzlich gut nutzbar. Für weitere müssten entsprechende rechtliche Rahmenbedingungen geschaffen werden. Dann könnten routinedatenbasierte Kennzahlen die Qualitätsprüfung in der ambulanten Pflege sehr sinnvoll ergänzen, so das Ergebnis einer aktuellen Forschungsarbeit, die im Pflege-Report vorgestellt wird.

Stichwort Forschung: Angesichts der demografischen Entwicklung rückt die Pflege immer stärker in den Fokus der Versorgungsforschung und auch der Forschungsförderung. Der neue Pflege-Report liefert darum einen informativen Überblick über die diversen Fördermöglichkeiten, -schwerpunkte und -lücken.

Sowohl das Qualitätsverständnis als auch die Qualitätssicherung in der Langzeitpflege haben sich seit der Einführung der gesetzlichen Pflegeversicherung stetig weiterentwickelt. Das aktuelle System, das 2019 den viel kritisierten Pflege-TÜV ablöste, bezieht nun auf einrichtungsbezogene Vollerhebungen basierende Indikatoren ein und verknüpft die interne mit der externen Qualitätssicherung. Dennoch, so das Fazit einer weiteren Analyse im Pflege-Report, besteht weiterer Handlungsbedarf: Die Instrumente zur Qualitätsmessung müssten kontinuierlich und systematisch evaluiert und optimiert werden.

Pflege ist meist Familiensache

Kreisdiagramm, das den Anteil der Pflegebedürftigen nach Versorungsart 2021 in Prozent darstellt
Anteil der Pflegebedürftigen nach Versorgungsart 2021 (mit Pflegegrad 2-5), in Prozent

Rund ein Fünftel aller Pflegebedürftigen mit Pflegegrad 2 bis 5 wird in einem Heim vollstationär versorgt. Die Mehrheit der Menschen mit Pflegebedarf lebt im häuslichen Umfeld und bezieht dort Pflegegeld oder nutzt Leistungen eines ambulanten Dienstes. Viele Pflegegeld-Bezieher verzichten auf die ihnen gesetzlich zustehenden Unterstützungs- und Entlastungsleistungen.

Angehörige befragen

Foto einer jungen Mannes, der einer alten Dame vom Bett aufhilft
Die Personalausstattung erlaubt Rückschlüsse auf die Pflegequalität.

Deutliches Verbesserungspotenzial besteht laut Pflege-Report auch bei der Berichterstattung über die gewonnenen Erkenntnisse zur Pflegequalität. Seit 2008 sind alle Kassen gesetzlich dazu verpflichtet, die Ergebnisse der Prüfungen durch den Medizinischen Dienst und jetzt auch die Qualitätsindikatoren online zu veröffentlichen – beispielsweise über den Pflegeheim-Navigator der AOK. Diverse Informationen zur Pflegequalität sind also frei zugänglich. „Die Frage ist aber, ob diese Informationen für die Verbraucher relevant sind“, gibt Antje Schwinger zu bedenken. Ihrer Einschätzung nach werde „zu wenig berücksichtigt, welche Qualitätsdimensionen für die Verbraucher, also die Pflegebedürftigen und die Angehörigen, wichtig sind.“ So fehlten zum Beispiel Angaben zur personellen Ausstattung der Einrichtungen, „obwohl das für Verbraucher sicher wichtig ist“.

Wenn es darum geht, eine Entscheidung für ein Pflegeheim zu treffen, könnten auch die Erfahrungen von Angehörigen der Bewohnerinnen und Bewohner hilfreich sein, erläutert Schwinger, da diese „eher subjektive oder lebensweltliche Belange beleuchten“. Bisher fließen die Ergebnisse solcher Angehörigenbefragungen jedoch nicht regelhaft in die Qualitätsberichte ein.

Informationen zur Pflegequalität

Der Pflege-Report ist eine jährlich erscheinende Publikation des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO). Darin analysieren Expertinnen und Experten aus Forschung und Praxis die wesentlichen Herausforderungen in der Pflege und diskutieren mögliche Lösungswege. Die aktuelle Ausgabe beleuchtet die Versorgungsqualität und die Qualitätssicherung bei Langzeitgepflegten aus unterschiedlichen Perspektiven und bereitet aktuelle Entwicklungen für eine breite Fachöffentlichkeit auf.

Antje Schwinger, Adelheid Kuhlmey, Stefan Greß, Jürgen Klauber, Klaus Jacobs (Hrsg.): Pflege-Report 2023, Versorgungsqualität von Langzeitgepflegten, Berlin, Heidelberg, Springer, 307 Seiten, 42,79 Euro. Kostenloser Download

Dass das auch anders geht, zeigt das Beispiel Hamburg: Seit 2019 ist dort eine jährliche Angehörigenbefragung für alle Pflegeheime gesetzlich vorgeschrieben. Der dabei eingesetzte Fragebogen ist zwar kein Messin­strument im engeren Sinne. Er eröffnet aber die Chance, die Betroffenenperspektive in den Methodenmix der Qualitätsbewertung einzubeziehen, Befragungsergebnisse einrichtungsbezogen zu veröffentlichen und so einen Vergleich der Einrichtungen untereinander mit ihren Stärken und Schwächen zu ermöglichen. Wie dieses wissenschaftlich fundierte, praxisorientierte Instrument zur Befragung von Angehörigen Pflegebedürftiger in der stationären Langzeitpflege entwickelt wurde, welchen Nutzen und welche Limitationen es hat, wird im aktuellen Pflege-Report berichtet.

„20,3 Prozent aller Pflegebedürftigen im Jahr 2021 entfielen auf die Altersgruppe der 80- bis 84-Jährigen.“

Ein Ansatz, mittels Transparenz für mehr Qualität zu sorgen, ist das Public Reporting (öffentliche Berichterstattung). Die Veröffentlichung der Ergebnisse zu Indikatoren relevanter Versorgungsaspekte soll den Versicherten dabei helfen, qualitativ hochwertige Angebote auszuwählen. Gleichzeitig sollen durch die direkte Vergleichbarkeit auch Anreize für die Anbieter gesetzt werden, ihre Qualität zu verbessern. Eine Analyse im aktuellen Pflege-Report stellt am Beispiel der anhaltend hohen und weitgehend änderungsresistenten Verordnungsraten von Antipsychotika in Pflegeheimen verschiedene internationale Ansätze für ein Public Reporting zu diesem Thema vor. Diese Form der öffentlichen Berichterstattung, so zeigt sich, hat Potenzial, ist aber mit einigen Unsicherheiten verbunden und sollte deshalb in komplexe Maßnahmenpakete eingebunden werden.

Qualitätsindikator: Verordnung von Beruhigungsmitteln

Liniendiagramm, das je nach Bundesland den Anteil von Pflegeheimbewohnenden mit Dauerverordnung von Beruhigungsmitteln darstelt
Anteil von Pflegeheimbewohnerinnen und -bewohnern mit Dauerverordnung von Benzodiazepinen, -derivaten und Z-Wirkstoffen an allen Pflegeheimbewohnern eines Bundeslandes, in Prozent

Die Dauerverordnung von Beruhigungs- und Schlafmitteln bei Menschen, die in Pflegeheimen leben, unterscheidet sich von Bundesland zu Bundesland erheblich. Dies verweist auf ein großes Potenzial zur Verbesserung der Versorgungsqualität.

BB: Brandenburg, BE: Berlin, BW: Baden-Württemberg, BY: Bayern, HB: Bremen, HE: Hessen,
HH: Hamburg, MV: Mecklenburg-Vorpommern, NI: Niedersachsen, NW: Nordrhein-Westfalen, RP: Rheinland-Pfalz, SH: Schleswig-Holstein, SL: Saarland, SN: Sachsen, ST: Sachsen-Anhalt, TH: Thüringen

Quelle: Wissenschaftliches Institut der AOK, Pflege-Report 2023

Neuer Qualitätsatlas online

Bis zu 30 Prozent der Pflegebedürftigen in deutschen Pflegeheimen werden mit Antipsychotika behandelt, häufig ohne eine entspre­chende Indikation, zu lange und ohne eine regelmäßige kritische Überprüfung. Doch das Ausmaß der Verordnung von Antipsychotika und anderer ruhigstellender Medikamente ist bisher kein zu überprüfendes Qualitätskriterium, obwohl die Informationen in Form von Routinedaten vorliegen. „Leider erlaubt der Gesetzgeber bisher nicht, diese Daten zu nutzen, um über die Qualität einzelner Heime zu berichten“, erklärt Antje Schwinger. Ein neues Portal des WIdO (qualitaets­atlas-pflege.de) gibt jetzt aber auf Ebene der Landkreise und Bundesländer einen Überblick über einzelne Indikatoren, wie die Langzeitverordnung bestimmter Arzneien.

Qualität in der Pflege

Foto: Zwei Hände eines jüngeren Menschen halten die Hand eines älteren Menschen.
Seit den Anfängen im Jahr 2008 hat die Qualitätssicherung in Pflegeheimen große Fortschritte gemacht. Dennoch müssen die Instrumente zur Qualitätsmessung kontinuierlich und systematisch evaluiert und optimiert werden, wie Untersuchungen des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO) zeigen.
10.09.2023Änne Töpfer3 Min

Mitwirkende des Beitrags

Pflichtfelder sind gekennzeichnet.

Beitrag kommentieren

Alle Felder sind Pflichtfelder.

Datenschutzhinweis

Ihr Beitrag wird vor der Veröffentlichung von der Redaktion auf anstößige Inhalte überprüft. Wir verarbeiten und nutzen Ihren Namen und Ihren Kommentar ausschließlich für die Anzeige Ihres Beitrags. Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht, sondern lediglich für eventuelle Rückfragen an Sie im Rahmen der Freischaltung Ihres Kommentars verwendet. Die E-Mail-Adresse wird nach 60 Tagen gelöscht und maximal vier Wochen später aus dem Backup entfernt.

Allgemeine Informationen zur Datenverarbeitung und zu Ihren Betroffenenrechten und Beschwerdemöglichkeiten finden Sie unter https://www.aok.de/pp/datenschutzrechte. Bei Fragen wenden Sie sich an den AOK-Bundesverband, Rosenthaler Str. 31, 10178 Berlin oder an unseren Datenschutzbeauftragten über das Kontaktformular.