Faktencheck für mehr Transparenz
Was kommt in den Leistungskatalog der Krankenkassen? Die Grundlage für diese Entscheidungen liefert das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen. Richtschnur seiner Arbeit sind die Grundsätze der evidenzbasierten Medizin.
Die Vorgabe des Sozialgesetzbuchs V, Paragraf 2 ist eindeutig: Damit die gesetzlichen Krankenkassen die Kosten für medizinische Leistungen übernehmen, haben Qualität und Wirksamkeit dieser Leistungen dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse zu entsprechen. Aber tun sie das auch? Um diese Frage objektiv, unabhängig und evidenzbasiert zu beantworten, wurde 2004 im Zuge der Gesundheitsreform das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) gegründet. Als wissenschaftliches Ratgeberinstitut sollte das IQWiG dem Gemeinsamen Bundesausschuss (GBA) interessenunabhängige Grundlagen für seine Entscheidungen liefern, was in den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung aufzunehmen sei und was nicht.
Das neue Institut sollte dafür den aktuellen medizinischen Wissensstand zu diagnostischen und therapeutischen Verfahren recherchieren, wissenschaftliche Gutachten und Stellungnahmen erarbeiten und für alle Bürgerinnen und Bürger verständliche Informationen zu Diagnostik und Therapie von Krankheiten mit erheblicher epidemiologischer Bedeutung bereitstellen. Schon im Dezember 2004 erteilte der GBA dem IQWiG einen Generalauftrag; seitdem kann es auch eigenständig Themen auswählen.
Wassergymnastik im Haifischbecken
Als das IQWiG aus der Taufe gehoben wurde, hieß die Gesundheitsministerin Ulla Schmidt. Sie sollte dem Institut zehn Jahre später bescheinigen, einen „Paradigmenwechsel im Gesundheitswesen“ bewirkt zu haben. Danach sah es zunächst nicht aus, als das elfköpfige Team in Köln seine Arbeit aufnahm. Zu diesem Zeitpunkt gab es in vielen anderen Ländern bereits Institutionen, die unter anderem den Nutzen neuer Arzneimittel überprüften. Auf den Nachzügler hatte auch in Deutschland niemand gewartet – im Gegenteil. Das neue Institut wurde anfangs zum Teil massiv angefeindet: Es sei der „Kettenhund des GBA“, führe einen „Kreuzzug gegen moderne Arzneimittel und ihre Hersteller“ und leite einen „Rückfall ins medizinische Mittelalter“ ein, lauteten damals Schlagzeilen.
„5,6 Millionen Besuche verzeichnete gesundheitsinformation.de in der ersten Jahreshälfte 2023 durchschnittlich jeden Monat.“
Dr. Thomas Kaiser, der das IQWiG seit dem Frühjahr 2023 leitet, überrascht das nicht: „Das Institut besetzte Felder, die bisher andere bearbeitet hatten. Und klar war auch: Die Aufträge des IQWiG würden sich um kontroverse Themen drehen.“ In Anlehnung an ein Bonmot des früheren Arbeitsministers Norbert Blüm beschrieb ein Branchendienst die Arbeit des IQWiG anfänglich als „Wassergymnastik im Haifischbecken“. Doch das neue Institut erarbeitete sich unter der Leitung von Gründungsdirektor Dr. Peter Sawicki und dessen Nachfolger Professor Jürgen Windeler eine breite Anerkennung im In- und Ausland. Die Haifische schnappten inzwischen nicht mehr ständig nach ihnen, bestätigt Thomas Kaiser mit einem Lachen. „Wir haben über die letzten fast zwanzig Jahre gezeigt, dass wir eine sachgerechte, nüchterne Bewertung machen. Die ist für den einen mal günstig, für den anderen mal ungünstig. Aber wir beschreiben ganz offen, wie die Evidenzlage ist.“
Hohe wissenschaftliche Standards
Vor allem in den Gründungsjahren wurde die Arbeitsweise des Instituts oft grundsätzlich infrage gestellt. Von Anfang an legte das IQWiG deshalb detailliert offen, welche wissenschaftlichen Instrumente es verwendet. Aus gutem Grund, wie Gründungsdirektor Sawicki betonte: „Wenn man aufschreibt, was man tut, legt man sich fest – das ist ein ganz wesentliches Element von Transparenz und Fortschritt.“ Die „Allgemeinen Methoden“ werden bis heute regelmäßig aktualisiert und veröffentlicht.
Die IQWiG-Gutachten bilden oft die Grundlage für Richtlinienentscheidungen des GBA. Entsprechend hoch sind die Anforderungen an die wissenschaftliche Güte dieser Empfehlungen. Das Vorgehen des Instituts bei einer evidenzbasierten Nutzenbewertung folgt stets dem gleichen Prinzip: Zunächst wird die Fragestellung formuliert. Daran schließt sich eine umfangreiche Recherche der Fachliteratur an. Das IQWiG führt selbst keine Studien zum jeweiligen Thema durch, sondern ermittelt möglichst lückenlos den vorhandenen Wissensstand. Anschließend wird überprüft, wie verlässlich und aussagekräftig die Studien im Hinblick auf die Fragestellung sind. Alle Unterlagen, die auch diese Hürde nehmen, fließen in die abschließende Beurteilung ein.
Wissenslücken aufdecken
Diese Vorgehensweise hat mehrere Vorteile: Zum einen ist sie aufgrund ihrer klaren Systematik nachvollziehbar und reproduzierbar. Zum anderen ermöglicht sie nicht nur einen Überblick über die vorhandene Studienlage, sondern auch eine Einschätzung, wie verlässlich diese Informationen sind. Und nicht zuletzt macht sie deutlich, wo es an gesichertem Wissen mangelt und welche Lücken durch entsprechende Forschungsvorhaben noch zu schließen sind.
In den bald zwanzig Jahren seines Bestehens ist das Aufgabenspektrum des IQWiG in diversen Gesundheitsreformen erweitert und angepasst worden. Heute arbeiten insgesamt 284 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in sechs Fachressorts, dem Ressort Verwaltung sowie vier Stabsbereichen an unterschiedlichen Aufgaben und Zielsetzungen. In der Hauptsache sind das Aufträge, die das Institut vom GBA oder vom Gesundheitsministerium erhält. Mehr als 200 Verfahren bearbeitet das IQWiG mittlerweile pro Jahr. Von seiner Gründung bis zum Ende des ersten Quartals 2023 wurden insgesamt 1.798 Aufträge erteilt. 1.661 davon waren bis Ende März 2023 abgeschlossen, 61 wurden zurückgenommen.
„11 Fachleute arbeiteten beim IQWiG, als es 2004 an den Start ging. Inzwischen sind es 284.“
Qualität und Wirtschaftlichkeit – das sind die beiden Orientierungspunkte, die den Kurs des IQWiG abstecken. Die Frage nach der Qualität macht sich nicht zuletzt am Nutzen oder Schaden fest, den eine medizinische Maßnahme hat. Für die Zulassung eines Arzneimittels genügt der Nachweis, dass es wirksam, unbedenklich und von angemessener pharmazeutischer Qualität ist. Das IQWiG stellt bei seiner Nutzenbewertung hingegen die Patienten in den Mittelpunkt. Ein Nutzen ist dann gegeben, wenn sich die Maßnahme nachweislich positiv für sie auswirkt: ihr Leben verlängert, Beschwerden reduziert, Komplikationen vorbeugt oder die Lebensqualität verbessert. Ein Schaden liegt vor, wenn die Maßnahme negative Auswirkungen, zum Beispiel schwere Nebenwirkungen, hat.
Klare Positionen
Die Hauptaufgabe des Ressorts „Arzneimittelbewertung“ besteht darin, den Nutzen und Schaden von in Deutschland zugelassenen Arzneimitteln zu bewerten. Durch das GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz 2007 wurde das IQWiG mit der erweiterten Kosten-Nutzen-Bewertung von Arzneimitteln betraut. Es analysiert den therapie- oder patientenrelevanten Zusatznutzen von Arzneimitteln und ihre Mehrkosten. Mit dem Arzneimittelneuordnungsgesetz (AMNOG) wurde Anfang des Jahres 2011 die frühe Nutzenbewertung eingeführt. Sobald Arzneimittel mit neuen Wirkstoffen auf den Markt kommen, wird seitdem analysiert, welchen zusätzlichen Nutzen sie im Vergleich zu einer zweckmäßigen Vergleichstherapie haben. Vom Ergebnis dieser Bewertung hängt später der Preis des neuen Medikaments ab, den der Hersteller zunächst frei festlegen kann. Grundlage der frühen Nutzenbewertungen durch das IQWiG sind Dossiers mit allen relevanten Studien zu dem neuen Wirkstoff, die die Hersteller dem GBA mit der Markteinführung vorlegen müssen.
Das IQWiG
Das in Köln ansässige Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) wurde am 1. Juni 2004 gegründet. Vorbild war das National Institute for Health and Clinical Excellence (NICE) des National Health Service in Großbritannien. Träger des IQWiG ist die vom Gemeinsamen Bundesausschuss gegründete Stiftung für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen.
Die Arbeit des Instituts wird über sogenannte Systemzuschläge aus Mitteln der GKV finanziert. Aufträge darf es nur vom GBA und vom Bundesministerium für Gesundheit entgegennehmen. Außerdem kann es eigenständig Themen von grundlegender Bedeutung aufgreifen und
untersuchen.
Klar bezieht das Institut auch zu politischen Fragen Stellung, etwa wenn es im Hinblick auf ein neues EU-Arzneimittelrecht fordert, dieses müsse eine Arzneimittelentwicklung fördern und fordern, „die die Fragestellungen der nationalen Gesundheitssysteme nach dem Zusatznutzen beantwortet und nicht allein eine Zulassung auf europäischer Ebene ermöglicht“. Nötig seien mehr Anreize für Pharmafirmen, entsprechend hochwertige Studien vorzulegen. Denn an der Evidenz mangelt es immer noch häufig, weiß Thomas Kaiser, der vor seinem Wechsel an die Institutsspitze gemeinsam mit Dr. Beate Wieseler das Arzneimittelressort leitete. Setze ein Hersteller bei der Konzeption der Studie vorrangig darauf, die Kriterien der Zulassungsbehörde zu erfüllen, blieben wichtige Fragen aus der Versorgungsperspektive oft unbeantwortet. „Die Nutzenbewertung fragt: Wie gut ist das neue Arzneimittel im Vergleich zu dem, was schon da ist. Das ist es ja, was eigentlich jede Patientin, jeder Patient, jede Ärztin, jeder Arzt wissen will.“
Ähnliches gilt auch für Diagnoseverfahren, Operationsmethoden, zahnmedizinische Behandlungen oder Reihenuntersuchungen zur Früherkennung von Krankheiten. Mit diesen Themen befasst sich das Ressort „Nichtmedikamentöse Verfahren“. So bewertet das Team auf der Basis eigener Recherchen den Nutzen von nichtmedikamentösen medizinischen Inventionen. Zu seinen Aufgaben gehören auch Potenzialbewertungen: Hersteller können die Erprobung einer neuen Untersuchungs- oder Behandlungsmethode beim GBA beantragen. In dessen Auftrag prüft das IQWiG anhand der vom Hersteller gelieferten Daten, ob die Methode das Potenzial für einen Nutzen aufweist.
Schwellenwerte für Mindestmengen
Versorgungsstandards und -lücken nimmt das Ressort „Versorgung und Gesundheitsökonomie“ in den Blick. Zu seinen Aufgaben gehören gesundheitsökonomische sowie Analysen zu Versorgungsfragen. So erarbeitet das Team die Grundlagen für die Entwicklung neuer und die Aktualisierung bestehender Disease-Management-Programme. Es widmet sich der Frage, bei welchen Operationen ein Zusammenhang zwischen der Leistungsmenge einer Klinik und der Qualität des Behandlungsergebnisses besteht.
Mit Evidenzrecherchen unterstützen sie die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften bei der Erstellung von Behandlungsleitlinien. Auch der ThemenCheck Medizin ist in diesem Ressort angesiedelt: Seit 2016 können Bürgerinnen und Bürger Vorschläge für wissenschaftliche Begutachtungen von Untersuchungs- und Behandlungsverfahren einreichen, etwa zu der Frage, ob eine begleitende Musiktherapie bei einer Krebsbehandlung hilfreich ist.
Mit detaillierten Recherchen unterstützt das Ressort „Informationsmanagement“ die Arbeit der anderen Ressorts. Das Team sucht in medizinischen Literaturdatenbanken und Studienregistern systematisch nach veröffentlichten und unveröffentlichten Studien sowie nach Fachliteratur zu bestimmten Fragestellungen. Ebenso unverzichtbar ist das Ressort „Medizinische Biometrie“: Die Fachleute hier sind zuständig für die biometrische Bewertung von Studien, die statistische Analyse von Daten sowie die Präsentation und Interpretation von Studienergebnissen.
Gesundheitsinformationen für alle
Das Ressort „Gesundheitsinformation“ stellt evidenzbasierte Informationen für die Bürgerinnen und Bürger bereit, um sie bei der Entscheidungsfindung in Gesundheitsfragen zu unterstützen. Ein wichtiger Kanal dafür ist das Portal gesundheitsinformation.de, das im Februar 2006 online ging. Hier werden Gesundheitsthemen umfassend und allgemeinverständlich erläutert. Während der Corona-Pandemie erstellte das Ressort parallel zu den laufenden Zulassungsverfahren laienverständliche Kurzinformationen zu den verschiedenen Impfstoffkandidaten. In den vergangenen fünf Jahren sind die monatlichen Besuchszahlen des Portals von durchschnittlich 600.000 auf über fünf Millionen angestiegen. „Etwa ein Drittel der Bevölkerung nutzt das Internet aber nicht“, erläutert Thomas Kaiser. Darum werden in Pilotprojekten andere Möglichkeiten der Informationsvermittlung erprobt, etwa über Gesundheitsämter und Krankenhäuser.
Raus aus dem Turm
Als neuer Leiter des IQWiG möchte Thomas Kaiser nicht nur Informationen, sondern auch das Institut selbst zugänglicher machen. Zwar residiert das IQWiG seit 2012 in einem imposanten Bürohochhaus namens KölnTurm. Das Bild vom Elfenbeinturm weist Kaiser aber energisch von sich. Und für die Zukunft strebt er noch viel mehr Austausch, Transparenz und Offenheit an. Darum hat Kaiser für dieses Jahr die Parole „Raus aus dem Turm!“ ausgegeben.
Das Spektrum der geplanten Aktionen reicht von Praxisexkursionen für Mitarbeitende über Kongressbesuche bis zur Ausrichtung von Sachverständigentreffen und Symposien. „Wir würden auch gerne eine eigene Veranstaltung mit und für Patientinnen und Patienten anbieten.“ „Denn“, so Kaiser, „gegenseitiges Vertrauen entsteht nur durch Kontakte.“ Das gelte auch für den Umgang mit den Gremien des GBA, der Politik, den Fachgesellschaften, aber auch mit der Industrie. Den Austausch unter den Beschäftigten möchte er ebenfalls weiter intensivieren. Dazu sollen zwei Kickertische, die lange eingemottet waren, bald wieder aufgestellt werden.
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